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11.

Am folgenden Tage schrieb sie an André Lhéry: »Wenn am nächsten Donnerstag schönes Wetter ist, wollen wir uns dann in Eyub begegnen? Gegen zwei Uhr werden wir in einem Caique an den Stufen ankommen, die bis zum Wasser hinabsteigen, genau am Ende der mit Marmor gepflasterten Avenue, die zur Moschee führt. Von dem dort in der Nähe befindlichen kleinen Kaffeehause können Sie uns ankommen sehen; und, nicht wahr, Sie werden wohl Ihre neuen Freundinnen wiedererkennen, die drei kleinen armen schwarzen Gespenster von neulich? ... Da Sie so gern den Fes tragen, setzen Sie ihn bei dieser Gelegenheit auf; dann wird unser Vorhaben immerhin etwas weniger gefährlich sein. Wir werden geradeswegs nach der Moschee gehen und einen Augenblick dort eintreten. Erwarten Sie uns im Hofe und gehen Sie dann voraus, wir werden Ihnen folgen. Sie kennen Eyub besser als wir, suchen Sie dort einen Platz aus – vielleicht auf der Höhe des Friedhofes – wo wir ungestört plaudern können.« –

Es war wirklich sehr schönes Wetter an jenem Donnerstag, unter einem etwas melancholischen blauen Himmel.

Es war sogar plötzlich heiß geworden nach dem langen Winter, und die Wohlgerüche des Orients, die solange in der Kälte geschlummert hatten, waren überall neu erwacht – Für André Lhéry war die Anempfehlung, einen Fes aufzusetzen, um nach Eyub zu gehen, ganz unnütz, denn, in Erinnerung an die Vergangenheit würde er in diesem Stadtviertel, das einst das seinige gewesen, nie anders erscheinen wollen. Seit seiner diesmaligen Ankunft in Konstantinopel kam er jetzt zum erstenmal wieder hierher, und als er beim Verlassen des Caique den Fuß auf die Treppenstufen setzte, die noch immer die alten waren, erkannte er, tief bewegt, alles hier in diesem auserlesenen Winkel wieder, der noch von den Neuerungen verschont geblieben ist. Das alte kleine Kaffeehaus, aus wurmstichigem Holz auf Pfählen erbaut, die bis zum Wasser hinanreichten, hatte sich ebenfalls seit den früheren Zeit nicht verändert.

André befand sich, wie gewöhnlich, in Gesellschaft Jean Renauds, der sich gleichfalls einen Fes aufgesetzt hatte, Ihm war befohlen worden, nicht zu sprechen, wenn er eintrat, um in dem antiken kleinen Saal Platz zu nehmen, der ganz offen der reinen, frischen Luft des Golfs zugewendet dalag. Auf den mit frischgewaschenem, feinem Kattun bezogenen niedrigen Diwans befanden sich einige schmeichlerische Katzen, die jetzt in der Sonne schliefen, und drei bejahrte Männer in langen Roben und mit Turbanen, die den blauen Himmel betrachteten.

Ueberall in der Umgebung herrschte jene Unbeweglichkeit, jene Gleichgültigkeit gegen den Lauf der Zeit, jene weise Ergebung, die man nirgends findet als in den Ländern des Islam, in der einsamen Umgebung der heiligen Moscheen und der großen Friedhöfe.

André setzte sich mit seinem Mitschuldigen bei den gefahrvollen Abenteuern auf die mit Kattun bezogenen Bänke, und bald mischte sich der Rauch ihrer Nargilehs mit dem der anderen Träumer. Diese nachbarlichen Raucher waren »Imams«, die sie auf türkische Art begrüßt hatten, sie mithin nicht für Fremde haltend, und André freute sich über diesen Irrtum, der seinen Plänen günstig war.

Die beiden Freunde hatten dicht vor ihren Augen den kleinen Anlegeplatz der Barken, wo die drei Damen ankommen mußten. Dieser Punkt des Goldenen Horns ist wie das Ende der Welt. Von hier aus gelangt man nirgends hin; es gibt hier überhaupt keine Wege. Es hört tatsächlich alles auf, der Meeresarm sowohl als das vielbewegte Leben von Konstantinopel. Außer dem kleinen Kaffeehause, noch einigen zerstreut umherliegenden Häuschen aus Holz und einem alten Kloster der tanzenden Derwische ist sonst hier nichts zu finden.

Die leichten Caiques, die von Zeit zu Zeit dort unten anlegten, kamen vom Ufer Stambuls oder von dem Khassim-Paschas und brachten Gläubige für die Moschee oder fromme Besucher der Gräber; auch zwei Derwische kamen an und einige fromme Greise mit grünen Turbanen.

Endlich zeigte sich in der Ferne ein Caique, der schwarze Gestalten trug, die wohl die längst Erwarteten sein konnten. Richtig! Die Barke kam näher, landete, und es entstiegen ihr die nicht zu verkennenden drei schwarzen Gespenster, die auch die auf sie Wartenden erkannt hatten, sich aber ohne weiteres auf den Weg zur Moschee begaben, den sie langsam verfolgten.

André hatte sich nicht von seinem Platz gerührt, sich auch nicht durch eine Miene verraten, daß die drei Gestalten ihn interessierten; kaum wagte er, sie auf ihrem Wege mit den Augen zu verfolgen. Erst nach längerer Zeit erhob er sich langsam und entfernte sich ohne Hast mit der gleichgültigsten Miene, um sodann den Weg nach der Moschee einzuschlagen und ihn ebenso langsam zu verfolgen wie seine drei Vorgängerinnen.

Dieser mit weißem Marmor gepflasterte Weg, eine schöne Avenue der Toten, ist auf beiden Seiten eingefaßt, teils von Begräbniskiosken, eine Art Rotunden aus weißem Marmor, teils von Arkaden, die durch eiserne Gitter eingefaßt sind, hinter denen man mächtige Katafalke erblickt. Weiterhin sind ganze Reihen von Gräbern mit weißem Marmorschmuck und reicher Vergoldung. Dazwischen überall Blumen aller Art in großer Fülle, darunter besonders Rosen der seltensten Gattungen.

Wenn man sich der Moschee nähert, so befindet man sich in einem grünen Halbdunkel, denn die Zweige der hohen Bäume bilden eine einzige große Wölbung.

Bei seiner Ankunft im Hofe der Moschee fand André die drei Freundinnen noch nicht vor; er besichtigte zuvörderst den Hof, dessen hundertjährige Platanen einen recht wohltuenden Schatten verliehen, unter dem eine große Anzahl von Tauben und Störchen, ohne jede Scheu, auf dem Fußboden nach Nahrung umhersuchten, in welcher Beschäftigung sie von niemand gestört wurden.

Endlich hob sich der schwere Vorhang, der den Eingang des Heiligtums verdeckt, und die drei Erwarteten traten heraus.

»Gehen Sie voraus, wir werden Ihnen folgen,« hatte Zahide in ihrem Brief geschrieben; André ging deshalb aufs Geratewohl die unaufhörlich zwischen langen Reihen zahlloser Grabstätten führenden Wege entlang. Am Fuß des Hügels angelangt, begann er sogleich ihn zu besteigen. Einige zwanzig Schritte hinter ihm folgten die drei vermummten Gestalten, und viel weiter zurück Jean Renaud, der beauftragt war, Wache zu halten und nötigenfalls Warnungszeichen zu geben.

Sie stiegen fortdauernd, ohne deshalb die endlosen Friedhöfe zu verlassen, die alle Anhöhen von Eyub bedecken, Bald aber eröffnete sich vor ihren Augen ein Bild, wie aus »Tausend und einer Nacht«: In weiter Ferne tauchte ein entzückendes Gesamtpanorama von Konstantinopel auf, das sie bewundernd betrachteten. Und sie stiegen immer weiter, bis zum Gipfel des Hügels, der ebenfalls mit Gräbern und Denkmälern dicht bedeckt war.

Dort blieb André stehen, und die drei schwarzen Gestalten umringten ihn.

»Glaubten Sie, uns noch einmal wiederzusehen?« fragten sie ihn fast gleichzeitig mit ihren bezaubernden Stimmen und reichten ihm ihre Hände, worauf André in etwas schwermütigem Tone antwortete:

»Konnte ich wissen, ob Sie wiederkommen würden?«

»Nun wohl,« sagte Zahide, – »hier sind wir, Ihre von Angst gequälten drei armen Seelen, die aber keine Gefahr scheuen! ... Wohin werden Sie uns führen?«

»Ich denke, wir bleiben hier, wenn es Ihnen genehm ist? Sehen Sie, dieses Gräberviereck scheint wie geschaffen, um uns dort niederzusetzen. Ich erblicke niemand, auf keiner Seite. Auch habe ich ja den Fes auf; sollte jemand hier vorüberkommen, so sprechen wir türkisch; dann wird man glauben, Sie machten einen Spaziergang mit Ihrem Vater.«

»Oho!« verbesserte Zahide lebhaft; »mit unserm Gemahl, wollen Sie sagen!«

André dankte ihr lächelnd durch eine leichte Verneigung. In der Türkei, wo die Toten mit soviel Achtung umgeben sind, scheut man sich nicht, sich auf ihre Gräber und die Grabmäler aus Marmor zu setzen; viele der Friedhöfe werden wegen ihrer schattigen Alleen sogar zu Spaziergängen und als Erholungsorte benutzt.

»Diesmal«, nahm Nechedil das Wort, – indem sie sich auf einen im Grase liegenden Marmorblock setzte, – »wollten wir Ihnen keinen so entfernten Ort, wie beim erstenmal, für unsere Zusammenkunft bezeichnen; Ihre liebenswürdige Höflichkeit wäre sonst vielleicht ermattet ...«

»Für ein Abenteuer wie das unserige«, fiel Zahide ein, »ist Eyub vielleicht ein wenig schwärmerisch; aber Sie lieben ja diesen Ort, Sie fühlen sich hier fast wie zu Hause. – Auch wir lieben ihn und werden späterhin hier wirklich zu Hause sein ..., denn hier wünschen wir, wenn unsere Stunde gekommen sein wird, zu ruhen!«

André blickte die Sprecherin und ihre beiden Cousinen mit großem Erstaunen an und dachte bei sich: »Ist es möglich, daß diese drei Frauen, deren neuzeitiges Wesen er bereits erkannt hatte, die ›Madame de Noailles‹ lasen und wie die jungen Pariserinnen zu sprechen wußten, daß diese Erzeugnisse des zwanzigsten Jahrhunderts berufen sein sollten, als Muselmaninnen aus hoher Familie einst in diesem heiligen Boden zu ruhen unter allen den Toten mit Turbanen aus den frühesten Jahrhunderten in einem jener Marmorkiosks, wo man ihnen wie die anderen an jedem Abend eine kleine Nachtlampe anzünden würde?! Also immer dieses Geheimnis des Islams, mit dem auch diese Frauen umhüllt blieben, selbst am hellen Tage, unter dem blauen Himmel und beleuchtet von den Strahlen der Frühlingssonne!?«

Sie plauderten lange und lebhaft, auf den uralten Gräbern sitzend, unter den vielhundertjährigen Zypressen, mit Stämmen so dick wie die Kirchenpfeiler, deren Steinfarbe sie auch hatten, und mit ihrem wunderbaren dunklen Laubwerk, das zum blauen Himmel aufstrebte.

Die drei kleinen Freundinnen waren heute förmlich heiter, weil sie sich freuten, glücklich entkommen zu sein, weil sie sich frei fühlten für einige Stunden, und vielleicht auch, weil die Luft so frisch und rein war, gemischt mit den Wohlgerüchen des Frühlings.

In übermütigem Tone sagte Ikbal zu André:

»Wiederholen Sie doch einmal unsere Namen, damit wir sehen, ob Sie sich nicht darin verwirren werden.«

Und André, eine nach der anderen mit dem Finger bezeichnend, sagte, wie ein Schulkind, das seine Aufgabe geduldig herplappert:

»Zahide, Nechedil, Ikbal!«

»Ah! Gut behalten! ... Aber Sie müssen wissen, daß wir keineswegs so heißen.«

»Das konnte ich mir denken; um so mehr, als ›Nechedil‹ zum Beispiel ein Sklavenname ist.«

Die Sonnenstrahlen fielen jetzt voll auf die dichten Schleier, und André versuchte unter dieser scharfen Beleuchtung etwas von den Gesichtern zu erkennen; aber umsonst! – Bei seinen Forschungen fiel es ihm auf, daß die »Tcharchafs« nicht von feinster Seide und die Handschuhe nicht ganz neu waren, nicht ahnend, daß die Damen absichtlich diese Gegenstände gewählt hatten, um nicht aufzufallen.

André sagte sich also: »Vielleicht sind die armen Kleinen doch nicht die feinen Damen, für die ich sie hielt?« Da fielen aber seine Augen auf ihre höchst eleganten Schuhe und die feinen seidenen Strümpfe. Und überdies: ihr ungezwungener Anstand und ihr hoher Bildungsgrad, von dem sie bereits Proben ablegten ...!

»Haben Sie nicht«, fragte einer der drei, »seit unserem ersten Zusammentreffen Nachforschungen angestellt, um unsere Persönlichkeiten zu durchschauen?«

»Solche Nachforschungen, selbst wenn ich sie hätte anstellen wollen, wären nicht so leicht gewesen. Mir ist die Sache an sich aber auch ganz gleichgültig. Ich habe mir drei reizende, liebenswürdige Freundinnen erworben; das weiß ich, und mit dieser Sicherheit begnüge ich mich.«

Jetzt könnten wir«, sagte Nechedil zu ihren beiden Genossinnen, »ihm wohl sagen, wer wir sind? Er verdient unser Vertrauen.«

»Nein!« fiel ihr André ins Wort, »ich sähe es lieber, wenn das nicht geschähe.«

»Hüten wir uns auch, dies zu tun!« ergänzte Ikbal. »Unser kleines Geheimnis ist ja unser ganzer Reiz in seinen Augen! Gestehen Sie selbst, Herr Lhéry, wenn wir nicht verschleierte Muselmaninnen wären, wenn wir nicht bei jeder unserer Zusammenkünfte unser Leben aufs Spiel setzten, – und vielleicht auch Sie das Ihrige – würden Sie dann nicht sagen: ›Was wollen die drei Närrinnen von mir?‹ ... und würden nicht mehr wiederkommen?«

»O nein ...!«

»O ja! ... Das Unwahrscheinliche des Abenteuers und die damit verbundene Gefahr, das ist alles, was Sie anzieht!«

»Nein, sage ich Ihnen! ... jetzt nicht mehr.«

»Genug!« schloß Zahide, die sich noch gar nicht eingemischt hatte, – »erörtern wir diesen Umstand nicht weiter. – Aber, Herr Lhéry, ohne Sie in unseren Personenstand einzuweihen, erlauben Sie, daß wir Ihnen unsere wahren Namen nennen, unter Wahrung und Verschweigung unserer Standesverhältnisse. Mir scheint, daß uns dies noch mehr zu Ihren Freundinnen machen wird.« »Damit bin ich gern einverstanden,« entgegnete André. »ich hätte Sie schon selbst darum gebeten. Ein erborgter Name ist wie eine Scheidewand.«

»So hören Sie denn: Nechedil heißt ›Zeyneb‹, der Name einer frommen und weisen Dame, die einst in Bagdad die Theologie lehrte; Ikbal heißt ›Mélek‹, das heißt ›Engel‹, es fragt sich nur, wie man es wagen kann, einen solchen Namen zu tragen, wenn man solch kleiner Dämon ist wie diese da? ... Was mich betrifft, Zahide, ich heiße‹›Djenane‹ (Die Vielgeliebte), und wenn Sie jemals meine Lebensgeschichte erfahren sollten, so würden Sie sich überzeugen, welcher Hohn in diesem Namen für mich liegt! – Wiederholen Sie also: – ›Zeyneb, Mélek, Djenane!‹«

»Es ist unnötig; ich werde sie nicht vergessen. – Da Sie nun aber soviel getan haben, bleibt Ihnen noch übrig, mich über einen wichtigen Punkt zu belehren: wenn man zu Ihnen spricht, muß man Sie ›Frau‹ nennen oder wie sonst?«

»Man muß uns nicht anders nennen als: Zeyneb, Mélek, Djenane.«

»Indessen ...«

»Mißfällt Ihnen das? Nun, wenn Sie darauf bestehen, so nennen Sie uns ›Frau‹, ... uns alle drei! ... Unsere ehelichen Beziehungen stehen jedoch bereits in vollem Widerspruch mit allen gesetzlichen Formeln. – Dennoch steht die Freundschaft zwischen Ihnen und uns stets in Gefahr, keine Fortsetzung zu haben. Wenn wir uns trennen, wissen wir nicht einmal, ob wir uns jemals wiedersehen werden! Warum also wollen wir uns nicht für die kurzen Augenblicke unseres Zusammenseins der Träumerei hingeben, daß wir Ihre nahen Freundinnen sind?«

Dieser Vorschlag wurde in einer so vollkommen ehrenhaften, freimütigen Weise und in so zweifelloser Reinheit gemacht, daß André davon tief ergriffen und gerührt wurde. Er antwortete ihr:

»Ich danke Ihnen von Herzen, und ich werde Sie nennen, wie Sie wünschen. Indessen bitte ich Sie, in Ihrer Anrede mir gegenüber auch das ›Herr‹ zu beseitigen.«

»Und wie sollten wir denn sagen?«

»Ich sehe keinen anderen Ausweg, als daß Sie mich kurzweg ›André‹ nennen.«

Sogleich rief Mélek, die Vorlauteste der drei:

»Für Djenane wäre es nicht das erstemal, – daß ihr das begegnete, ... müssen Sie wissen ...!«

»Aber Mélek, ... ich bitte Dich ...!«

»Laß mich es ihm nur erzählen! ... Ja, André, Sie können nicht ahnen, wie lange wir schon in seelischem Verkehr mit Ihnen leben; besonders Djenane, die schon als junges Mädchen in ihrem Tagebuch in Form von Briefen an Sie schrieb und Sie darin allezeit ›André‹ nannte.«

»Hören Sie nicht darauf, Herr Lhéry! Sie übertreibt unverschämt, in ihrer Eigenschaft als Plaudertasche.«

»So? ... Und das Photo ...!?« entgegnete Mélek rasch, von einem Gegenstand auf den anderen überspringend.

»Welches Photo ...?« fragte André.

»Das Ihrige mit Djenane, die ein solches zu besitzen wünscht. – Laßt uns schnell damit beginnen; eine so günstige Gelegenheit findet sich vielleicht nie wieder. Djenane, setz Dich neben André!«

Djenane erhob sich mit der ihr eigenen geschmeidigen Grazie, näherte sich André und setzte sich neben ihn, ohne Miene zu machen, ihren Schleier zu erheben.

»Wie?« rief André. »Sie wollen so bleiben? Ganz schwarz und ohne Gesicht?«

»Allerdings! Als Schattenriß. Wie Sie wissen, bedürfen die Seelen keines Gesichtes.«

Mélek hatte bereits unter ihrem Tcharchaf einen kleinen Kodak neuesten Systems hervorgenommen; sie hielt ihn in Gesichtshöhe: »Tack!« eine erste Aufnahme, »Tack!« eine zweite. –

Aus Vorsicht wollte Mélek noch eine dritte nehmen, als alle zu ihrem größten Schreck eine rote Mütze und darunter ein martialisches Gesicht mit großem Schnurrbart zwischen den Grabstätten auftauchen sahen. Der Besitzer des Schnurrbartes blieb stehen, augenscheinlich höchst erstaunt, eine ihm unbekannte Sprache zu hören und Türken zu sehen, die auf einem heiligen Friedhof Photographien aufnahmen. Zwar ging er wieder fort, ohne ein Wort zu sagen, aber aus seinen Gesichtszügen konnte man die Drohung entnehmen: »Wartet nur! Ich komme wieder, und dann werden wir die Sache aufklären!« ...

Gleichwie beim ersten Mal endete auch dieses Beisammensein durch eine schleunige Flucht der drei schwarzen Gestalten. Und es war die höchste Zeit, denn am Fuß des Hügels wiegelte jener Schnurrbärtige schon das Volk auf gegen die Schänder des heiligen Friedhofes.

Eine Stunde später, als André und sein junger Freund, aus weiter Ferne spähend, sich versichert hatten, daß es den drei kleinen Türkinnen geglückt war, auf Umwegen eine der Anlegestellen des Goldenen Horns ungefährdet zu erreichen und einen Caique zu nehmen, – bestiegen auch sie beide an einer anderen Stelle eine Barke, um sich von Eyub zu entfernen.

In vollkommener Sicherheit saßen sie, fast liegend, nach türkischer Art in dem kleinen Boot und ließen sich den Golf entlang fahren, der gänzlich eingeschlossen ist von Stambul, das zu dieser Abendstunde in voller feenhafter Beleuchtung erschien. Es gibt kaum eine zweite Stadt in der Welt, die ein ebenso schönes, großartiges Schauspiel zu bieten vermag wie Stambul, dicht vor Sonnenuntergang und nach demselben.

Für André Lhéry waren solche Fahrten im Caique am Goldenen Horn entlang in früheren Zeiten ein Genuß gewesen, den er sich täglich verschafft hatte, sofern es die Jahreszeiten und die Witterung erlaubten. Deshalb trat auch jetzt die Erinnerung an jene längst vergangene Zeit und an seinen damaligen Umgang, besonders an seine liebreiche Jugendfreundin, mit größter Deutlichkeit vor seine Seele. Und ohne es sich selbst erklären zu können, verband er gewissermaßen die arme kleine Zirkassierin, die schon seit langen Jahren in ihrem jetzt so verfallenen Grabe schlief, ... mit dieser Djenane, die neuerdings in seinem Leben erschienen war. Fast hatte er das freventliche Gefühl, daß die letztere eine Nachfolge der ersteren bilden könnte, ja, er machte sich nicht einmal ein Gewissen daraus, beide miteinander zu verschmelzen.«

Aber, fragte er sich, was wollten eigentlich diese drei kleinen Türkinnen von ihm? Und wie würde dieses reizende, obgleich so gefahrvolle Spiel enden? Während der beiden bisherigen Zusammenkünfte hatten sie doch nur recht Unbedeutendes miteinander gesprochen, dennoch fühlte er sich ihnen bereits durch aufrichtige Teilnahme verbunden. Vielleicht hatten dies ihre eigentümlichen Stimmen bewirkt? Vorzüglich die Djenanes, die einen Klang hatte, als käme sie von fernher, aus der Vergangenheit vielleicht; einen Klang, der sich wesentlich unterschied von den gewöhnlichen irdischen Tönen.

Inzwischen war der »Caique« in den Teil des Goldenen Horns gelangt, in dem die altertümlichen Segelschiffe stets in gedrängter Menge ankern; buntbemalte hohe Kiele, ein unentwirrbarer Wald schlanker Masten, alle mit der Mondsichel des Islams auf ihren roten Flaggen.

Der Golf begann sich nun in den breiteren Raum des Bosporus und des Marmarameeres zu eröffnen, wo die zahllosen Paketboote erscheinen.

Und dann tauchte plötzlich die asiatische Küste in blendendem Glanz auf, und Scutari, mit seinen Minaretts und seinen Domen, rosenrot wie Korallen.

Scutari bot, wie fast an jedem Abend, die Täuschung, als lodere ein gewaltiges Feuer in den alten asiatischen Stadtteilen. Wer dieses Schauspiel zum erstenmal sieht, ohne zuvor von dem Zusammenhang unterrichtet worden zu sein, glaubt sicherlich, daß alle jene Häuser im Innern in hellen Flammen stehen.


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