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5.

Drei Jahre später: 1904.

André Lhéry, der in unbestimmter Weise, und mit Unterbrechungen, dem französischen Botschaftswesen angehörte, hatte nach längerem Zögern einen Posten nach Konstantinopel erbeten und für zwei Jahre erhalten.

Wenn er gezögert hatte, so geschah dies zunächst, weil jede amtliche Stellung eine Kette bildet, ihm aber viel daran lag, frei zu sein; sodann auch, weil ihm zwei Jahre, fern von seinem Vaterlande, jetzt eine viel längere Zeit zu sein schienen als früher, wo sonst sein ganzes Leben noch vor ihm lag; endlich aber, und hauptsächlich, weil er fürchtete, von der neuen Türkei enttäuscht zu werden.

Trotzdem hatte er sich dazu entschlossen; und an einem Tage im Monat März 1904, bei düsterem, winterlichem Wetter, hatte ihn ein Paketboot am Kai der einst von ihm so sehr geliebten Stadt ans Land gesetzt.

In Konstantinopel dauert der Winter gewöhnlich sehr lange. An jenem Tage stürmte der Wind rasend und eisig vom Schwarzen Meere herüber, die Schneeflocken massenhaft vor sich hertreibend. In der widerwärtigen, vom Abschaum der verschiedensten Völkerschaften gefüllten Vorstadt, die dazu bestimmt scheint, den Neuankommenden zu raten, schleunigst wieder abzureisen, waren die Straßen nichts als Pfützen klebrigen Schmutzes, in welchem zerlumpte Levantiner und räudige Hunde umherstapften.

André Lhéry, dem alle Illusionen schwanden, nahm, gepreßten Herzens, wie ein Gefangener, in einem Fiaker Platz, der ihn über kaum zu erklimmende Steigungen des Weges nach einem der elenden Gasthöfe, »Palace-Hotel« genannt, fuhr. – Pera, wo Lhérys Stellung ihn diesmal zu wohnen nötigte, ist eine jämmerliche Nachbildung europäischer Städte. Ein Meeresarm und einige Jahrhunderte trennen diese Stadt von dem großen, schönen Stambul der Moscheen und der Träume. Ungeachtet seines Gelüstes, lieber zu entfliehen, mußte Lhéry sich entschließen, in Pera zu bleiben und dort eine Wohnung zu nehmen. Im anspruchlosesten Stadtviertel ließ er sich hoch oben nieder, nicht allein um sich möglichst weit, wenigstens hinsichtlich der Höhe, von den eleganten »Pérotes«, die unten herrschten, zu entfernen, sondern auch um eine wundervolle weite Aussicht genießen zu können. Aus seinen Fenstern erblickte er das Goldene Horn mit dem vom Himmel sich abhebenden Schattenriß von Stambul und am Horizont die dunkle Linie der Zypressen der großen Friedhöfe, wo seit zwanzig Jahren unter einer gewiß längst zerbrochenen Steinplatte die unbekannte Zirkassierin schlief, die einst die Freundin seiner Jugend war.

Das Kostüm der türkischen Frauen war nicht mehr das gleiche wie zur Zeit seines früheren Aufenthaltes, das fiel ihm sogleich auf. Anstatt des früher üblich gewesenen weißen Schleiers, der beide Augen sehen ließ und der »Yachmak« genannt wurde, an Stelle eines langen Mantels von heller Farbe, »Feradje« genannt, trugen sie jetzt den Tcharchaf, eine Art von Domino, fast immer schwarz, mit einem ebenfalls schwarzen Schleier, der über das Gesicht herabfällt, alles verdeckend, sogar die Augen. Zwar erhoben einige Frauen zuweilen den schwarzen Schleier und zeigten für einen Augenblick ihr Gesicht; es schien dies aber wie eine eigenmächtige Neuerung. Abgesehen von diesen Einzelfällen, waren die Frauen noch immer dieselben Gespenster, denen man überall begegnete, mit denen jedoch jeder, auch der geringste Verkehr, verboten ist, die man nicht einmal ansehen darf; dieselben Eingesperrten, von denen man nichts weiß, die Unkenntlichen, ... ja, man könnte sagen: die Wesenlosen!... Das ist aber eben der geheimnisvolle Reiz der Türkei.

Durch eine Reihenfolge günstiger Zufälle, wie man solchen im Leben unmöglich zweimal begegnen kann, hatte André Lhéry einst, mit der Verwegenheit eines Kindes, das die Gefahr nicht kennt, sich einer Türkin so dicht, so innig nahen können, daß er ihr ein Stück seiner gefesselten Seele gelassen hatte. – Er dachte aber nicht daran, dieses mal ein solches Abenteuer zu wiederholen, und zwar aus tausend Gründen. Er ließ die Frauen an sich vorübergehen und betrachtete sie nicht anders, als man Schatten oder Wolken betrachtet. –

Während der ersten Wochen blies der Wind unaufhörlich vom Schwarzen Meer herüber, und kalter Regen oder Schnee fiel in Unmassen nieder. Das wirkte nachteilig auf Lhérys Gemüt. Um ihn zu zerstreuen, lud man ihn zu Diners und Soupers sowie in die verschiedenen Clubs ein. Deshalb war er aber doch nicht nach dem Orient zurückgekommen; er fürchtete sogar, daß dieses fortgesetzte gesellschaftliche Leben und Treiben ihm den längeren Aufenthalt in Konstantinopel gänzlich verleiden würde, und er nahm sich vor, sobald als möglich wieder fortzugehen. An seinem Posten bei der Botschaft war ihm ohnehin wenig gelegen.

Noch war ihm bis jetzt nicht so viel Zeit geblieben, um über die Brücke des Goldenen Horns bis nach Stambul zu gehen, der Stadt seiner Träume. Dies nachzuholen nahm er sich noch vor, ebenso wie eine Wanderung nach den dunklen Zypressen, nach dem Grabe seiner geliebten Redjibe, deren Andenken ihm stets heilig geblieben war.

Der Tag, an dem er zum erstenmal wieder nach Stambul gelangte, war der trübste und kälteste des ganzen Jahres, obgleich man sich schon im Monat April befand. Dennoch fühlte sich André Lhéry, sobald er die Brücke überschritten hatte und sich im Schatten der großen Moschee befand, wie neugeboren. Die Erinnerungen aus früherer Zeit tauchten wieder in ihm auf, er kannte noch alle Straßen und Wege in Stambul, als hätte er es nie verlassen gehabt. Selbst die türkischen Worte, die ihm entfallen waren, fielen ihm wieder ein, und er setzte sie in seinen Gedanken zu ganzen Sätzen zusammen. Fast kam er sich lächerlich vor mit seinem hohen Zylinderhut in dieser Umgebung; er kaufte sich deshalb in einem der vielen Läden in der Hauptstraße einen Fes, der, wie gebräuchlich, erst genau für seinen Kopf hergerichtet wurde. Auch kaufte er ein Gebetbuch, um es in der Hand zu halten, damit er den Friedhofwächtern gegenüber als echter Orientale erscheine. Denn nun hatte er Eile, zu Redjibes Grab zu gelangen. Er nahm einen Wagen und rief, um seine Kenntnis der türkischen Sprache zu zeigen, dem Kutscher sehr laut zu: »E dirne kapoussouna guetur!« (Fahr mich nach dem Adrianopeler Tor.)

Der Weg dorthin ist sehr weit; der Kutscher mußte fast ganz Stambul durchfahren, dessen Straßen oft so steil sind, daß die Pferde jeden Augenblick in Gefahr sind, auszugleiten und niederzustürzen.

Zuerst kam man durch die belebtesten Straßen in der Nähe des Basars, den die Fremden viel besuchen, und wo ein ohrenzerreißender Lärm herrscht. Dann folgten die Steppen mit dem Plateau, von wo aus man auf alle Seiten Minaretts und Dome erblickt. Und dann folgend die von Gräbern, Leichenkiosks und Fontänen eingefaßten Avenuen, die noch ganz unverändert waren.

Stambul bestand also noch immer. Und dadurch, daß er es ebenso wiederfand, wie es früher gewesen, fühlte sich André Lhéry, bebend unter einer wohligen Beklemmung, plötzlich in seine Jugend zurückversetzt; er kam sich vor, als lebe er nach langen Jahren des Selbstvergessens wieder auf.

Je mehr man sich dem Adrianopeler Tor nähert, das nur zu den endlosen Friedhöfen hinausführt, desto stiller wurde die Straße zwischen alten vergitterten Häuschen, deren Mauern schon einzustürzen drohten. Die wenigen Bewohner, die sich zeigten, trugen noch die hergebrachte lange Robe und den Turban.

Unter dem halb eingestürzten Bogen des Stadttors angekommen, lohnte Lhéry aus Vorsicht den Kutscher ab und ging allein nach dem Totenfeld hinaus, in das unermeßliche Reich der verlassenen Gräber und der hundertjährigen Zypressen. Rechts und links, in der ganzen Länge der kolossalen Mauer, die auch schon einzustürzen drohte, nichts als Gräber.

Nachdem Lhéry sich überzeugt hatte, daß der Kutscher nach der Stadt zurückgefahren sei, und daß niemand ihm folge, schlug er einen Weg rechter Hand ein, der nach Eyoub hinabführte, fortwährend unter Zypressen mit schwarzem Laub. – Die türkischen Grabsteine haben die Form von Grenzpfählen mit aufgesetztem Turban und sehen von weitem aus wie menschliche Gestalten. Aber im Laufe der Zeit fallen diese Pfähle ganz oder teilweise ein, und dann nimmt der Friedhof das Aussehen eines Schlachtfeldes an. Diesen Eindruck gewann André Lhéry auf seinem Wege. Außer einem Hirten mit einigen Ziegen, drei alten Bettlerinnen und einem Trupp herrenloser Hunde begegnete ihm niemand. Nur von Zeit zu Zeit flog eine aufgeschreckte Rabenschar schreiend in die Höhe.

Seinen einstmals zur Wiederauffindung des Grabes gemachten Aufzeichnungen folgend, forschte André Lhéry aufmerksam umher, und richtig fand er den Grabhügel seiner Nedjibe, die er in dem von ihm verfaßten Roman »Medje« genannt hatte. – Er war sicher, sich nicht zu irren, es mußte das gesuchte, ihm so teure Grab sein, obgleich es einem Trümmerhaufen ähnlich sah. Wie war aber diese Zerstörung in so kurzer Zeit möglich? so fragte er sich, denn es war kaum fünf Jahre her, daß er zum letzten Male hier gewesen. Die Steinplatten des Hügels lagen zerbrochen umher, und auf dem Gedenkstein konnte niemand mehr den Namen entziffern.

Er hatte sich zuweilen einen Vorwurf daraus gemacht, von dem Lebensschicksal der Geliebten, wenngleich unter einem falschen Namen, in einem Buche gesprochen zu haben, das von vielen Tausenden gelesen wurde. Heute jedoch fühlte er sich glücklich, es getan zu haben, weil dadurch die Teilnahme für alle ihresgleichen erweckt worden war. Er bedauerte jetzt sogar, nicht ihren wirklichen Namen genannt zu haben; wer weiß, ob dann nicht so manche Türkin, die hier auf dem Gedenkstein ihren Namen gelesen, stehen geblieben wäre und der Verstorbenen eine Träne gewidmet hätte.

Der elende Zustand des Grabes betrübte Lhéry tief, und er war sogleich entschlossen, dem abzuhelfen. Wohl wußte er, welche Schwierigkeiten das machen würde, denn in den Augen Rechtgläubiger galt es als Verbrechen, wenn ein Christ in einem heiligen Friedhofe das Grab einer Muselmanin berühren wollte; aber es mußte geschehen. Und er beschloß, noch so lange in der Türkei zu bleiben, wie notwendig sein würde, um seinen Plan auszuführen, sollten selbst Monate darüber vergehen. Er wollte erst abreisen, nachdem die zerbrochenen Steinplatten durch andere ersetzt und das ganze Grab dauerhaft wiederhergestellt sein würde.

Bei seiner Rückkunft in Pera, am Abend, fand Lhéry in seiner Wohnung Jean Renaud vor, einen seiner Freunde aus der Botschaft, einen noch sehr jungen Mann, der hier alles bewunderte, und den er zu seinem Vertrauten gemacht hatte wegen ihrer gemeinsamen Vorliebe für den Orient. Er fand auch auf seinem Schreibtisch eine große Anzahl von Briefen aus Frankreich, darunter aber einen mit dem Poststempel »Stambul«. Diesen öffnete er zuerst; er lautete:

»Mein Herr!

Entsinnen Sie sich noch, daß eine Türkin einmal an Sie schrieb, um Ihnen mitzuteilen, welche Erregung in ihrer Seele erweckt wurde durch die Lektüre von ›Medje‹, – Sie gleichzeitig um eine von Ihrer eigenen Hand geschriebene, wenngleich nur kurze Antwort bittend?

Dieselbe, inzwischen ehrsüchtig gewordene Türkin beansprucht heute noch mehr, sie will Sie selbst sehen, sie will den allbeliebten Verfasser jenes hundertmal und mit immer wachsendem Interesse gelesenen Buches persönlich kennen lernen. – Wollen Sie, daß wir uns am nächsten Donnerstag um zweieinhalb Uhr am Bosporus, auf der asiatischen Seite, zwischen Chiboukli und Pascha-Bagtsche begegnen? Sie könnten mich in dem kleinen Kaffeehause erwarten, das sich dicht am Meer befindet, genau am Ende der Bucht. In dunklen Tcharchaf gekleidet, werde ich in einem der kleinen Mietswagen, Talika genannt, ankommen und dort den Wagen verlassen. Sie können mir dann in einiger Entfernung folgen; warten Sie es aber ab, daß ich Sie zuerst anrede. Sie kennen unser Land wie unsere Gebräuche und wissen also, wieviel ich wage. Ich meinerseits weiß, daß ich mit einem Ehrenmann zu tun habe und vertraue auf Ihre Verschwiegenheit.

Vielleicht aber haben Sie ›Medje‹ schon vergessen? Und vielleicht interessieren Sie deren Schicksalsschwestern gar nicht mehr? Wenn Sie jedoch in der Seele der heutigen ›Medjes‹ zu lesen wünschen, so antworten Sie mir poste restante Galata. Und dann: am Donnerstag!

Madame Zahide.«

André reichte den Brief seinem jugendlichen Freunde und öffnete dann die übrigen Briefe.

»Nehmen Sie mich am Donnerstag mit!« bat Jean Renaud, sobald er den Inhalt des Briefes gelesen hatte. »Ich werde ganz artig sein,« fügte er in kindlichem Ton hinzu, »und sehr verschwiegen; nicht einmal aufblicken werde ich!«

»Sie bilden sich also ein, Kleiner, daß ich dorthin gehen werde?«

»Nun, gewiß! Sie wollten so etwas versäumen? – Nicht doch! ... Sie werden hingehen, nicht wahr?«

»Nimmermehr! ... Das ist eine Falle! Die Schreiberin wird ebenso türkisch sein wie Sie und ich!«

Wenn er sich so schwierig zeigte, so geschah dies ein wenig, um sich von seinem jungen Freunde nötigen zu lassen, denn im Grunde, obgleich er noch immer fortfuhr, die anderen Briefe zu öffnen, beschäftigten sich seine Gedanken, mehr als er es sich merken lassen wollte, mit dem Schreiben der sogenannten »Madame Zahide«. So unwahrscheinlich die Aufforderung zu dieser Zusammenkunft ihm auch klang, so empfand er doch denselben unerklärlichen Reiz, der ihn vor drei Jahren, beim Empfang des ersten Briefes der Unbekannten, antrieb, ihr zu antworten! – Im übrigen, wie sonderbar, daß diese Berufung auf »Medje« gerade heute an ihn gerichtet wurde, da er eben von ihrem Grabe kam, die Seele ganz erfüllt von der Erinnerung an die so früh verlorene Freundin!


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