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39.

Ein Brief Djenanes, den André Lhéry in der folgenden Woche erhielt.

»Am 22. Juni 1905.

Ich bin an den Bosporus zurückgekehrt, André, wie ich es Ihnen versprochen habe, und ich sehne mich unendlich danach, Sie wiederzusehen. Wollen Sie am Donnerstag nach Stambul niedersteigen und gegen zwei Uhr nach dem Hause meiner ehemaligen Amme in Sultan-Selim kommen? Ich ziehe dieses Haus dem meiner Freundin in Sultan-Fatih vor, weil jenes kleine Häuschen Zeuge unserer ersten Zusammenkünfte gewesen ist.

Setzen Sie Ihren Fes auf und beobachten Sie die frühere Vorsicht, treten Sie aber nur ein, wenn unser gewöhnliches Zeichen: der Zipfel eines weißen Taschentuchs am Gitter eines der Fenster im ersten Stockwerk, erscheint. Andernfalls wäre die Zusammenkunft verfehlt, leider! Und vielleicht für lange Zeit! ... In diesem Falle verfolgen Sie den Weg bis zum Ende der Sackgasse und kommen Sie dann zurück wie einer, der sich geirrt hat.

Alles ist in diesem Jahr weit schwieriger, und wir leben in fortwährender Angst.

Ihre Freundin Djenane.«

An jenem Donnerstag empfand André Lhéry bei seinem Erwachen eine noch größere Unruhe als sonst, sobald er sich im Spiegel betrachtete. Er sagte sich, daß er seit dem vergangenen Jahr ersichtlich gealtert sein müsse ...

Er hätte viel darum gegeben, wenn er niemals die Ruhe seiner Freundin gestört hätte, aber der Gedanke, vor ihren Augen als körperlich in Verfall geraten zu erscheinen, war ihm unerträglich.

In Stambul angekommen, machte er sich sogleich auf den Weg nach Sultan-Selim, darüber nachsinnend, ob sie mehr vor seinem Anblick erschrecken werde oder er vor dem ihrigen?

Als er in die totenstille Gasse einbog, erblickte er sofort das bekannte Zeichen des weißen Taschentuches. Er trat also ins Haus und fand hinter der Tür Mélek auf ihrem Posten.

»Sind sie oben?« fragte er sie.

»Ja, alle beide, sie erwarten Sie.«

Am Eingang des kleinen, armseligen Harems fand er Zeyneb mit unverdecktem Gesicht.

Im Hintergrunde, tief im Schatten, stand Djenane, die sich ihm sofort rasch näherte und ihm mit einem freudigen »Willkommen!« die Hand reichte.

Ja, sie war es! Er hörte ihre sanfte, wie aus der Ferne kommende und wie Musik klingende Stimme.

Aber ihre meergrünen Augen sah er nicht, so wenig wie die gebogenen Augenbrauen gleich denen der Madonna dolorosa, noch das reine Oval ihres Gesichtes: Nichts! ... Der Schleier verhüllte alles so undurchdringlich wie in den ersten Tagen ihrer Bekanntschaft.

Aus Furcht, zu weit gegangen zu sein, zog sich das weiße Prinzeßchen wieder in ihren Elfenbeinturm zurück. Und André sah alsbald ein, daß jede Bitte erfolglos sein, daß dieser Schleier sich nie wieder erheben würde, wenn nicht etwa irgendein tragischer Umstand eintrat.

Er hatte das Gefühl, daß mit dieser verbotenen Neigung der leichte, fröhliche Zeitabschnitt zu Ende gegangen sei. Von jetzt an ging man dem unvermeidlichen Drama entgegen. Sechster Teil


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