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1903

Aus der Poliklinik für Eingeborene

7. Januar

Die Zahl der schwarzen Patienten, die täglich zur Poliklinik kommen, hat im Laufe der Zeit eine ganz ansehnliche Höhe erreicht und beträgt jetzt ungefähr monatlich 100 neue Zugänge. Eine weitere Steigerung wäre mir nicht einmal um jeden Preis erwünscht, denn jetzt ist es bei dem beschränkten Räume und der primitiven äußeren Einrichtung gerade noch möglich, alle einzelnen Fälle einigermaßen gründlich zu untersuchen, zu beobachten und zu behandeln. Bei noch mehr wachsender Frequenz würde ich bald genötigt sein, wie es ja daheim in vielen poliklinischen Betrieben die Regel ist, ärztliche Momentaufnahmen zu machen.

Überrascht hat mich das große Zutrauen der Togoleute zum Messer des Arztes. Zum Teil ist es wohl der in die Augen springende Erfolg, den es herbeiführt, zum Teil auch die Anwendung der Schleichschen Anästhesie an Stelle der allgemeinen Narkose bei ernsteren Operationen. Schon mein Vorgänger hat sie hier unter den Schwarzen eingebürgert, weil sie gegen eine allgemeine Betäubung eine große Abneigung hegen. Es ist ihnen unsympathisch, in einen bewußtlosen Zustand versetzt zu werden, in dem sie nicht verfolgen können, was mit ihnen geschieht, und erst im Laufe der Jahre wird es gelingen, sie mit der Narkose zu befreunden.

Die operative Tätigkeit gestaltet sich hier zu einer Art Saisonchirurgie. Ist ein Eingriff bei einem Eingeborenen geglückt, so dauert es nicht lange, und es kommen eine ganze Reihe gleichartiger Patienten mit dem Verlangen, auch behandelt zu werden. Kurz nach der ersten Bruchoperation – Bruchleiden sind äußerst stark hier verbreitet – folgte eine ganze Anzahl weiterer. Ebenso ging es nach der ersten Hydrocelen-Operation; und nachdem sich kürzlich die erste Starblinde einer erfolgreichen Staroperation unterzogen hatte, haben auch mehrere andere Starkranke Hilfe nachgesucht.

Viele Patienten kommen in einem Krankheitsstadium zum Arzte, das man daheim niemals erlebt. Jahrelang haben sie sich mit ihrem Leiden herumgeschleppt, sei es, daß sie so lange nicht den Mut fanden, sich dem weißen Arzte anzuvertrauen, sei es, daß bis zu ihrem Dorfe die Kunde von seiner Existenz überhaupt noch nicht vorgedrungen war, sei es, daß der mächtige Fetischpriester ihnen vor dem weißen Medizinmanne Angst gemacht hatte. Kürzlich kam ein Kranker mit einer riesigen Hydrozele in Behandlung, die einen Inhalt von 3 1/2 l ergab. Der Patient hatte sich eine eiserne Kette um die Hüften schmieden lassen und an dieser einen großen Sack befestigt, in dem er jahraus jahrein seine Geschwulst mit sich umhergetragen hatte.

Alle größeren Eingriffe müssen im Operationsraume des Nachtigalhospitales vorgenommen werden. Zur weiteren Behandlung liegen die Patienten in der Poliklinik. Neuerdings gebe ich jedem Schwarzen nach der Operation eine starke Dosis Opium, und dies aus folgendem Grunde. Die Schwarzen fühlen sich selbst nach schweren Operationen in keiner Weise angegriffen und können es trotz eingehender Ermahnungen nicht verstehen, warum zu ihrer Heilung wenigstens für einige Tage absolute Ruhe erforderlich ist. Sobald sie in ihrer Klause angekommen sind, hockt gewöhnlich die ganze Verwandtschaft um das Lager herum, und es beginnt ein ausgiebiges Fragen und Erzählen. Der Operierte findet selbst nichts dabei, in einem unbewachten Augenblicke auch ruhig einmal seine Lagerstätte zu verlassen.

So hatte ich kürzlich nachmittags 5 Uhr eine recht schwierige Bruchoperation glücklich beendet. Um 7 Uhr erschien Dovi aus der Poliklinik und meldete, daß es dem Betreffenden »schlecht gehe«. Ich eilte zu ihm und stellte folgendes fest: Der brave Schwarze hatte im Vollgefühl seines Wohlbefindens bei Einbruch der Dunkelheit, also kaum eine Stunde nach der Operation, den altgewohnten abendlichen Gang nach dem Meeresstrande gemacht, um dort sein Bedürfnis zu verrichten. Bei dieser Kraftleistung hatte die Unterbindung einer Arterie nicht standgehalten, und eine lebhafte innere Blutung war eingetreten. Der Schwächezustand des Kranken hatte bei meinem Erscheinen schon einen recht bedenklichen Grad erreicht. Wir nahmen ihn sofort ins Hospital, wo ich die vernähte Wunde rasch wieder öffnete und so schnell, als es bei Lampenlicht möglich war, die blutende Arterie aufsuchte. Glücklicherweise hat dieses Vorkommnis keinerlei nachteiligen Einfluß gehabt. Um aber der Wiederholung ähnlicher Vorfälle vorzubeugen, beschloß ich, jeden Operierten in Zukunft für die ersten Tage seiner Genesung durch Opium oder Morphium außer Gefecht zu setzen.

Dieses Medikament wirkt auf Eingeborene weit nachhaltiger als auf Europäer. Nach 20-30 Tropfen der gewöhnlichen Tinktur und erst recht nach einer Morphiuminjektion schlafen sie oft 24 Stunden und länger ganz fest. Nur bei solchen, die an Alkohol gewöhnt sind, versagt leider diese prompte Wirkung. So operierte ich unlängst einen alten Bootsmann, einen strammen Säufer, sonst aber guten Kerl, am Star. Er bekam seine Opiumtropfen. Am nächsten Morgen war er trotzdem verschwunden, und alle Nachforschungen über seinen Verbleib waren erfolglos. 14 Tage später kam er freudestrahlend wieder an, um mir guten Tag zu sagen. Da ihm das Ruhigliegen und die Entziehung des gewohnten Schnapses in der Poliklinik zu lästig geworden waren, hatte er sich nachts davongeschlichen, seinen Verband abgenommen, war in ein Kanu gestiegen und hatte sich fischend und Fische verkaufend zwei Wochen lang auf der Lagune umhergetrieben. Ich fürchtete natürlich, ein völlig verlorenes Auge bei ihm vorzufinden, und war nicht wenig überrascht, als die Wunde trotz des möglichst unzweckmäßigen Verhaltens des Kranken bei voller Funktionsfähigkeit des Auges gut verheilt war.

Leider siegt nicht immer die Urkraft der Negerkonstitution über solche Unvernunft. Eine alte Frau, gleichfalls am Star operiert, wurde auf ihren Wunsch ausnahmsweise nicht in der Poliklinik, sondern in ihrer eigenen Wohnung nachbehandelt. Bei meinem ersten Besuche traf ich sie ohne Verband, ihre kurze Tonpfeife rauchend, am qualmigen Herdfeuer damit beschäftigt, die Familiensuppe zu kochen. Sie büßte ihre Sorglosigkeit mit dem Verlust des Auges ein.

Ein besonders hohes Kontingent aller Hilfesuchenden stellen die Patienten mit Ulcerationen. Diese Geschwüre, meist die unteren Gliedmaßen befallend, kommen oft in enormer Größe und in ganz unbeschreiblich vernachlässigtem Zustande zur Poliklinik, so daß bisweilen die erste ärztliche Hilfeleistung in der Entfernung der Insektenmaden, die sich in ihnen eingenistet haben, besteht. Derartige Wunden wird der Arzt daheim kaum jemals zu Gesicht bekommen. Trotzdem zeigen sie bei sachgemäßer antiseptischer Behandlung sämtlich eine große Tendenz zu rascher Heilung. Die Ursachen für diese Beingeschwüre sind mannigfache. Zunächst scheint die Oberhaut des Negers – diesen Eindruck habe ich namentlich beim Impfen gewonnen – zarter gebaut zu sein als die des Europäers, obwohl man vielleicht das Gegenteil zunächst erwarten sollte. Ferner ist der barfußgehende Eingeborene allen möglichen kleinen Verletzungen und Insulten seiner unteren Gliedmaßen ausgesetzt. Moskitostiche, Kaktusstacheln, eingetretene Steinchen, Sandflöhe, Kratzwunden verursachen eine anfänglich kleine, harmlose Wunde. Durch Unsauberkeit, unzweckmäßige Behandlung und die bekannte Indolenz des Negers nehmen sie allmählich einen bösartigen Charakter an, und erst in diesem Stadium wird ärztliche Hilfe für nötig gehalten.

Die größere Heilungskraft des Negers bei Wunden wird von fast allen Tropenärzten berichtet. Sie scheint nicht auf äußere, klimatische Bedingungen, sondern auf eine dem Neger innewohnende, spezifische Eigenschaft zurückzuführen zu sein. Beim Europäer ist in den Tropen vielfach das Gegenteil zu beobachten: ein langsames, schlechtes Heilen auch kleiner Wunden, und ein hartnäckiger Verlauf vieler Krankheiten, in Vergleich zu deren gutartigem heimischen Auftreten.

Auch Kranke mit inneren Leiden suchen die Poliklinik auf. Unter ihnen stehen an Häufigkeit obenan die malariakranken Kinder. Die Malaria gehört ja keineswegs zu den Erkrankungen, die wie Pocken oder Scharlach schon nach einmaligem Überstehen eine dauernde Immunität zurücklassen, sondern neigt im Gegenteil zu dauernden Rückfällen. Jedes Negerkind macht in seiner Jugend soundso viele Malariaanfälle durch, bis sich im Laufe der Jahre ganz allmählich eine gewisse Abschwächung der Attacken einstellt, die endlich in eine beschränkte Immunität überzugehen scheint.

Mit Kleinigkeiten kommt der Schwarze so leicht nicht an, sucht er den Arzt auf, so kann man sicher sein, daß ihm wirklich etwas fehlt. Übertreibungen und Simulationen sind nur bei Gefangenen vereinzelt zu beobachten. Wenn neben der praktischen Betätigung leider nicht immer genügend Zeit verbleibt, das reiche Material auch wissenschaftlich auszubeuten, so muß ich mich mit dem Wahrspruch trösten: Primum humanitas alterum scientia, erst der Mensch, dann die Wissenschaft. Sonst ist es in jeder Hinsicht ein Vergnügen, unter den Schwarzen ärztlich tätig zu sein. Das moderne Spezialistentum deutscher Großstädte, das für viele Ärzte die bequeme Gelegenheit bietet, eine Verantwortung, der man sich nicht gewachsen fühlt, abzuwälzen, das aber auch den Arzt um den Reiz bringt, auf dem ganzen Gebiete des medizinischen Wissens und Könnens erfolgreich zu arbeiten, kennen wir hier nicht. Auch die Dankbarkeit des Negers für geleistete Hilfe fehlt dem Arzte nicht. Wenn er sie häufig zwar nicht in klingender Münze abstatten kann, so genügen auch sein freudestrahlendes Auge und seine unbeholfenen Dankesworte, um sie erkennen zu lassen. Oft kehrte noch nach Wochen ein genesener Patient aus seinem Heimatsdorfe zurück und brachte mir als äußeres Zeichen seiner Dankbarkeit irgend etwas: ein Antilopenfell, ein Horn oder sonst etwas, wovon er annahm, daß es Wert für mich habe.

Abgesehen von der rein ärztlichen Seite bietet wohl kaum ein anderer Beruf bessere und reichere Gelegenheit, in nahe Berührung mit dem Schwarzen zu kommen, seinem Fühlen und Denken, seinen Gewohnheiten, seinen großen und kleinen Sorgen, seiner ganzen Lebensweise nachzuspüren und sich allmählich immer besser in seinen Gedankenkreis zu versetzen. Dabei wird der Arzt auch hier, selbst wenn es nur ein Schwarzer ist, dem er seine Mühe widmet, immer mehr das Ziel erreichen, im Leidenden nicht nur das Objekt ärztlicher Tätigkeit zu sehen, sondern den ganzen Menschen, der im Vertrauen auf sein Können zu ihm kommt. Oft läßt mich ein kurzes, mühsam geführtes Gespräch mit einem schwarzen Patienten einen tieferen Blick in den Seelenmechanismus des homo sapiens tun als eine lange, glatte Konversation mit einem gebildeten Europäer.


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