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13.

Jean Renaud, der ein böses Vorgefühl gegen das bevorstehende Abenteuer hegte, hatte vergeblich die Erlaubnis erbeten, mitgehen zu dürfen. Das einzige, was André ihm bewilligte, war, daß sie beide vor Beginn des Stelldicheins gemeinschaftlich ein Nargileh rauchen wollten an einem Platz, der ihm in früherer Zeit sehr wert gewesen war. Dieser Platz befand sich in Stambul, im Herzen der muselmanischen Stadtteile, und zwar dicht vor der großen Moschee Mehmed-Fatihs, die eine der heiligsten ist. Die Entfernung zwischen diesem Platz und dem Ort des Abenteuers betrug nur eine Viertelstunde Weges.

Als die beiden Freunde nach einer langen und ziemlich beschwerlichen Wanderung an dem bezeichneten Platz anlangten, blieb ihnen noch eine volle Stunde für ihr Beisammensein übrig. Vor ihnen lag die kolossale, ganz weiße Moschee, deren Minaretts mit den goldenen Mondsicheln in die Unendlichkeit des tiefblauen Himmels hinaufstiegen.

Rund um den großen Platz sind, wie in der Nähe aller Moscheen, eine große Anzahl kleiner Kaffeehäuser, von schweigsamen Träumern besetzt. Man kann aber auch im Schatten hoher Bäume, auf den dort aufgestellten mehr als einfachen Diwans niedersitzen und sein Nargileh im Freien rauchen.

In den Zweigen der Bäume hängen Käfige mit verschiedenartigen Singvögeln, deren Gesang eine hübsche musikalische Unterhaltung gewährt.

Die beiden Freunde setzten sich auf eine der im Freien aufgestellten langen Polsterbänke, wo die Imams ihnen durch Zusammenrücken in freundlichster Weise Platz machten. Alsbald fanden sich auch, wie üblich, kleine Kätzchen ein, die gestreichelt sein wollten. Sodann erschienen sehr hübsche junge Zigeunerinnen, die Rosenwasser verkauften und auch tanzten; sie lächelten bescheiden und ohne aufdringlich zu werden. Auf dem großen Platz gingen ganz schwarz verhüllte Damen vorüber, aber auch andere mit Damastschleiern von roter oder grüner Seide, mit Goldstickerei. Auch Araber vom Hedjas sah man, die in der Stadt des Kalifen zu Besuch waren, sowie Bettel-Derwische mit langen Haaren, die aus Mekka zurückkamen. Zwischendurch fuhr noch ein mindestens hundert Jahre alles Männchen für eine kleine Münze die türkischen Kinder in einer buntbemalten, auf Rädern festgenagelten alten Kiste, zweimal um den Platz herum, was den Kindern ungeheuren Spaß machte, obgleich das sonderbare Fuhrwerk auf dem holprigen Steinpflaster unter dem Jubel der Zuschauer ganz gefährliche Bockssprünge machte. –

Die für den geheimnisvollen Besuch angesetzte Stunde nahte; André Lhéry verließ seinen Begleiter und machte sich allein auf den Weg nach dem Stadtviertel des Sultan-Selim, zu welchem Zweck er durch viele unschöne Straßen und Gassen gehen mußte. Unter den zahlreichen Moscheen Stambuls ist die des Sultans Selim eine der größten, deren Dome und Spitzen schon in weiter Ferne vom Meer aus gesehen werden; aber sie ist auch eine der abgelegensten und verlassensten. Auf dem Platze, der sie umgibt, sind keine Kaffeehäuser und keine träumenden Raucher; in seiner Umgebung war in diesem Augenblick überhaupt kein Mensch zu sehen. Auf der rechten Seite sah André sogleich die von Mélek bezeichnete kleine Straße, eine trostlose Straße, deren Steinpflaster völlig von Gras überwachsen war. Als er auf dem Platze der kleinen Moschee Tossun-Agha anlangte, bemerkte er auch das große alte Haus, das er »umkreisen« sollte, – vermutlich, weil es »verhext« war? Dann kam endlich die Sackgasse, noch düsterer als alles andere; mit dem Halbdunkel unter den alten vergitterten Balkons. »Der Ort sieht ein wenig nach einer Mörderhöhle aus,« hatte Mélek geschrieben ... und das war richtig. –

Wenn man ein falscher Türke ist und auf unrechtem Wege sich befindet, so ist es etwas unheimlich, unter solchen Balkons hinzuwandeln, durch deren Vergitterung man von so vielen unsichtbaren Augen beobachtet werden kann. – André ging sehr langsam, betrachtete alles, ohne sich den Anschein zu geben, und zählte im stillen die verschlossenen Haustüren. – Die dritte zweiflügelige, mit einem kupfernen Klopfer? – Ah! Also diese hier! Soeben hat man sie ja auch halb geöffnet, und durch die Spalte kommt eine behandschuhte Hand hervor, die auf dem Holz der Tür leise trommelt; die kleine Hand trägt einen Handschuh mit mehreren Knöpfen und dürfte hier in dieser verrufenen Gegend schwerlich zu Hause sein. Wegen der etwaigen Beobachtung durch die Gitterfenster glaubte er keine Unentschiedenheit zeigen zu dürfen; er setzte deshalb den Klopfer in Bewegung und trat dann, als die Tür völlig geöffnet wurde, entschlossen ein.

Die schwarze Gestalt, die dahinter gestanden, und die völlig Méleks Haltung hatte, verschloß die Tür hastig und schob zur Sicherheit noch einen Riegel vor, sodann sagte sie heiter:

»Ah! Sie haben also wirklich gefunden?! ... Kommen Sie schnell! Meine Schwestern, die Sie schon erwarten, sind oben!«

Er stieg eine dunkle Treppe mit ausgetretenen Stufen hinan, auf denen keine Teppiche lagen. Oben, in einem höchst einfachen, fast ärmlichen, kleinen Harem mit leeren Wänden, der durch die vergitterten Fenster in ein trübes Halbdunkel versetzt wurde, fand er die beiden anderen Schattenbilder, die ihm ihre Hände reichten. – Zum erstenmal in seinem Leben befand er sich in einem »Harem«, – eine Tatsache, die ihm bei seiner Vertrautheit mit dem Orient immer als eine Unmöglichkeit erschienen war. Er befand sich hinter den Gittern der Frauengemächer, diesen so eifersüchtigen Gittern, welche die Männer, mit Ausnahme des Gebieters, niemals anders als von außen sehen. – Und hier? ... Die Haustür ist fest verschlossen; ... und das geschieht im Herzen des alten Stambul? Und in welcher geheimnisvollen Wohnung? – Er fragte sich mit einem kleinen Schreck, der ihm so neu war und ihn deshalb förmlich amüsierte:

»Und was tue ich hier?«

Die ganze kindliche Seite seiner Natur, sein eifriger Wunsch, aus sich selbst herausgehen zu können, sich völlig zu ändern und noch einmal wieder jung zu werden, um nochmals lieben zu können, – schien ihm über alle Erwartung erfüllt zu sein! – –

Und doch, ... sie glichen drei Gespenstern der Tragödie, die Damen seines Harems, ebenso tief verschleiert wie neulich in Eyub, und unerforschlicher als jemals. – Und was diesen Harem selbst betrifft, anstatt der orientalischen Pracht zeigte er nur eine verschämte Armut.

Die Damen hießen ihn niedersitzen auf einem Diwan mit fadenscheinigem Bezug, und André ließ seine Augen in der Runde umherschweifen; dabei sagte er sich: »So arm sie auch sein mögen, die Damen dieses Hauses, sie haben doch Geschmack, denn bei aller Einfachheit blieb doch alles miteinander übereinstimmend und orientalisch.«

»Bin ich hier bei Ihnen?« fragte er dann die Damen. –

»O nein!« riefen sie alle drei zugleich und in einem Tone, dem man selbst unter den Schleiern hervor das Lachen anhörte.

»Verzeihen Sie mir; meine Frage war albern aus verschiedenen Gründen; der erste ist: daß es mir völlig gleichgültig sein kann; ich bin mit Ihnen zusammen, – das übrige kümmert mich nicht!«

Er beobachtete sie. Sie hatten dieselben, schon etwas abgetragenen Tcharchafs um wie früher; dabei aber war ihr Schuhwerk von höchster Eleganz, und da sie ihre Handschuhe ausgezogen hatten, sah man an ihren Fingern kostbare Ringe mit funkelnden Edelsteinen.

»Was sind dies also für Frauen?« fragte er sich; »und was ist dies für ein Haus?«

Djenane fragte ihn mit ihrer eigenartigen Stimme, die der einer verwundeten und im Sterben liegenden Sirene ähnelte:

»Wieviel Zeit können Sie uns heute widmen?«

»Die ganze Zeit, die Sie selbst mir widmen wollen!«

»Wir haben etwa zwei Stunden, über die wir mit einiger Sicherheit verfügen können. Aber diese Zeit wird Ihnen vielleicht zu lang erscheinen?«

Mélek brachte einen der kleinen runden Tische, die in Konstantinopel für Erfrischungen gebräuchlich sind, die man stets den Besuchern darbietet: Kaffee, Bonbons und Rosenkonfitüren. Das Tischtuch war von weißem Atlas mit Goldstickerei; natürliche Veilchen von Parma waren darüber gestreut; das Geschirr war aus Goldfiligran. – Und dies vervollständigte das Unwahrscheinliche des Ganzen.

»Hier sind die Photos von Eyub!« sagte Mélek zu André, indem sie ihn in der Art einer kleinen Sklavin bediente, »aber sie sind mißlungen. Wir werden gleich heute von neuem damit beginnen ... weil wir uns ja nicht mehr wiedersehen werden. Hier ist zwar nur wenig Licht ... aber mit einer verlängerten Sitzung oder Stellung...«

Dabei überreichte sie ihm zwei kleine undeutliche graue Bilder, worauf das Schattenbild Djenanes sich kaum abzeichnete, und André nahm die Bilder mit ziemlich gleichgültiger Miene in Empfang, ohne zu ahnen, welchen Wert er später einmal auf sie legen würde.

»Ist es wahr, daß Sie verreisen werden?« fragte er dann.

»Sehr wahr!«

»Aber Sie werden wiederkommen? ... Und wir werden uns wiedersehen?«

Woraus Djenane mit dem unbestimmten, fatalistischen Wort antwortete, das die Orientalen für alle Dinge der Zukunft anwenden: »Inch' Allah!« ... Würden sie wirklich verreisen, oder wollten sie nur dem gewagten Abenteuer ein Ende machen, aus Furcht vor dem vielleicht eintretenden Ueberdruß oder vor der fürchterlichen Gefahr? Und André, der im Grunde gar nichts Gewisses über sie wußte, erachtete sie fast wie flüchtige Erscheinungen, die er nicht zurückzuhalten oder wiederzufinden vermochte an dem Tage, wo ihnen die Laune vergangen sein würde, ihn wiederzusehen.

»Werden Sie bald abreisen?« wagte er noch zu fragen.

»In zehn Tage», ohne Zweifel.«

»Dann bleibt Ihnen ja Zeit genug, mir noch einmal ein Zeichen zu geben!«

Hierauf berieten sich die drei Cousinen leise in einer arabischen Sprache, die André nicht verstand, und schließlich sagten sie:

»Wir werden versuchen, noch eine Zusammenkunft für den nächsten Sonnabend zu ermöglichen. Nehmen Sie unseren Dank dafür, daß Sie selbst diesen Wunsch äußerten. Wissen Sie aber auch, welche List wir anwenden müssen, um diesen Wunsch erfüllen zu können?«

Wie es schien, eilte es mit der Aufnahme der Photos wegen eines Sonnenstrahls, der sich vom Fenster eines gegenüberliegenden Hauses, jedenfalls aber nur für kurze Zeit, im diesseitigen Fenster widerspiegelte. Es wurden daher schleunigst noch zwei Stellungen aufgenommen, und zwar wieder Djenane neben André, und auch wieder Djenane in ihrem schwarzen Traueranzuge und bei verschleiertem Gesicht.

»Können Sie sich vorstellen,« sagte André zu den drei Vermummten, »wie fremdartig und peinlich es für mich ist, mit unsichtbaren menschlichen Wesen zu reden? Ihre Stimmen selbst sind gedämpft durch die unglückseligen dreifachen Schleier. In manchen Augenblicken ergreift mich sogar ein leichter Schauer vor Ihnen.«

»Es war ja aber von Anfang an zwischen uns ausgemacht, daß wir für Sie nichts weiter als Seelen sein würden!«

»Ganz recht; aber Seelen verständigen sich untereinander hauptsächlich durch den Einfluß der Augen. Ich jedoch vermag mir nicht einmal einen Begriff von Ihren Augen zu machen. Ich will ja glauben, daß sie frei und klar sind, wären sie aber auch schreckenerregend wie die Augen wilder Tiere, ich wüßte nichts davon. Ich bitte Sie, mir mindestens den Gefallen zu erweisen, mir Ihre entschleierten Bilder anzuvertrauen. Auf Ehre, ich gebe sie Ihnen sofort zurück, oder wenn uns irgendein Unglück voneinander trennen sollte, werde ich die Bilder verbrennen.«

Jene drei überlegten, bei sich denkend: Wie? Sie sollten den muselmanischen Gesetzen zuwider ihre Gesichter einhüllen? Das wäre überdies unschicklich, und ihre Verbindung mit André würde dadurch nur noch strafbarer! – Endlich war es Mélek, die sich freiwillig ins Mittel legte, indem sie in einem etwas schalkhaften Ton, der zu denken gab, zu André sagte:

»Unsere Photos ohne Tcharchaf oder Yachmak wünschen Sie zu erhalten? Gut! Lassen Sie mir nur die nötige Zeit zur Herstellung, und in der nächsten Woche sollen Sie sie haben. – Jetzt aber wollen wir uns alle sehen! ... Djenane hat das Wort; sie wird Ihnen eine große Bitte aussprechen. Zünden Sie sich eine Zigarette an, dann werden Sie weniger Langeweile haben.«

»Ich spreche Ihnen diese Bitte«, begann Djenane, »sowohl in unserem Namen als in dem aller unserer türkischen Mitschwestern aus ... Uebernehmen Sie, Herr Lhéry, unsere Verteidigung;... schreiben Sie ein Buch zugunsten der armen Muselmaninnen des zwanzigsten Jahrhunderts, nach christlicher Zeitrechnung! ... Sagen Sie der Welt, da Sie es ja wissen, daß wir uns bewußt sind, eine ›Seele‹ zu besitzen, und daß es nicht mehr möglich ist, uns zu zerbrechen und zu vernichten wie einen Gegenstand! ... Wenn Sie das tun, dann werden wir viele Tausende sein, die Sie segnen! ... Wollen Sie es tun?« ...

André schwieg eine Weile, wie jene drei es vorhin getan, als es sich um die Photos handelte. – Das Buch, das man von ihm zu erhalten wünschte, leuchtete ihm gar nicht ein. Auch hatte er sich vorgenommen, in Konstantinopel als Orientale zu leben, ... umherzustreichen, nicht aber ein Buch zu schreiben. – Schließlich sagte er zu ihnen: »Wenn Sie wüßten, wie schwer das zu erfüllen ist; was Sie von mir erwarten: ein Buch, das etwas beweisen soll?! – Finden Sie, die Sie behaupten, mich zu kennen und meine Werke aufmerksam gelesen zu haben, ... finden Sie, daß mir ein solches Buch zu schreiben möglich sein würde? ... Und überdies: kenne ich denn die Muselmanin des zwanzigsten Jahrhunderts?«

»Wir werden Sie mit Stoff versehen.«

»Sie verreisen ja.«

»Wir schreiben Ihnen.«

»O, was das betrifft; ... schriftliche Mitteilungen! ... Ich kann nie etwas einigermaßen gut erzählen, als was ich selbst gesehen und erlebt habe.«

»Wir kommen ja wieder zurück!«

»Dann werden Sie sich Widerwärtigkeiten aussehen. Man wird nachforschen, woher ich die Tatsachen erfahren habe, und man wird schließlich die Quelle entdecken.«

»Wir sind bereit, uns für die gute Sache zu opfern! ... Welch besseren Gebrauch konnten wir von unserem armen, traurigen und zwecklosen Leben machen? ... Wir hatten die Absicht, uns alle drei der Unterstützung Armer und Elender zu widmen, ... Wohltätigkeitsanstalten zu gründen, wie dies die Europäerinnen tun; ... aber man hat uns die Erlaubnis verweigert. Wir sollen untätig und verborgen hinter unseren Gittern bleiben! ... Nein! ... Wir wollen Ihnen das Material für jenes Buch liefern, das soll unser Wohltätigkeitswerk werden, ... und um so schlimmer, wenn wir dabei unsere Freiheit oder das Leben verlieren müssen!«

André versuchte, sich noch weiter zu verteidigen, indem er sagte:

»Bedenken Sie auch, daß ich nicht unabhängig bin in Konstantinopel; ich bekleide einen Posten in einer Botschaft. Dazu kommt, daß ich von seiten der Türken eine so vertrauensvolle Gastfreundschaft genieße! Unter denen, die Sie Ihre Unterdrücker und Tyrannen nennen, habe ich Freunde, die mir lieb und wert sind!«

»Ah! ... Ja, dann müssen Sie wählen! Wir oder jene! Ja oder nein! ... Entscheiden Sie sich.«

»Wenn es so steht, ... dann wähle ich ... Sie, natürlich. Und ich gehorche!«

»Endlich!« Und sie reichte ihm ihre kleine Hand, die er achtungsvoll küßte.

Nun sprachen sie alle miteinander fast zwei Stunden lang, in einer scheinbaren Sicherheit, die sie bis dahin noch nicht gekannt hatten.

»Sind Sie drei nicht vielleicht nur Ausnahmen?« fragte André, erstaunt über ihre hochgradige Empörung und Verzweiflung.

»Nein, wir bilden die Regel! Nehmen Sie aufs Geratewohl zwanzig türkische Frauen aus der vornehmen Welt: Sie würden nicht eine einzige darunter finden, die nicht ebenso spräche wie wir! ... Als Wunderkinder geboren, zu Blaustrümpfen und Musikpuppen erzogen, Gegenstände des Luxus und der Eitelkeit für unseren Vater oder unseren Gebieter ... und später als Odaliske oder als Sklavin behandelt wie unsere Großmütter vor hundert Jahren! ... Nein, das können wir nicht länger ertragen! ...«

»Hüten Sie sich wohl! Wenn ich nun Ihr Gegner würde? Ich, ein Mann der Vergangenheit? Wenn ich riefe: Nieder mit den fremden Erzieherinnen, den massenhaften Lehrerinnen und all den fremdsprachigen Büchern, die nur dazu geeignet sind, das Feld des menschlichen Elends zu erweitern! Zurück zu dem glücklichen Frieden der Voreltern?!«

»Ja! Damit würden wir uns allenfalls abzufinden wissen, um so mehr, als eine Rückkehr unmöglich ist; man kann den Lauf der Zeit nicht zurückdrängen oder aufhalten. Die Hauptsache, damit man sich in Bewegung setze und Mitleid habe, besteht darin, daß man erfahre: Wir, die Frauen der Uebergangszeit zwischen denen der Vergangenheit und denen der Zukunft, wir sind Märtyrerinnen! Das ist es, was allen verständlich gemacht werden muß, und wenn Ihnen das gelingt, dann werden Sie unser aller Freund sein!«

André ergötzte sich im stillen an dem Reiz ihrer Empörung und an dem Klang ihrer Stimmen, die aus Haß gegen die Tyrannei der Männer vibrierten. Die angebliche Sicherheit, in der sie sich hier befanden, war übrigens nur eine scheinbare, denn da das Haus in einer Sackgasse lag, so würde diese, im Halle einer Ueberraschung, eine vollkommene Mausefalle bilden. Auch horchten alle drei Schattenbilder, sobald sich etwas auf der Gasse rührte, gespannt auf. Einmal aber hatten sie einen heftigen Schreck: der kupferne Klopfer an der Straßentür wurde mit großer Gewalt in Bewegung gesetzt, so daß in der engen Gasse ein gewaltiger Widerhall entstand.

Alle drei stürzten angstvoll an das Fenster, durch dessen Gitter sie nach der Ursache des Lärmes forschten. Unten vor der Tür stand eine Dame im Tcharchaf von schwarzer Seide; sie stützte sich auf einen Stock, und ihr Kopf war tief gebeugt von der Last der Jahre.

Es ist nichts von Bedeutung,« sagte Djenane zu André, »der Fall war vorgesehen. Aber wir müssen die alte Dame hier eintreten lassen.«

»Dann werde ich mich verstecken?«

»Das ist nicht einmal nötig! ... Geh hinunter, Mélek, öffne ihr die Tür und sage ihr dann, was wir verabredeten. Sie wird nur hier durchgehen und nicht mehr zurückkommen. Bei Ihnen vorüberkommend, wird sie vielleicht auf türkisch fragen: Wie geht's dem kleinen Kranken? worauf Sie nur zu antworten brauchen, natürlich ebenfalls auf türkisch: Es geht ihm viel besser seit gestern früh!«

Bald darauf trat die alte Dame ein, das Gesicht mit dem Schleier verhüllt; mit dem Stock auf dem Teppich vorsichtig tappend; sie unterließ nicht, im Vorübergehen André zu fragen:

»Nun, geht's ihm besser, dem lieben Burschen?«

»Viel besser, seit heute früh!« antwortete jener.

»Gut, gut! Ich danke!«

Dann verschwand sie durch eine kleine Tür im Hintergrunde des Gemaches.

André verlangte keine weitere Erklärung. Er befand sich hier in einem richtigen orientalischen Märchen, und wenn man ihm gesagt hätte: »Eine Fee Carabossa wird unter dem Diwan hervorkommen, die Wand mit einem Zauberstab berühren und dieses Haus in einen prachtvollen Palast verwandeln,« – so würde er das ohne weiteres geglaubt haben.

Nachdem die alte Dame verschwunden war, blieb man noch plaudernd beisammen; als aber die für die Zusammenkunft festgesetzte Zeit abgelaufen war, verabschiedeten die drei Cousinen André Lhéry mit dem Versprechen, daß man sich noch einmal wiedersehen werde, koste es, was es wolle.

»Gehen Sie, lieber Freund, und verfolgen Sie den Weg bis zum Ende der Sackgasse, langsam und gemächlich; durch das Gitterwerk unseres Fensters werden wir alle drei die Würde Ihres Ausganges überwachen.«


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