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31.

Der 12. November, der 4. Ramadan, war der Tag, an dem endlich der schon seit langer Zeit beabsichtigte gemeinschaftliche Besuch des Grabes der armen Nedjibe stattfand. Dieses Unternehmen war das bei weitem gefährlichste von allen. Das Trio hatte die Ausführung bis jetzt verschoben, teils wegen der zu überwindenden Schwierigkeiten, teils wegen der langen Zeit, die dazu erforderlich war, denn der Friedhof lag sehr weit entfernt.

Am Tage zuvor schrieb Djenane an André, indem sie ihm noch ihre letzten Anweisungen erteilte: »Heute ist das Wetter so schön und der Himmel so blau, ich hoffe von ganzem Herzen, daß uns auch der morgige Tag lächeln werde!« –

Auch André hatte immer gehofft, daß diese Pilgerfahrt sich an einem der ruhigen, freundlichen Novembertage vollziehen werde, wie sie hier nicht selten sind, wo die Sonne eine solche Wärme verbreitet, daß man sich in den Sommer zurückversetzt glauben könnte. An den Abenden solcher Herbsttage erscheint dann Stambul ganz rosenrot und die gegenüberliegende asiatische Küste fast glühend, allerdings nur für eine ganz kurze Zeit vor Einbruch der Nacht, die dann die Kälte des Nordens bringt.

Doch nein! Als er morgens die Fensterläden öffnete, sah er den Himmel bedeckt und trübe, und es wehte der Wind vom Schwarzen Meere herüber. Er wußte, daß zur selben Stunde auch die drei Freundinnen durch ihre vergitterten Fenster mit Besorgnis nach dem Himmel aufblicken würden.

Man durfte indessen nicht zögern, denn die Vorbereitungen hatten so viel Mühe und Zeit gekostet, daß an einen Aufschub nicht gedacht werden konnte, und dies um so weniger, als es sehr zweifelhaft blieb, ob später die Ausführung des Planes überhaupt noch möglich sein würde. –

Zur festgesetzten Zeit, um halb zwei Uhr, befand sich André, den Fes auf dem Kopf, das Gebetbuch in der Hand, vor der Tür jenes geheimnisvollen Hauses, wo ihn, vier Tage vorher, die drei Freundinnen als falsche Odalisken überrascht hatten. Er fand sie schon bereit, in ganz schwarzer Verhüllung. Cahende Hanum, die Herrin dieses Hauses, in dem gleichen Kostüm, hatte gebeten, sich der Pilgerfahrt anschließen zu dürfen. Mithin waren es vier Vermummte, die sich der Führung André Lhérys anvertrauten. Alle waren sehr erregt und zitterten wegen der Kühnheit des Vorhabens. –

André, der unterwegs mit den Kutschern oder mit irgendeinem Vorübergehenden das Wort führen sollte, beunruhigte sich auch ein wenig wegen seiner Sprache, oder doch seines fremden Akzents.

»Sie müßten einen türkischen Namen haben,« sagten die Frauen zu ihm, – »für den Fall, daß wir genötigt sind, in Gegenwart anderer mit Ihnen zu sprechen.«

»Gut!« sagte er, »nehmen wir ›Arif‹, ohne weiter zu suchen. – In früherer Zeit machte es mir Spaß, mich ›Arif Effendi‹ nennen zu lassen; jetzt könnte ich aber wohl in einen höheren Grad aufgestiegen sein und hieße mithin ›Arif Bei‹.«

Bald darauf – ein unerhörter Fall in Stambul – spazierten gemeinschaftlich auf der Straße: der Fremde und die vier Muselmaninnen: Arif Bei und sein Harem! ...

Auf einem Platz angelangt, wo Fiaker standen, nahmen sie zwei dieser ziemlich unbequemen Wagen: einen für den Bei und einen für die vier schwarzen Gespenster. Denn der Anstand erlaubt einem Manne nicht, in den Wagen zu steigen, den die Frauen seines Harems benutzen.

Eine lange Fahrt durch die alten Stadtteile, ein Wagen hinter dem andern, bis man endlich, außerhalb der Mauern, in die großen einsamen Friedhöfe kommt, unter den schwarzen Zypressen, die in dieser Jahreszeit von vielen Raben bevölkert sind.

Zwischen dem Adrianopeler Tor und Eyub, vor den gewaltigen byzantinischen Mauern, stiegen sie aus den Wagen, da der Weg weiterhin nicht mehr befahrbar war. Zu Fuß mußten sie den Weg fortsetzen, zunächst an den Ruinen der alten Schutzwehren vorüber, durch deren Lücken man zuweilen Durchblicke auf Stambul genoß. Der Aufstieg war mühsam und schwierig, besonders für die verschleierten Damen.

André entsann sich, daß er den nämlichen Weg vor einem Vierteljahrhundert mit der armen Nedjibe gewandert war. Es war ihr einziger Spaziergang gewesen, den sie miteinander zu machen gewagt hatten. Und wie glücklich waren sie beide in ihrer jungen Liebe gewesen! Sie waren eben Kinder, die der Gefahr, die sie bedrohte, Trotz boten. – Viele, viele Jahre war das gute Kind nun schon tot, aber er, der Ueberlebende, hatte sie nicht vergessen, das bewies von neuem der heutige Besuch ihres Grabes! –

Die fünf Wanderer waren ungeachtet des scharfen, kalten Nordwindes, der ihre Gesichter peitschte, mutig fortgeschritten; sie befanden sich jetzt mitten auf dem endlosen Friedhof. Endlich erblickte man auch das Ziel der Wanderung; von weitem schon leuchteten die neuen Marmorplatten mit ihren vergoldeten Inschriften.

André machte seine Begleiterinnen darauf aufmerksam, und diese beschleunigten sogleich ihre Schritte, um möglichst bald dorthin zu gelangen.

Dicht vor dem Grabe stellten sich die schwarzen Gestalten auf, um ihr Gebet in der vom Islam vorgeschriebenen Stellung zu verrichten, nämlich: die beiden Hände vorgestreckt, offen, wie zur Bitte um ein Almosen. Sie beteten lange und inbrünstig für die Seele der kleinen Toten. Das war von André so wenig erwartet und so rührend, ... daß seine Augen sich mit Tränen füllten; und um sich das nicht merken zu lassen, wandte er sich ab, ... er, der nicht betete.

Somit war denn sein Traum erfüllt, so unmöglich das auch geschienen hatte: das Grab war erneuert und der Obhut türkischer Frauen anvertraut, die es ohne Zweifel ehren und pflegen würden. Standen sie nicht da, diese Frauen, an dem solange verlassen gewesenen Grabe, wie die Feen der Erinnerung? ... und er selbst war mit ihnen hier, mit ihnen in achtungsvoller Freundschaft verbunden. –

Als sie geendet hatten mit dem Gebet der »Fathia«, traten sie näher an die Gedächtnistafel heran und lasen die Inschrift. Zunächst den arabischen Spruch, der oben an der Platte begann und sich nach unten hinabneigte, bis zur Erde. Dann folgte:

»Betet für die Seele der Nedjibe Hanum, Tochter des Ali Djianghir Effendi, gestorben am 18. Chabaan 1297.«

Die Zirkassier haben im Gegensatz zu den Türken einen Familiennamen oder vielmehr einen Stammesnamen. Und Djenane erfuhr da, mit lebhafter innerer Bewegung, den Namen der Familie Nedjibes.

»Wissen Sie,« sagte sie zu André, »die Djianghir bewohnen mein Dorf! Sie sind vor Zeiten mit meinen Vorfahren aus dem Kaukasus gekommen; seit zwei Jahrhunderten leben sie schon bei uns!«

Das erklärte noch besser ihre Aehnlichkeit, die aus gleicher Rasse allein sehr erstaunlich gewesen wäre. Ohne Zweifel waren sie desselben Blutes, infolge der Laune eines Fürsten früherer Zeit. Und welcher Geheimnisvolle, der jetzt schon längst in Staub zerfallen, hatte, durch wer weiß wieviel Menschenalter hindurch, zwei jungen Frauen so ganz verschiedener Lebenskreise, diese seltenen, wundervollen Augen vermacht? –

Es war heute furchtbar kalt auf diesem Friedhof, wo sich die Damen schon seit einer halben Stunde ohne Bewegung aufhielten, und plötzlich wurde Zeyneb, trotz ihrer doppelten Schleier, von herzzerreißendem Husten befallen.

»Lassen Sie uns gehen!« sagte André besorgt. »Um uns zu erwärmen, wollen wir tüchtig laufen!«

Bevor sie gingen, wollte jede der Damen ein kleines Zypressenreis, mit dem das Grab bedeckt war, mitnehmen, und als Mélek, die am wenigsten Verhüllte von allen, sich bückte, um die Reiser aufzunehmen, perlten ein paar große Tränen aus ihren Augen.

André, der dies bemerkte, drückte ihr dankbar die Hand.

Bei ihren Wagen angekommen, trennten sie sich voneinander, um nicht unnötigerweise die Gefahr, beisammen gewesen zu sein, noch zu verlängern. Nachdem André sich noch hatte versprechen lassen, daß man ihm sobald wie möglich von ihrer glücklichen und rechtzeitigen Rückkunft Mitteilung machen werde, – entfernte er sich durch Eyub, Während der Kutscher die Damen durch das Adrianopeler Tor zurückfuhr.

Um sechs Uhr war André wieder in seiner Wohnung in Pera. Erschöpft warf er sich auf einen Diwan und durchlebte in seinen Gedanken noch einmal die Erlebnisse des heutigen Tages. Schließlich sagte er sich: »Nun ja, das Grab ist nicht nur wiederhergestellt, sondern auch in die zuverlässigste Pflege gegeben; aber mir ist es, als entäußerte ich mich dadurch aller Pflichten gegen die Tote, und als zerrisse ich das letzte Band, das mich noch an die Vergangenheit fesselte!« ...

Am Abend war in der Englischen Botschaft Diner und Ball, zu denen er sich begeben mußte. Es war Zeit, Toilette zu machen. Sein Kammerdiener kam, zündete die Lampen an und legte den Anzug zurecht.

André trat ans Fenster und blickte in das trübe Wetter hinaus; es begann soeben zu schneien. »Der erste Schnee!« sagte er wehmütig. – »Es schneit auch da draußen auf ihr Grab!« ...

Dann entfernte er sich vom Fenster, um sich zum Diner und zum Ball in der Englischen Botschaft anzukleiden. –

*

Am andern Morgen erhielt er den von seinen Freundinnen erbetenen Brief. –

Es waren zwei Briefe in einer Hülle; sie lauteten:

» 4. Ramadan, 9 Uhr abends.

Wir sind wohlbehalten zurückgekehrt, lieber André, aber nicht ohne Widerwärtigkeit. Es war sehr spät, die erlaubte Frist eben abgelaufen; und dann hatte eine unserer mitschuldigen Freundinnen sich aus Unvorsichtigkeit in den Finger geschnitten. Es ist ja alles geordnet worden, indessen, die alten Damen des Hauses und die alten Onkels sind mißtrauisch geworden.

Ihnen, André, sagen wir von ganzem Herzen Dank für das Vertrauen, das Sie uns erwiesen haben. Jetzt gehört dieses Grab auch uns ein wenig, und wir werden oft dorthin gehen, um zu beten, wenn Sie unser Land verlassen haben.

Heute abend fühle ich Sie so fern von mir, und doch weilen Sie so nahe! ... Von meinem Fenster aus kann ich auf der Höhe von Pera die erleuchteten Salons der Botschaft sehen, in die Sie geladen sind, und ich frage mich: wie es möglich ist, daß Sie sich zerstreuen, da wir doch so traurig sind.

Sie werden sagen, daß ich sehr anspruchsvoll bin; ... ja, ich bin es, aber nicht für mich, sondern für eine andere!

Sie sind ohne Zweifel in diesem Augenblick heiter, umgeben von schönen Frauen und Blumen. Und wir? In unserem kaum erleuchteten, kühlen und düsteren Harem weinen wir! ... Wir weinen über unser Leben! O, wie leer, wie traurig ist es heute abend noch mehr als sonst! ... Ist es, daß wir Sie so nahe fühlen und doch so fern wissen, was uns noch unglücklicher macht?

Djenane.«

*

»Und ich, Mélek, wissen Sie, was ich Ihnen jetzt sagen werde? ... Wie können Sie sich zerstreuen bei Lichterglanz, während wir vor drei von einer Zypresse gefallenen Reisern weinen? Sie liegen hier vor uns, die Reiser, in einem heiligen Kästchen aus Mekkaholz; sie haben einen scharfen, feuchten Geruch, durchdringend und traurig stimmend! ... Sie wissen doch, nicht wahr, wo wir diese Reiser gefunden haben?

... O, wie können Sie heute abend auf einem Ball sein und nicht des Kummers gedenken, den Sie veranlassen, der Herzen, die Sie auf Ihrem Lebensweg gebrochen haben? ... Ich kann nicht glauben, daß Sie an diese Dinge nicht denken, während wir, die fremden und fernen Mitschwestern, darüber weinen!

Mélek.«


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