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32.

Sie hatten ihm angezeigt, daß der Ramadan sie noch viel unfreier machen werde als sonst, wegen der vielen Gebete, des Lesens der heiligen Bücher, des Fastens während des ganzen Tages, und besonders wegen des gesellschaftlichen Lebens an den Abenden, das während dieses Monats eine außergewöhnliche Wichtigkeit gewinnt. Es gibt große Galadiners, »Iftars« genannt, die dazu bestimmt sind, die Enthaltsamkeit während des Tages auszugleichen, und zu denen man viele Einladungen erläßt.

Und nun, im Gegenteil, schien es, als ob der Ramadan ihr phantastisches Vorhaben erleichtern sollte, ein Vorhaben zum Erschrecken! Nämlich: André Lhéry einmal in Khassim-Pascha zu empfangen, bei Djenane, zwei Schritte von Madame Husnugul! –

Stambul ist in der Fastenzeit des Islams nicht wiederzuerkennen. – Abends Feste mit Tausenden von Laternen, die Straßen überfüllt von Menschen, die Moscheen umkränzt von Feuer, überall große, leuchtende Ringe in der Luft, festgehalten durch die Minaretts, die dadurch fast unsichtbar werden – so sehr haben sie die Farbe des Himmels und der Nacht angenommen. –

Aber dann, im Gegensatz, allgemeine Schlafsucht, solange der Tag dauert. Das ganze orientalische Leben steht still, die Läden sind geschlossen, in den unzähligen kleinen Kaffeehäusern werden keine Nargilehs geraucht, und keine Gespräche hört man, nur einige Träumer oder Schläfer sind auf den Bänken ausgestreckt. Und in den Häusern, bis zum Untergang der Sonne, dieselbe Ermattung wie draußen.

Bei Djenane ganz besonders, wo die Dienstboten ebenso alt waren wie die Gebieter, schliefen alle: die unbärtigen Neger sowohl wie die schnurrbärtigen Wächter mit Pistolen am Gürtel.

Am 12. Ramadan, dem für das unerhörte Unternehmen bestimmten Tage, mußten die Großmutter und die Großonkels, im höchsten Grade verschnupft, ihre Zimmer hüten, und, ein unerwartet günstiger Umstand: Madame Husnugul ward schon seit zwei Tagen im Bett durch eine starke Indigestion zurückgehalten, die sie sich im Verlauf eines Iftar zugezogen hatte.

André sollte sich genau um zwei Uhr einfinden, auf die Minute; er hatte den Befehl, an der Mauer entlang zu streifen, um nicht von überhängenden Fenstern aus gesehen zu werden, und sich nur in die große Haustür hineinzuwagen, wenn er durch das Gitterfenster des ersten Stockwerks den Zipfel eines weißen Taschentuches herausstecken sähe.

Diesmal hatte er wirklich Furcht, sowohl für sich selbst, als sicherlich auch für Djenane; für sich aber besonders wegen des allgemeinen Aufhebens, das in Europa, ja in der ganzen diplomatischen Welt über solche Tat eines Mitgliedes einer fremden Botschaft gemacht werden würde, wenn man ihn ertappte! –

Er näherte sich ganz gelassen dem Hause, aufmerksam umherspähend. Die Verhältnisse waren günstig; das Haus lag, wie alle Nachbarhäuser, mit der Vorderseite nach dem großen Friedhof dieses Stadtteils hinaus. Kein Blick konnte ihn also von jener Seite, namentlich heute bei dem herrschenden Nebelwetter, erspähen. –

Das Zeichen des weißen Taschentuches ließ sich an der richtigen Stelle sehen, mithin war ein Zurücktreten nicht mehr tunlich. Er trat also in das Haus, wie einer, der sich gesenkten Hauptes in einen Abgrund stürzt. Eine monumentale Vorhalle alten Stils empfing ihn; kein Wächter war zu sehen, nur Mélek, im schwarzen Tcharchaf, stand hinter der Tür und flüsterte ihm hastig zu: »Schnell! Laufen Sie hinauf!« – Sie stiegen beide gemeinschaftlich die Treppe empor, immer mehrere Stufen auf einmal nehmend; sie durcheilten einen langen Gang und traten dann in die Wohnung Djenanes, die klopfenden Herzens gewartet hatte und nach dem Eintritt der beiden rasch die Tür schloß, den Schlüssel zweimal herumdrehend. Alsdann erscholl ein freudiges Gelächter Djenanes und Méleks, wie sie das jedesmal taten, wenn ihnen ein Streich geglückt war, und Djenane zeigte mit einem Ausdruck des Triumphes den Schlüssel, den sie in der Hand hielt, und deutete dann auf das Schloß in der Tür, eine noch nie in einem Harem dagewesene Einrichtung. Sie hatte dieses Vorrecht erst gestern durchgesetzt und war sehr stolz auf diesen Erfolg.

Djenane und Zeyneb sowie auch Mélek, die sich hastig von ihrem Tcharchaf befreit hatten, waren bleicher als sonst infolge des strengen Fastens. Uebrigens boten sie André noch eine ganz besondere Ueberaschung dadurch, daß sie alle drei in elegantester Weise als Europäerinnen gekleidet und frisiert waren. Nur etwas erinnerte noch an die Orientalin: kleine zirkassische Schleier aus weißer Gaze mit Silberstickerei, die auf dem Haarputz befestigt waren und über die Schultern zurückfielen.

André, der entzückt war von den Kostümen, fragte nur beiläufig:

»Ich glaubte, Sie trügen im Hause gar keinen Schleier?«

»Doch, stets! Aber nur diese kleinen!« Zunächst führten sie nun André in den Musiksaal, wo ihn drei andere Frauen erwarteten, die eigens zu dem gefährlichen Abenteuer eingeladen waren: Mademoiselle Bonneau de Saint-Miron, Mademoiselle Tardieu, ehemalige Lehrerin Méleks, und eine vermummte Dame, Ubeyde Hanum, Diplomée de l'Ecole normale, et Professeur de philosophie au Lycée de jeunes filles, dans une ville d'Asie-Mineure!

Die beiden Französinnen waren sehr besorgt wegen des Ausganges dieses Abenteuers; sie waren auch lange Zeit unentschieden geblieben, ob sie herkommen sollten oder nicht. Und Mademoiselle de Saint-Miron hatte die Miene eines Menschen, der sich sagt:

»Ich bin leider die erste Ursache dieses entsetzlichen Unrechts, daß André Lhéry in Person sich in der Wohnung meiner ehemaligen Schülerin befindet!«

Indessen – sie sprachen beide jetzt sehr angelegen mit André Lhéry, den sie schon lange sehnlichst gewünscht hatten kennen zu lernen. Und diesem schien es, als hätten die »ältlichen« jungen Damen Herz und Verstand auf dem rechten Fleck. Dabei besaßen sie einen vornehmen Anstand und waren ausgezeichnet unterrichtet, ihre Redeweise klang jedoch übertrieben romantisch. Beide glaubten auch mit ihm über sein Buch sprechen zu dürfen, dessen Titel sie kannten, und das sie sehr reizte.

»Mehrere Seiten Ihrer ›Entzauberten‹ sind bereits geschrieben, nicht wahr?«

»O nein!« antwortete er lachend, »noch nicht eine einzige!«

»Das ist mir auch lieber,« sagte Djenane zu André mit ihrer eigenartigen Stimme, die stets wie überirdische Musik klang. »Schreiben Sie das Buch, wenn Sie fern sein werden von hier; dann wird es wenigstens noch einige Monate hindurch ein Band zwischen uns bilden ... und sobald Sie Stoff brauchen sollten, würden Sie doch nicht vergessen, an uns zu schreiben.«

André glaubte aus Höflichkeit einige Worte an die vermummte Dame richten zu müssen und fragte sie: ob sie zufrieden sei mit ihren Schülerinnen, den kleinen Türkinnen in Kleinasien? Er erwartete eine ebenso gleichgültige Antwort zu erhalten, weil seine Frage es auch gewesen; aber die Dame antwortete in ernstem, sanftem Tone und in reinstem Französisch:

»Mehr als zufrieden! ... Die Kinder lernen viel zu schnell und sind für ihr jugendliches Alter schon zu klug. Ich bedaure, eines der Werkzeuge zu sein, die diesen jungen Seelen die ersten Samenkörner zu ihren späteren Leiden einflößen. Ich bedaure alle diese kleinen Blüten, die auf diese Weise viel früher verwelken werden als ihre Vorgängerinnen.«

Sodann wurde vom Ramadan gesprochen. Man erzählte, daß Tag für Tag streng gefastet werde, unter Anfertignng von Handarbeiten für die Armen und Lektüre frommer Werke, denn während dieses Monats muß eine Muselmanin ihren ganzen Koran durchlesen, ohne eine einzige Zeile zu überspringen. – Die drei Freundinnen, ungeachtet ihrer sonstigen Ungläubigkeit, verehrten und bewunderten das Heilige Buch des Islam; ihre drei Korans lagen am vorgeschriebenen Platz, und die Seiten für den heutigen Tag waren durch grüne Seidenbänder bezeichnet.

Sodann, nach Untergang der Sonne, kommen die Istars. Im Selamlik: Istar der Männer mit darauffolgendem Gebet, zu dem sich die Eingeladenen, Gebieter wie Diener, im Großen Saal vereinigen, jeder auf seinem Betteppich kniend.

Im Harem: Istar der Frauen, in ähnlicher Form, nur daß Djenane das Gebet von einem ihrer Gärtner, einem noch sehr jungen Menschen, der eine wundervolle Stimme hatte, hinter einem festen Vorhang singen ließ.

Auf Méleks Vorschlag mußte André jetzt das Versteck versuchen, das sie für alle Fälle vorbereitet hatte. Es war dies eine große Staffelei mit einem Bilde, über welches ein weiter Brokatstoff gedeckt war, der hinten bis zum Fußboden reichte, so daß der dort Verborgene durchaus nicht gesehen werden konnte.

»Es ist eigentlich nur ein Uebermaß der Vorsicht, denn es wird niemand kommen,« versicherte Mélek, während André das in einer Ecke des Salons befindliche Versteck versuchte, und sie fuhr fort:

»Der einzige aus unserer Familie, der kommen könnte, ist mein Vater, aber er verläßt Iildis erst nach dem Kanonenschuß des Moghreb.«

»Wie aber,« warf Djenane ein, »wenn ihn etwas Unvorhergesehenes vor der Zeit zurückführte?«

»Gleichviel!« sagte Mélek mit schlauem Lächeln. »In einen Harem kann man nicht eintreten, ohne sich vorher angemeldet zu haben. In diesem Fall aber lassen wir ihm sagen: es sei eine fremde türkische Dame – etwa Ubeéde Hanum – zu Besuch. Dann wird er sich hüten, hereinzukommen ... Das also fürchte ich nicht!« – Und sich gegen André wendend, fügte sie hinzu:

»Das Schwierigste wird Ihr Ausgang sein!«

Unter den auf dem Piano liegenden Notenblättern befand sich das Manuskript eines von Djenane komponierten Notturno, das André gewünscht hatte, von ihr selbst gespielt zu hören. Das war aber nicht zu ermöglichen, denn während des Ramadan macht keine vornehme Dame Musik; und dann? Welche Unvorsichtigkeit, das ganze schlafbedürftige Haus zu erwecken!

Djenane wünschte, daß ihr Freund sich für einen Augenblick an ihren Schreibtisch setze, und zwar an dieselbe Stelle, wo sie früher in ihrem Tagebuch Briefe an André Lhéry schrieb, die nie abgeschickt wurden. Man führte ihn also in ein großes Zimmer, wo alles weiß, glänzend und höchst modern war. Er mußte auch durch die vergitterten Fenster sehen, sowohl nach dem stillen Gegenüber der Grabstätten und der uralten Zypressen wie nach dem Wasser des Goldenen Horns und nach Stambul, das im Nebel lag.

Schließlich sah er auch durch die unvergitterten Fenster nach dem Innern des Hauses und nach dem Garten mit den alten Bäumen und den himmelhohen Mauern, die ihn von den Nachbarn trennten. André segnete jetzt die kühne Tat, die ihn hergeführt hatte. Ihr dankte er es ja, daß er das Haus und die Wohnung seiner kleinen Freundinnen kennen lernte; wenigstens würde nun, wenn er, fern von ihnen, an sie dächte, der Rahmen ihrer Behausung in der Erinnerung zugleich mit dem Bilde der armen Dulderinnen auftauchen und ihre Persönlichkeit deutlicher hervortreten lassen.

Nun aber war es Zeit, sich zurückzuziehen. André hatte inmitten dieser Umgebung fast das Ungeheuerliche seiner Lage vergessen. Jetzt aber, da es sich darum handelte, hinauszukommen, erwachte in ihm das Gefühl, daß er sich in einer Falle befinde, deren Ausgang sich verengt habe, und die mit scharfen Spitzen gespickt sei!

Das Trio machte mehrere Erforschungsrunden, und dann hieß es: alles stehe gut; die einzige gefährliche Person sei der Neger Yussuff, der bereits auf seinem Posten sei und die große Vorhalle unten mit Beharrlichkeit bewache. Für ihn müsse man sogleich einen Auftrag ersinnen, der ihn entferne und für lange Zeit unschädlich mache.

»Ich habe es gefunden!« rief Mélek plötzlich, und dann fügte sie hinzu: »Gehen Sie in Ihr Versteck, André! Wir werden Yussuff hierherkommen lassen! Das wird der Gipfel der Schlauheit sein!«

Und als der Genannte erschien, sagte sie zu ihm:

»Mein guter Yussuff, wir haben einen sehr eiligen Auftrag für Dich! ... Geh ganz schnell nach Pera hinauf, um uns ein neues Buch zu holen, dessen Titel ich Dir auf eine Karte schreiben werde. Wenn es nötig sein sollte, geh in alle Buchhandlungen der Großen Straße; ... aber vor allen Dingen: komm nicht ohne das Buch zurück!«

Und sie schrieb in größter Ruhe und ohne zu lachen auf eine Karte: »Die Entzauberten!« Der jüngste Roman von André Lhéry!

Jussuff eilte mit seiner Karte von dannen.

Nun machte das Trio noch eine Runde in den Gängen; Mélek erteilte dann verschiedenen anderen Befehle, die sie fernhielten; endlich faßte sie André bei der Hand, zog ihn in rasendem Lauf die Treppe hinunter bis zur Haustür, schob ihn hastig hinaus und schloß die Tür hinter ihm zu.

André Lhéry entfernte sich, an den alten Mauern ganz nahe vorbeistreifend, indem er sich fragte, ob der Lärm der etwas heftig zugeworfenen Haustür nicht etwa die ganze Dienerschaft aufmerksam gemacht habe ... und nun eine ganze Bande von Negern, mit Stöcken und Revolvern bewaffnet, vielleicht zu seiner Verfolgung ausgesandt werden würde?!

Die drei Freundinnen gestanden ihm am folgenden Tage ihre Lüge hinsichtlich der kleinen zirkassischen Schleier ein. Im Hause werden sie tatsächlich nicht getragen. Aber für eine Muselmanin ist es noch viel unschicklicher, einem Manne ihr ganzes Haar und besonders den Nacken zu zeigen als ihr Gesicht; und sie hätten sich deshalb nicht dazu entschließen können.


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