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Der Küstenneger und unsere Kultur

19. September

Was an schwarzen Männern und Frauen in und um Kleinpopo haust, ist kein reiner Volksstamm. Das, was sie eint, ist die Ewesprache, oder richtiger ein bestimmter Dialekt dieser über die ganze Südhälfte Togos ausgebreiteten Sprache. Schon seit langer Zeit scheint eine große Bewegung der Negervölker, vom Innern Afrikas nach der Küste zu drängend, stattzufinden, eine Bewegung, in der wir wahrscheinlich noch heute stehen. Sie hat sich kompliziert durch eine Verschiebung der nach der Küste vorgedrungenen und der dort bereits seßhaften Stämme unter sich; eine Verschiebung, die halb friedlich, halb unter Kriegsfehden sich vollziehend, ebenfalls bis zur Besitzergreifung durch die Deutschen angehalten hat. Durch das Dazwischentreten des Europäers ist sie teils zum Stillstand gebracht, teils in andere Bahnen gedrängt worden.

Vom 16. Jahrhundert an datiert die Berührung unserer Togoküste mit dem Weißen und seiner Kultur. Der Name »Sklavenküste« besagt, welcher Art hauptsächlich diese anfängliche Begegnung mit dem Europäer war. Bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts hat der Sklavenhandel hier in lebhafter Blüte gestanden. Erst dann wurde ihm durch das Eingreifen der europäischen Regierungen gesteuert.

Es scheint nicht völlig klargestellt zu sein, ob die ganze Institution des Sklavenhaltens, Sklavenverkaufes und Sklaventausches bereits vor dem Erscheinen des Europäers unter den Negerstämmen bestand, oder ob erst die Nachfrage der Weißen nach schwarzer Menschenware sie ausgebildet hat. Das erstere will mir viel wahrscheinlicher erscheinen, obwohl ich nicht bezweifle, daß die europäische Nachfrage die schändlichsten Auswüchse einer von alters her bestehenden Einrichtung zeitigte. Aber ich glaube, daß überhaupt kein Sklavenhandel möglich gewesen wäre, wenn er nicht auf einer alten Landessitte gefußt hätte. Es wird das alte Recht des Stärkeren gewesen sein, über Freiheit und Leben des Besiegten zu verfügen; und als der Europäer kam und für die Erzeugnisse seiner Kultur eine Gegenleistung verlangte, brachte ihm der Neger, was der Weiße von ihm haben wollte: Gold, Elfenbein und Menschen.

Wie tief die Überzeugung von dem Verfügungsrechte der Häuptlinge über ihre Sklaven unter den Negern wurzelte, geht daraus hervor, daß sich der Durchführung des Verbotes, Sklavenhandel zu treiben, die größten Schwierigkeiten entgegenstellten, und daß die Sklavenhändler anfänglich sogar überall von den Eingeborenen selbst gegen die Maßnahmen der europäischen Regierungen in Schutz genommen worden sind. Dieselben Schwierigkeiten haben sich der Beseitigung der Haussklaverei entgegengestellt; ja sie bestehen noch heute. Nicht nur der Häuptling erblickt begreiflicherweise darin einen Eingriff in seine Rechte, auch der Haussklave selbst ersehnt nicht die vom Europäer ihm ermöglichte Freiheit. Auch heute noch hält sich der vermögende Neger seine »Arbeiter« ohne Lohn, und im Hinterlande, wo die Überwachung keine allseitige sein kann, treffen die Stationsleiter auch jetzt noch gelegentlich auf die Spur eines bei seinem Metier gestörten Sklavenräubers. Dabei ist im Norden Togos der moslemitische Einfluß ein weiterer Grund für das Festhalten an der Sklaverei, die selbst durch ein religiöses Gebot des Propheten sanktioniert ist.

Sicher scheint zu sein, daß der Inlandsklave nicht zum Bewußtsein seiner Unfreiheit gekommen ist, sondern sie als selbstverständlich hingenommen und sich wohl in ihr gefühlt hat. Einen Teil seiner Arbeitskraft widmete er der Farm seines Herrn, den Rest seiner eigenen kleinen Farm; dafür hatte sein Besitzer für ihn zu sorgen. Gegen Hunger war er geschützt, und die Sklaverei war ihm eine sichere und bequeme Alters-, Invaliden- und Unfallversicherung.

Durch Verschiebung der einzelnen Stämme, durch Vermengung mit Sklaven, durch Berührung mit den Europäern ist im Laufe der Zeit die jetzt bestehende bunte Mischung der Küstenneger zustande gekommen. Schon im Körperbau verrät sich, daß sie nicht reinen Stammes sind. Das tiefste Schwarz der Hautfarbe wechselt mit dem häufigeren Dunkelbraun in allen möglichen Nuancen neben der geringen Zahl wirklicher Mulatten. Tätowierungen, das ursprüngliche Stammeskennzeichen, sind in den verschiedensten Ausführungen unter ihnen zu sehen und verraten die ursprüngliche Heimat ihres Trägers; bei der jüngeren, »modernen« Generation fehlen sie oft ganz. Schlanke, hagere, sehnige Gestalten sieht man ebensooft wie breite, muskulöse Typen.

Das Nervensystem der Küstenleute scheint sich noch die unveränderte Stärke eines Naturvolkes gewahrt zu haben. Geisteskrankheiten werden nur selten unter ihnen beobachtet. In einem Lagunendorfe fand ich als seltenen Vogel kürzlich eine an Tobsuchtsanfällen leidende Kranke. Sie war auf originelle Weise für ihre Umgebung dadurch unschädlich gemacht, daß man einen schweren Holzklotz um eins ihrer Fußgelenke gelegt hatte, der sie am langsamen Umhergehen nicht hindert, aber ermöglicht, daß sich jeder vor ihr in Sicherheit bringen kann, wenn sie einen ihrer Anfälle bekommt.

Bei Verletzungen und chirurgischen Eingriffen ist der hiesige Neger entschieden herzhafter und widerstandsfähiger als der Europäer. Um so befremdlicher scheint es, daß er bei inneren, selbst ganz harmlosen Leiden stets eine große Niedergeschlagenheit an den Tag legt. Wahrscheinlich beherrscht ihn auf diesem für ihn dunklen Gebiete noch der Fetischglaube und die früher oft gewiß nicht unbegründete Furcht vor einer heimlichen Vergiftung.

Erst seit der Besitzergreifung Togos durch die Deutschen findet nun eine dauernde gleichmäßige und intensivere Berührung der schwarzen Rasse mit der weißen statt, die im Begriffe ist, das Kulturbild des Negers weiter zu verändern. Allerdings reicht diese neueste Phase noch nicht weit in das Inland hinein. Auch sind die Umwandlungen, welche die Negerkultur in den letzten beiden Jahrzehnten durch uns erfahren hat, noch keine tief durchgreifenden; sie haften vorläufig wohl sämtlich nur an der Oberfläche. Trotzdem bezeichnet der Neger Kleinpopos alles, was hinter der Lagune wohnt, mit verächtlichem Stolze als »Buschneger«.

Was aber der Küstenneger freiwillig vom Europäer hier angenommen hat, beschränkt sich vielfach auf Äußerlichkeiten. Dabei ist es in vielen Fällen sehr fraglich, ob der Austausch seiner Landessitten für den europäischen Brauch überhaupt einen Fortschritt für ihn bedeutet. Greifen wir das Beispiel der Kleidung heraus. Es ist ja aus allen afrikanischen Reiseschilderungen genugsam bekannt, mit welcher Vorliebe gerade ein beliebiges Stück der europäischen Kleidung vom Schwarzen aufgegriffen wird. Hier an der Küste ist sie schon stark verbreitet und hat sich nicht nur als Festanzug eingebürgert, sondern wird auch von vielen Eingeborenen als tägliche Bekleidung getragen. Dabei ist die ursprüngliche Eingeborenentracht: ein Hüfttuch oder bei den Wohlhabenderen ein Tuch, das von den Männern ähnlich der römischen Toga um eine Schulter geschlagen, von den Frauen über die Brust geknotet wird, den klimatischen, hygienischen und praktischen Bedürfnissen des Negers weit besser angepaßt als der eng anliegende europäische Anzug. Selten ist das moderne Kostüm des Schwarzen in einer einigermaßen annehmbaren Verfassung. Wo er nicht der dauernden Beobachtung und Beaufsichtigung durch den Weißen unterworfen ist, trägt er es ohne Wechsel wochen-, selbst monatelang und arbeitet, schwitzt oder schläft je nach Bedarf in ihm. Dem Schweiß ist weniger Gelegenheit zur Verdunstung gegeben als bei seiner losen bequemen Landestracht, und allerlei Hautkrankheiten, zu denen er an sich schon neigt, sind die unmittelbare Folge. Kommt er in einen Regen, so ist er von früher her gewohnt, den Rest von Feuchtigkeit, der nicht von selbst von seiner geschmeidigen, öligen Haut herabläuft, von der Tropenwärme auftrocknen zu lassen. Hat er sein europäisches Gewand an, so legt er es nicht ab, kann es auch gar nicht, da er oft nur eins besitzt. Er behält es also in durchnäßtem Zustande auf dem Leibe, der Wind streicht durch die nassen Stücke, und die weitere Folge sind Erkältungskrankheiten, Katarrhe und rheumatische Erscheinungen, zu denen er ebenfalls an sich schon disponiert ist.

Besonders weit vorgeschrittene Neger tragen dauernd eine Kopfbedeckung, womöglich noch einen Sonnenschirm dazu. Die wirklichen »bigmen« wählen nicht etwa einen Strohhut oder eine leichte Mütze, sondern mit Vorliebe den Tropenhelm, den sie beim Europäer sehen. Durch eine Jahrtausende hindurch gesteigerte und fortgeerbte Akklimatisierung hat der Neger die uns leider fehlende Fähigkeit bekommen, barhäuptig der Tropensonne zu trotzen. Gewöhnt er sich ans Tragen unzweckmäßiger Kopfbedeckungen, so wird ihm dieser Vorzug ungleich schneller verlorengehen, als er ihn gewonnen hat. Ebenso zweifelhaft ist der Wert unserer Fußbekleidung für ihn; denn er wählt nicht die für ihn geeigneten Sandalen, sondern modernes, für seinen Fuß möglichst untaugliches Schuhwerk. Die Europäer sollten wenigstens dahin wirken, daß die Schwarzen ihrer nächsten Umgebung nichts anderes als ganz leichte, waschbare Kleidung tragen; noch verdienstvoller wäre es aber, wenn man die Eingeborenentracht zu erhalten suchte, sie vielleicht in dieser oder jener Hinsicht verbesserte, aber nicht ihre Verdrängung begünstigte.

Mit den Hosen allein zieht man dem Neger keine Kultur, sondern zunächst nur ein Stück Eitelkeit an. Beispiele dieser Eitelkeit haben wir täglich. Einen besonders originellen Fall erlebte ich kürzlich, als ein Neger mit einer schön gearbeiteten, großen Goldplombe seines Schneidezahnes – wie ich zunächst annahm – bei mir erschien. Bei näherem Zusehen entpuppte sich die Plombe als eine von einem eingeborenen Goldschmiede angefertigte, dünne, abnehmbare Kappe, die er über den ganz unversehrten Zahn geklemmt hatte.

Die des Lesens und Schreibens kundigen Neger kaufen ihre Bedürfnisse nicht nur in den hiesigen Faktoreien, sondern sind dazu übergegangen, direkte Bestellungen in Deutschland zu machen. Nichts ist begehrter als irgendein illustrierter Katalog des Europäers. Namentlich zwei Firmen sind es, die besonders oft mit Bestellungen bedacht werden. Allmonatlich treffen in Kleinpopo wohl über 100 Pakete und Paketchen ein, deren Inhalt aus Wäschestücken, Taschenmessern, Uhren, Ketten, Spiegeln, Mützchen und allerhand Plunder besteht. Heinrich trat vor einigen Tagen, stolz mit einer ganzen Reihe aus Deutschland bezogener Kotillonorden geschmückt, zum Dienst in der Poliklinik an! Früher schickten die deutschen Firmen an ihre schwarzen Kunden gegen Nachnahme. Da es aber zu oft vorkam, daß die Nachnahme nicht eingelöst wurde und das Paket zur Verfügung der Firma liegen blieb, liefern sie jetzt nur noch gegen Vorausbezahlung eines größeren Betrages. Max ertappte ich kürzlich dabei, wie er eine große Bestellung der törichtsten Sachen abfaßte in einem Briefe, der von heißen Freundschaftsbeteuerungen für die Firma J. nur so strotzte.

Sehr konservativ hat sich der Küstenneger bisher in der Bauart seiner Hütten gezeigt: niedrige Wände aus dunkelm Lehm mit weit überhängendem Dache aus Schilfgras. Nur die Wohlhabenderen, Häuptlinge und Mitglieder der Kaufmannsfamilie der de Almeidas haben nach europäischem Muster gebaut. Ziegelsteine zu brennen, haben sie vom Deutschen gelernt, und an Stelle des teuren, importierten Zementes benutzen sie vielfach einen Kalk, den sie durch Brennen von Austerschalen (die Lagune ist reich an Austerbänken) gewinnen. Der ganze Haushalt eines Küstennegers ist durchweg ein buntes Mosaikbild regellos zusammengewürfelter europäischer und afrikanischer Kultursteinchen; bald überwiegen diese, bald jene. Was er ohne große Mühe und Kosten im Interesse seines Wohlbehagens und seiner körperlichen Bequemlichkeit haben kann, schafft er sich an: primitive Bänke, Tische, Stühle, Eß- und Trinkgeschirre, Petroleumlampen usw. Besonders gern beklebt er die Wände seiner Räume mit Bildern und Plakaten, die er aus irgendwelchen Zeitschriften oder Büchern herausgeschnitten hat.

Was ist nun der Beruf aller dieser Küstenneger? Wenn man einen Schwarzen danach fragt, bekommt man ebenso wie bei der Frage nach seinem Alter, das er nie anzugeben weiß, ein Lächeln zur Antwort, als wollte er damit ausdrücken: wie kann dieser Weiße eine so törichte Frage an mich richten. Daß man einen bestimmten Beruf nach unserer Auffassung als Lebenszweck erwählt, dafür fehlt ihm noch jedes Verständnis. Der Neger kennt zwar eine ganze Menge einheimischer und auch europäischer Gewerbe und Kunstfertigkeiten. Er treibt auch Handelsgeschäfte. Aber er betreibt alles nach Bedarf; wenn er gerade Nahrung oder Geld braucht, um damit seine Bedürfnisse zu befriedigen, dann arbeitet er.

Beim Buschneger hat natürlich noch keine Differenzierung der einzelnen Gewerbe stattgefunden; derselbe Mann, der heute auf der Lagune Fische fängt, baut morgen an seiner Hütte oder bessert sein Kanu aus oder schickt Frau und Kinder zum Einsammeln von Ölfrüchten. In Kleinpopo finden wir indessen schon viele Schwarze, die ein bestimmtes europäisches Handwerk leidlich beherrschen. Hat er Geld in den Händen, so ist es häufig in törichten Ausgaben verschleudert, und er hat oft zuletzt nicht nur nichts, sondern gerät tief in Schulden, aus denen er sich nicht anders retten kann, als daß er seinen Grundbesitz veräußert, seine Verwandtschaft bürgen läßt und sich verpflichtet, die Schuld allmählich abzuarbeiten.

Der Neger stellt sich beim Erlernen eines Handwerks im ganzen nicht ungeschickt an, und in den Arbeitsstätten der Regierung, der Firmen und der Missionen finden sich sehr geschickte Zimmerleute, Schmiede, Bootsleute usw. Selbst mehrere schwarze Photographen, die gute Arbeit liefern, haben wir in Kleinpopo; einer von ihnen betreibt nebenbei die Reparatur von Uhren! Großer Beliebtheit erfreut sich das Schneiderhandwerk, das teilweise sogar unter Benutzung der Nähmaschine ausgeübt wird. So ist unser schwarzer Kasinokellner in seinen vielen Mußestunden Gelegenheitsschneider.

Unsere Aufgabe ist es, den Neger einer geregelten Arbeit zuzuführen. Es wäre eine interessante und dankbare Aufgabe, den bisherigen Spuren der Beeinflussung des Schwarzen durch uns weiter nachzugehen. Schon auf dem mir naheliegenden hygienischen Gebiete tritt sie in mannigfacher Weise zutage. Dabei scheinen mir diese Fragen von weitgehender, allgemeiner Bedeutung zu sein; denn die pekuniäre Rentabilität eines Landes wird doch in letzter Linie von ihren Bewohnern garantiert und ist nicht zum geringsten Teile davon abhängig, ob sie sich in einer aufwärtssteigenden Entwicklung oder im Niedergange befinden.

Die hygienische Beeinflussung der Küstenneger durch unsere Kultur, und für die Hinterlandsstämme Togos gilt es zum großen Teile auch, ist teils von schädigender Wirkung, auch indirekt, nicht ohne weiteres für jeden ersichtlich. Bedenken wir, um ein Beispiel herauszugreifen, daß durch den vermehrten Handel, durch verbesserte Verkehrswege, durch Expeditionen der Europäer, die immer von einer Schar Diener, Lastenträger oder Polizeisoldaten begleitet sind, schließlich durch die Heranziehung der Eingeborenen zu öffentlichen Arbeiten eine viel innigere Berührung der einzelnen Dörfer und Stämme gegeben ist, als sie früher vorhanden war. Dieser innigere Kontakt steigert aber auch unmittelbar die Gelegenheit zur Übertragung ansteckender Seuchen, deren Ausbreitung früher weniger leicht möglich war. Ich denke dabei in erster Linie an die Pocken, zu denen sich noch Lepra und geschlechtliche Erkrankungen gesellen.

Es erwächst für uns also die Pflicht, beizeiten vorbeugende Maßregeln gegen diese großen hygienischen Gefahren, die unsere Kultur für die Schwarzen mit sich führt, zu treffen, wenn anders die Negerrasse nicht einer Degeneration verfallen soll. Für die Lösung solcher Aufgaben sind freilich mehr als zwei an der Küste stationierte Ärzte für ein Land von über 1 Million Einwohnern bei allem guten Willen erforderlich.

Der Kolonialarzt muß alles können!

28. September

Ich darf der Vorsehung wohl dankbar sein, daß sie mich die Schule des heimischen Landarztes hat gründlich durchkosten lassen, ehe sie mich hierher in eine afrikanische Tätigkeit verschlug. Es mag paradox klingen; aber sie haben beide gar manche Berührungspunkte. In unseren Tagen geht das allgemeine Streben dahin, im ärztlichen Wissen und Können zu spezialisieren. Jede der medizinischen Disziplinen verfügt an größeren Orten über Spezialisten. Anders in der Landpraxis, besonders wenn sie in einem abgelegenen Dorfe ausgeübt werden muß, anders auch hier. In allen schweren, dringenden Fällen, seien sie chirurgische, seien sie innere, muß der Arzt nach eigener Entschließung handeln, und sein ärztliches Gewissen ist der einzige Kollege, den er konsultieren kann. Er hat allein alle Verantwortung auf sich zu nehmen. Hier wie dort ist es nötig, auf mancherlei Komfort des Instrumentariums und der äußeren Einrichtung zu verzichten und so gut wie möglich mit beschränkten Mitteln das zu leisten, was bei reicheren Hilfsmitteln oft rascher, sicherer und leichter zu erreichen wäre. Dort wie hier bedarf die Ausübung der ärztlichen Praxis eines festen, abgehärteten Körpers, der den Einflüssen der Witterung und des Klimas trotzt; und um nicht zu erlahmen, bedarf es neben der physischen Kraft der ganzen Freudigkeit und der ganzen Überzeugung vom Werte des erwählten, harten Berufes.

Mit Dankbarkeit gedenke ich noch oft meiner ehemaligen Lehrer, namentlich an der Kieler Universität, die uns bewußt dahin zu bringen bemüht waren, daß wir nicht nur dasjenige später verwerten und wiedererkennen lernten, was uns ein oder mehrere Male gezeigt und erläutert werden konnte, sondern daß wir uns auch bei neuen, ungesehenen Erscheinungen zurechtfanden und ihnen nicht hilflos gegenüberstanden. Wie schön ist das Bewußtsein erfolgreich geleisteter Hilfe gerade in solchen Fällen, die einem zunächst als vollständiges Novum entgegentreten und die schließlich doch durch die beiden Hilfsmittel der Untersuchung und Beobachtung in klarem Bilde vor einem stehen und dadurch einer erfolgreichen Therapie zugänglich werden.

Dies Erlebnis ist schon daheim bisweilen, ungleich häufiger aber hier in den Tropen dem Arzte beschieden; besonders häufig natürlich unter den Krankheiten der Eingeborenen. Indessen verursacht das Tropenklima auch beim Europäer – abgesehen von der alltäglichen Malaria – nicht selten komplizierte Erkrankungsformen, denen wir daheim nur selten oder gar nicht begegnen. Als Beispiel will ich Euch kurz von zwei meiner letzten weißen Patienten erzählen.

Vor etwa vier Wochen kam aus Whydah, einem Handelsplatze des benachbarten französischen Dahome, ein junger Kaufmann in unser Krankenhaus. Er klagte über allerlei unbestimmte Beschwerden, die zunächst gar keinen Anhaltspunkt für die Natur des vorhandenen Leidens ergaben. Objektiv war außer leichter abendlicher Temperatursteigerung anfänglich gar nichts zu konstatieren. Die mehrmalige Blutuntersuchung schloß Malaria, an die man hier ja immer zuerst zu denken hat, aus. Mehrere Tage lang wurde die Beobachtung des Kranken fortgesetzt, die anamnestischen Ermittlungen erweitert und vervollständigt; und schließlich baute sich ein Stein zum andern, bis endlich nach einer Woche für mich unter Verwertung aller gewonnenen Ergebnisse die Diagnose feststand: ein in der Niere oder hinter derselben sitzender Abszeß. Non salus nisi cultro. Ich schlug dem Patienten die Operation vor, die vermutete Eiteransammlung freizulegen, zu spalten und so zur Ausheilung zu bringen. Er willigte ein, und unter Schleichscher Kokain- Anästhesie ging der Eingriff glatt vonstatten. Der vermutete retrorenale Abszeß fand sich, und heute morgen ist der Kranke geheilt nach Dahome zurückgekehrt.

Der zweite Erkrankungsfall eines Europäers, der für mich den Reiz seltener Eigenart bot', war folgender. Ein Patient, der schon längere Wochen hindurch an chronischer Dysenterie gelitten hatte, kam zur Aufnahme ins Hospital. Die Erscheinungen waren tatsächlich diejenigen, die dieses Leiden verursacht. Aber alle von ihm angewandten Mittel bei strengster Diät waren erfolglos geblieben. Auch die von mir zunächst eingeleitete Kur hatte keinen merklichen Einfluß auf den Krankheitsverlauf. Da brachte mir die wiederholte Untersuchung seiner Dejektionen, die ich unterm Mikroskope nach den Dysenterieerregern durchmusterte, nebenbei einen wertvollen Aufschluß. Es fanden sich darin die Eier einer bestimmten Art von Darmparasiten, des Anchylostoma duodenale. Es sind dies kleine Eingeweidewürmer, die durch ihre Invasion zu sehr hartnäckigen und weitgehenden Störungen Veranlassung geben. Daheim machen sie in letzter Zeit durch ihr gehäuftes Auftreten in den Bergwerksdistrikten des Ruhrgebietes von sich reden. Es handelte sich hier also um eine Komplikation der tropischen Ruhr mit diesen Darmschmarotzern. Die Vermutung lag nicht fern, daß sie der Genesung des Kranken bisher im Wege gewesen waren. Nachdem durch eine entsprechende Kur die zahlreich vorhandenen Übeltäter beseitigt waren, gelangte auch die Dysenterie rasch zur Ausheilung.

Solche Erfolge gehören zu den stillen Freuden des ärztlichen Berufes. Dabei ist sowohl die Freude über den praktischen Nutzen, als auch die innere Genugtuung über die Überwindung der vorhandenen Schwierigkeiten an sich ein ärztlich ästhetischer Genuß, der seine Krone noch erhält, wenn der Patient die geleistete Hilfe dankbar anerkennt.


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