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14.

Ein alter Eunuche überbrachte am folgenden Donnerstag, heimlich und stumm, an André die Ankündigung einer Zusammenkunft für den zweitfolgenden Tag, am nämlichen Ort und zur gleichen Stunde; und außerdem, sauber verpackt und festversiegelt, drei große Kartons.

»Aha!« sagte er sich, »das sind die Photos, die sie mir versprochen haben!«

Und in seiner Ungeduld, endlich ihre Augen kennen zu lernen, zerriß er den Umschlag.

Es waren in der Tat drei Porträts, ohne Tcharchaf noch Yachmak, die Bilder gebührend unterschrieben in Türkisch und in Französisch: das eine: »Djenane«, das zweite: »Zeyneb« und das dritte: »Mélek«.

Alle drei hatten sogar Toilette gemacht: schöne Gesellschaftsroben, ausgeschnitten, durchaus nach neuester Pariser Mode. Aber Zeyneb und Mélek waren vom Rücken aus gesehen, nur den Rand und die Kehrseite ihrer kleinen Ohren darbietend; während Djenane, die einzige, die sich von vorn zeigte, vor das Gesicht einen großen Fächer aus Federn hielt, der alles verdeckte, selbst die Haarfrisur.

*

Am Sonnabend, der alle vier zum zweitenmal in dem geheimnisvollen Hause versammelte, geschah nichts Tragisches, und keine Fee Carabossa erschien.

»Wir sind hier«, erklärte Djenane, »bei meiner ehemaligen Amme, die mir niemals irgend etwas verweigert hat: das kranke Kind ist ihr Sohn; die alte Dame ist ihre Mutter, der Mélek Sie als einen neuen Arzt angemeldet hatte. – Verstehen Sie jetzt unsere Kabale? ... Ich mache mir aber doch ein Gewissen daraus, meine gute Amme eine so gefährliche Rolle spielen zu lassen; indessen, es ist ja heute unsere letzte Zusammenkunft!« –

Sie unterhielten sich wieder zwei Stunden lang. Heute bestand volles Vertrauen, Einverständnis und Freundschaft, ohne Gewölk, zwischen André Lhéry und den drei Cousinen. Diese wußten viel von ihm aus ihrer Lektüre; da er aber fast gar nichts von ihnen wußte, so hörte er heute mehr zu, als daß er selbst sprach. – Zeyneb und Mélek erzählten von ihren unglücklichen Ehen und ihren hoffnungslosen Aussichten für die Zukunft. Djenane hingegen erzählte noch nichts Bestimmtes über sich selbst.

André war ganz bezaubert von ihrer Jugend und der natürlichen Fröhlichkeit ihrer Rasse, die sich diese Frauen trotz ihrer trüben Lebensereignisse bewahrt hatten, und die jetzt deutlicher hervortrat, da sie keine Scheu mehr vor dem »fremden Manne« empfanden, der ihnen als stolz und hochmütig geschildert worden war. Von Anfang war er ihnen höchst gemütvoll entgegengetreten, so daß sie, die vorher nie mit einem Mann gesprochen hatten, der nicht zu ihren allernächsten Angehörigen zählte, im höchsten Grade überrascht wurden. Uebrigens wurde André Lhéry, der hier zum erstenmal Gelegenheit fand, mit türkischen Frauen der vornehmen Kreise zu sprechen, durch deren Bildung, Verstand und seinen Takt nicht weniger überrascht als jene. Beide Teile waren erstaunt gewesen, so schnell in völlige Uebereinstimmung der Gedanken und Ansichten zu kommen, wie Freunde, die schon lange miteinander bekannt waren. Alles, was diese jungen Frauen von dem geselligen und dem geistigen Leben in Europa wußten, hatten sie in ihrer Einsamkeit aus Büchern erfahren; und jetzt hatten sie das Glück, mit einem geistreichen Manne des Abendlandes, einem berühmten Schriftsteller, zu reden, wiederholentlich mit ihm zusammen zu kommen und von ihm fast wie seinesgleichen behandelt und als »Seelen« erachtet zu werden! ... Das erfüllte sie mit einer Art von geistigem Rausch, wie sie einen solchen noch niemals empfunden. –

Zeyneb besorgte diesmal die Bedienung mit den kleinen Erfrischungen auf dem runden Tisch, der heute mit einem grünseidenen, silbergestickten Tuch bedeckt und mit natürlichen roten Rosen bestreut war.

Djenane hielt sich auffallend zurück; sie mischte sich zwar oft ins Gespräch und tat namentlich manche tiefsinnige Frage, aber ihre Stimmung war allmählich ernster geworden als sonst.

Uebrigens hatte sich schon seit einigen Tagen die Witterung sehr verschlechtert; mitten im Monat Mai war empfindliche Kälte zurückgekehrt; man hörte den Wind vom Schwarzen Meer an den Türen und Fenstern rütteln wie im Winter; ganz Stambul fröstelte unter dem mit schweren dunklen Wolken bedeckten Himmel, und in dem vergitterten kleinen Harem herrschte ein Halbdunkel wie bei der Abenddämmerung.

Plötzlich erscholl der in Bewegung gesetzte Klopfer an der Haustür und erregte allgemeine Bestürzung.

Mélek, die zum Fenster lief und durch das Gitter hinaussah, rief jedoch freudig: »Sie sind es! O, wie freut es mich, daß sie entschlüpfen konnten!« Sie lief die Treppe hinunter, um die Haustür zu öffnen und kam bald darauf, begleitet von zwei anderen schwarzgekleideten und tiefverschleierten Gestalten, zurück, die ebenfalls elegant und jung zu sein schienen.

»Herr André Lhéry!« stellte Djenane vor, und dann auf die eben Eingetretenen deutend: »Zwei meiner Freundinnen! Die Namen sind ja wohl gleichgültig?«

»Zwei Gespensterdamen, ganz einfach!« ergänzten jene, absichtlich das Wort betonend, dessen André Lhéry in einem seiner letzen Bücher sich schon häufig bedient hatte. – Und dabei reichten sie ihm ihre weißbehandschuhten kleinen Hände.

Diese neuen Schattenbilder sprachen übrigens mit sehr sanften Stimmen und in vollkommener Geläufigkeit französisch.

»Unsere Freundinnen teilten uns mit,« sagte die eine, »daß Sie ein Buch schreiben würden zugunsten der Muselmanin des zwanzigsten Jahrhunderts ... und wir wollten Ihnen dafür unseren Dank aussprechen.«

»Welchen Titel wird das Buch erhalten?« fiel die zweite ein, sich mit schmachtender Grazie auf dem fadenscheinigen Diwanpolster niederlassend.

»Mein Himmel, darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Die Idee ist erst kürzlich entstanden, und ich muß gestehen, daß ich ein wenig damit überrascht wurden bin! – Wir wollen eine Bewerbung um den Titel ausschreiben, wenn es Ihnen beliebt. – Ich meinerseits möchte vorschlagen: ›Die Entzauberten!‹«

»Die Entzauberten?« wiederholte Djenane langsam. »Man ist entzaubert vom Leben, wenn man gelebt hat; wir hingegen wünschen überhaupt erst zu leben! ... Wir sind nicht entzaubert, ... sondern eingesperrt, vernichtet, ... erstickt!«

»Halt! Ich habe den Titel!« rief Mélek, die heute keinesfalls ernst gestimmt war. – »Was sagen Sie zu dem Titel: ›Die Erstickten‹? Er würde so richtig unsern Seelenzustand bezeichnen unter den dichten Schleiern, die wir umnehmen müssen, um Sie, Herr Lhéry, unter uns zu empfangen. Denn Sie können sich nicht vorstellen, wie schwer es ist, darunter zu atmen!«

Soeben wollte ich Sie fragen, weshalb Sie gerade diese dichten Schleier tragen? Könnten Sie sich nicht in Gegenwart Ihres Freundes damit begnügen, sich ebenso zu verhüllen wie alle die Damen, denen man in Stambul begegnet: mit einer gewissen Durchsichtigkeit verschleiert, die noch etwas erraten läßt: das Profil, die Augenbrauen, zuweilen sogar die Augen. – Während bei Ihnen: weniger als nichts!«

»Richtig!« fiel Mélek ein; »auch ist es eigentlich gar nicht einmal recht, sich so zu verstecken. – Im allgemeinen sagt man, wenn man auf der Straße einer geheimnisvoll verhüllten weiblichen Gestalt begegnet: – ›Die da geht dorthin, wohin sie nicht gehen sollte!‹ (Wie wir auch, zum Beispiel!) ... Und das ist so bekannt, daß bei ihrem Vorübergehen die anderen Frauen lachen und sich gegenseitig mit dem Ellbogen anstoßen.«

»Aber, Mélek,« sagte Djenane mit leichtem Vorwurf, »mach doch keine schlechten Witze wie eine ›Pérote!‹« Und dann fuhr sie fort, sich zu André Lhéry wendend: »Der Titel ›Die Entzauberten‹ klingt sehr hübsch, aber der Sinn ist etwas dunkel.«

»Hören Sie, wie ich den Titel meine! ... Erinnern Sie sich der schönen Legenden alter Zeiten: Die Walküre schläft in ihrer unterirdischen Burg; Dornröschen schläft im verzauberten Schloß, mitten im Walde. Aber die Verzauberung wird gelöst, und sie erwachen. – Nun wohl! Sie, die Muselmaninnen, schliefen seit Jahrhunderten in so ruhigem Schlummer, bewacht von den althergebrachten Gebräuchen und den Glaubenssätzen. Plötzlich aber ist der böse Zauberer, das heißt der Hauch des Abendlandes, bis zu Ihnen gedrungen und hat den Zauber gelöst. Sie erwachen: zum Leiden des Lebens und des Bewußtseins!«

Djenane ergab sich nur zur Hälfte. Sie hatte augenscheinlich einen anderen Titel im Hinterhalt, wollte ihn aber noch nicht nennen.

Die beiden Neuangekommenen gehörten zu den wütendsten Empörerinnen. Man sprach zu jener Zeit in Konstantinopel viel von einer Dame der vornehmen Welt, die nach Paris entflohen war. Das Abenteuer verdrehte allen die Köpfe in den Harems, und eben diese beiden Damen träumten davon in gefährlicher Weise.

Djenane sagte, zu ihnen gewandt: »Ihr fändet dort vielleicht das Glück, weil Ihr in Euren Adern abendländisches Blut habt.« Zu André Lhéry gewendet, sagte sie: »Die Großmutter dieser meiner Freundinnen war nämlich eine Französin, die nach Konstantinopel kam, einen Türken heiratete und zum Islam übertrat. Aber ich oder Zeyneb oder Mélek die Türkei verlassen? Nimmermehr! Für uns drei wäre das ein unannehmbares Mittel zur Befreiung. Lieber noch tiefere Demütigungen, wenn es sein müßte, sogar wirkliche Sklaverei, ... aber hier sterben und in Eyub schlafen!« ...

»Sie haben vollkommen recht!« schloß André.

*

Die drei Cousinen sprachen immer davon, daß sie für einige Zeit verreisen würden. War das ihr Ernst?

Als André sie diesmal verließ, nahm er die Gewißheit mit sich, daß er sie wiedersehen werde; er hielt sie jetzt durch das Buch und vielleicht auch noch durch etwas anderes, durch ein Band unbestimmbarer Art, das sich besonders zwischen Djenane und ihm zu bilden begann.

Mélek, die sich selbst zur Schließerin dieses geheimnisvollen Hauses gemacht zu haben schien, geleitete André zum Ausgang. Während dieser kurzen Spanne Zeit machte er ihr ernstliche Vorwürfe über den schlechten Scherz mit den gesichterlosen Photos. Sie erwiderte nichts, sondern folgte ihm schweigend die Hälfte der Treppe hinunter, um sich von dort zu überzeugen, ob er auch die Art, das Schloß der Tür und den Riegel zu öffnen, finden werde.

Und als André sich auf der Schwelle noch einmal umwandte, sah er sie oben stehen, ihm zulachend mit allen ihren schönen weißen Zähnen, mit ihrer kleinen Stumpfnase, mit ihren schönen, großen grauen Augen, mit ihrem ganzen lieblichen, zwanzigjährigen Gesichtchen. Mit beiden Händen hielt sie ihre Schleier hocherhoben, bis zu den goldroten Haarlocken, die ihre Stirn umrahmten! ... Und ihr Lachen sollte sagen: »Ja, ich bin's, Ihre kleine Freundin Mélek, die ich Ihnen hierdurch vorstelle! Ich bin nicht wie die anderen, besonders nicht wie Djenane; bei mir hat das keine Bedeutung! ...«

»Guten Abend, Freund André! Guten Abend!«

Und dann fielen mit Blitzesschnelligkeit die Schleier herab.

André rief ihr halblaut »Dank! Dank!« in türkischer Sprache zu, denn er war schon fast auf der Straße. Sodann ging er absichtlich ganz langsam bis zum Ausgang der Sackgasse.

Draußen war es empfindlich kalt. Diese düstere Witterung erinnerte ihn an einen Tag in seiner Jugend.

Als er über den leeren großen Platz der Moschee des Sultan-Selim ging, entsann er sich mit erschreckender Genauigkeit, daß er denselben Platz in der gleichen Einsamkeit, in der nämlichen Abendstunde und bei ebenso heftigem Nordwind ... vor nunmehr fünfundzwanzig Jahren ... überschritten habe.

Und dabei erschien ihm sogleich das Bildnis der armen geliebten Kleinen, die dort draußen in ihrem verfallenen Grabe schlief. Dieses Bildnis verscheuchte sofort spurlos dasjenige Djenanes.


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