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50.

Eine Woche später beriefen Djenane und Zeyneb ihren Freund André nach dem kleinen alten Hause in Sultan-Selim. Beide waren ganz schwarz, die Gesichter völlig unsichtbar unter den festgeschlossenen schwarzen Schleiern. Gesprochen wurde von fast nichts anderem als von der »Heimgegangenen« oder – wie sie sich ausdrückten – der »Befreiten«. André erfuhr dabei alle Einzelheiten des Lebensendes der armen kleinen Mélek. Wie es ihm schien, vergossen die Erzählenden dabei gar keine Tränen; beide waren sehr ernst, aber schon völlig beruhigt. Bei Zeyneb fand er das allenfalls erklärlich, denn sie rechnete sich selbst kaum noch zu den Lebenden. Aber über Djenanes Ruhe erstaunte er sehr. – Eine Pause in der Unterhaltung glaubte er damit ausfüllen zu dürfen, daß er in bester Absicht zu Djenane mit aufrichtiger Herzlichkeit sagte: »Ich hatte am vergangenen Freitag im Jildis Gelegenheit, Hamdi Bei kennen zu lernen; er hat ein sehr einnehmendes Benehmen, ist höchst elegant und stattlich!«

Aber sie schnitt ihm hastig das Wort ab und sagte, sich zum erstenmal ereifernd:

»Wenn es Ihnen recht ist, so sprechen wir nie mehr von diesem Mann!«

Von Zeyneb erfuhr er noch, daß man in der durch Méleks Tod so tief erschütterten Familie für den Augenblick wenigstens nicht mehr an jene Heirat dachte.

Es war richtig, daß er Hamdi Bei kennen gelernt, und daß er ihn so gefunden hatte, wie er sagte. Damals dachte er sogar bei sich selbst: »Ich bin sehr glücklich, daß der künftige Gatte meiner lieben kleinen Freundin ein so ausgezeichneter, liebenswürdiger Mann ist!« Das war nicht aufrichtig, denn es schmerzte ihn im Gegenteil, ihn getroffen, seine äußeren Vorzüge und besonders seine Jugend gesehen zu haben.

Nachdem er die beiden Freundinnen verlassen hatte, legte er wie früher den weiten Weg von jenem Häuschen bis zu seiner Wohnung in Pera zu Fuß zurück und machte dabei von neuem die Bemerkung, daß Stambul sich mehr und mehr in seinen Gebräuchen und der Lebensweise nach abendländischer Manier veränderte, und zwar zu seinem Nachteil, denn es verlor dadurch seinen Hauptvorzug: das Muster einer orientalischen Stadt zu sein! Namentlich in den unteren Stadtteilen und in der Nähe der Brücken herrschte unter der dort zusammenströmenden Menge ein so wildes, widerwärtiges Treiben, wie es in früherer Zeit dort nicht zu finden war.

Die meisten Menschen, die da ihr Wesen treiben und den Ton angeben, sind gar keine Türken, sondern eine Mischung aller levantinischen Rassen, trotz des roten Fes, den sie tragen.

»Ja, ja!« sagte André Lhéry seufzend zu sich selbst. »Es ist nicht zu leugnen, der böse Hauch des Abendlandes ist auch bis zur Stadt der Kalifen gedrungen! – Indessen«, fuhr er dann in seinem Selbstgespräch fort, »was kümmert mich das eigentlich noch? Der dreißigste November entführt mich für immer von hier! Außer dem Grabe Nedjibes, dessen Zukunft mich noch immer beunruhigt, ist mir alles übrige gleichgültig! Und ich selbst? In fünf oder höchstens in zehn Jahren werde ich eine Ruine sein; mein Leben ist im Niedergange begriffen, und die Dinge dieser Welt werden mich bald nicht mehr interessieren. Die Zeit mag ihren Wettlauf fortsetzen, der den allgemeinen Schwindel erzeugt! Möge dieser den Orient, den ich so innig liebte, mit fortreißen! Was geht das mich an? ... Mich, der ich es nicht sehen werde, und der vielleicht morgen schon das Bewußtsein, geliebt zu haben, verloren hat?!«


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