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Alltagsleben in Kleinpopo

Kleinpopo, 30. August

Meine liebe Frau!

Deine ersten Nachrichten aus der Heimat habe ich gestern erhalten und mich herzlich darüber gefreut, daß sie in allen Stücken günstig lauten. Die Ankunft eines Postdampfers ist für die ganze Kolonie ein Freudentag, den wir monatlich leider nur zweimal erleben. Ich hoffe, daß inzwischen auch meine Lebenszeichen von der Reise und mein erster Brief aus Togo bei Euch eingetroffen sind, vielleicht ebenfalls in diesen Tagen. Ich sehe im Geiste, wie Du die Bogen liest und Anne daneben das Kuvert zerpflückt und nach Art der Kinder ihres Alters in ihr Mäulchen stopft.

Daß ich mich in Gedanken täglich noch oft heimwärts flüchte, brauche ich Dir kaum zu verraten, aber es wird gehen. Der Himmel hat hier ein ewig heiteres Lachen, bisweilen sogar ein wenig aufdringlich; aber es scheint, als ob sich ein Teil seiner Wolkenlosigkeit auch auf den Menschen übertrüge. Selbst die schwarzen Togoleute sind ein harmloses, heiteres Völkchen. Du weißt, ich liebe lachende Gesichter. Warum sollte ich nicht die gleiche Wirkung auch noch an mir verspüren? Ist mir der Kopf mal voll, so pilgere ich beim Sonnenuntergang zum nahen Strande und lasse mir vom scharfen Abendwinde alle trüben Gedanken aus dem Sinn fegen. Behalte auch Du weiter den Kopf hoch, wahre Dir die Ruhe des Gemütes im Gedanken an die Unabänderlichkeit und ängstige Dich vor allem nicht um meine Gesundheit. Wenn ich an Dich schreibe, so ist es gewöhnlich des Abends, und ich sitze auf der Veranda meines afrikanischen Heimes. Ich verträume manche stille Abendstunde auf ihr, und ich glaube, sie wird mein Lieblingsplatz werden. Das Branden und Rauschen des Meeres tönt zu mir herüber, bald zürnend und grollend, bald leise plaudernd. Das geschwätzige Flüstern der langgefiederten Kokospalmen im Garten regt den Träumer an, auch Euch vom Leben in der Ferne zu erzählen. Die Gedanken fliegen über das Wasser hinweg in die Ferne, und es paart sich im Denken und Fühlen die afrikanische mit der heimatlichen Welt.

Mein Leben ist äußerlich bereits in die geregelten Bahnen einer gewissen Alltäglichkeit eingelenkt. Laß Dir kurz die Umrisse eines gewöhnlichen Tageslaufes schildern. Die Sonne geht hier unterm 6. Breitengrade mit ziemlicher Pünktlichkeit morgens 6 Uhr auf und ebenso pünktlich 6 Uhr abends unter. Eine Dämmerstunde gibt's weder früh noch abends, der Übergang der Tageszeiten vollzieht sich in wenigen Minuten. Sobald es hell geworden ist – unsere Wanduhren haben sämtlich ihren Betrieb eingestellt –, wird eine Glocke unter meinem Schlafzimmer geläutet, das Zeichen für die schwarzen Angestellten, zur Arbeit anzutreten. Ich revidiere kurz, ob sie vollzählig erschienen sind; Säumige erhalten einen Lohnabzug. Nach dieser Revue über meine Heerscharen steige ich ins Bad, dessen Luxus man sich hier täglich gönnen kann und muß. (Leider kann man sich der Haifische wegen der offenen See nicht anvertrauen.) Inzwischen hat Moritz, der früh mit seinem verschlafenen Gesicht einen besonders dämlichen Eindruck macht, den Kaffee auf der Veranda serviert. Im Anschluß daran folgt ein kurzer Rundgang durch meine Gemarkung, um nach dem Rechten zu sehen und, wo es not tut, Anordnungen fürs Tagewerk der Schwarzen zu treffen. Daran schließt sich die Krankenvisite der weißen Patienten des Hospitals.

½9 Uhr ist die Zeit fürs Frühstück angesetzt, das ich ebenso wie Mittag- und Abendbrot mit den Schwestern zusammen im gemeinsamen Eßzimmer halte, wenn wir nicht vorziehen, auf der luftigen Veranda den Tisch decken zu lassen. Freilich meint es dort der Seewind oft reichlich gut, so daß wir das Tischtuch durch Klammern vor dem Davonfliegen bewahren müssen und abends nur Lampen mit unten geschlossener Glocke, sogenannte »Brisenlampen«, brennen können. Nach dem Frühstück folgt der Gang zu der fünf Minuten entfernten Poliklinik der Eingeborenen, in der ich jeden Morgen Sprechstunde halte. Je nach der Anzahl der Hilfesuchenden nimmt sie mich längere oder kürzere Zeit in Anspruch. Sind Europäer außerhalb des Hauses krank, so schließe ich deren Besuche an und habe so bequeme Zeit, das Haupttagewerk am Vormittage zu erledigen.

Der Nachmittag steht zur freien Verfügung; das heißt, ich kann an ihm arbeiten, was ich arbeiten will. Welcher herrliche Kontrast allein schon darin gegenüber der heimischen Praxis, die einen bis zur Nacht keine Stunde Herr seiner Zeit sein läßt! Meist fülle ich ihn allerdings damit aus, daß ich mir einen oder mehrere der Patienten, die sich am Vormittage in der Poliklinik einfanden, operiere. Aber zu kleinen Streifzügen in die Umgegend, für die Pflege unseres Gartens, für interessante Untersuchungen, für Mikroskopieren, für Sammelzwecke usw. bleibt immer noch genügend Zeit zur Verfügung. Freilich mußt Du bedenken, daß man sich im Tropenklima sicher nicht die gleiche Arbeitsleistung wie daheim zumuten kann, wenigstens nicht dauernd, weder körperlich noch geistig. Ich empfinde zwar die tropische Hitze sehr wenig, und ihre Schilderungen in afrikanischen Reisebeschreibungen sind sicher meist stark übertrieben, aber eine gewisse Erschlaffung macht sich doch hier rascher geltend als im heimischen Klima.

Eine wissenschaftliche und eine Unterhaltungsbibliothek sind auch vorhanden; erstere sehr gut ausgestattet, letztere zweiter Güte, sich aus gelegentlichen Geschenken zusammensetzend, viel Bahnhofsliteratur dabei. Der wertvollste Teil letzterer stammt aus dem Nachlaß des verstorbenen Gouverneurs Köhler. Der äußere Komfort des Nachtigal-Krankenhauses übertrifft weit meine Erwartungen, und soweit es von ihm abhängig ist, wird sich's sicher sehr behaglich hier leben lassen. Die Zimmer sind anständig ausgestattet, wennschon die Möbel stark von der salzhaltigen, feuchten Seebrise mitgenommen werden. Auch die Verpflegung steht auf der Höhe. Leider sind wir zu einem großen Teil auf Konserven aus der Heimat angewiesen, die uns in monatlichen Lieferungen geschickt werden.

Die Schwestern vom Roten Kreuz sind, soweit ich bisher urteilen kann, alle drei tüchtig und mit Freude bei ihrem Berufe. Eine der Schwestern weilt schon 1½ Jahr im Lande, und die Spuren schwerer überstandener Fieber sind ihr deutlich anzusehen; aber sie setzt ihren Ehrgeiz darein, volle zwei Jahre – so lange läuft ihre Verpflichtung – auszuhalten. Das von den Schwestern zu bewältigende Arbeitspensum ist vorläufig derart geteilt, daß die afrikajüngste die Krankenpflege versieht, die älteste die Wirtschaft führt, wobei ihr ein schwarzer Koch zur Verfügung steht, und die dritte den Apothekenbetrieb sowie Laboratoriums- und Operationsdienst verwaltet.

Geselligkeit ist bei der geringen Einwohnerzahl des Ortes natürlich mangelhaft, aber ich entbehre sie nicht. Verheiratete Frauen fehlen ganz. Bisweilen kommt am Spätnachmittage ein Europäer des Ortes oder der Nachbarschaft zu Besuch; am liebsten sehe ich Dr. G., den Bezirksamtmann von Sebe, kommen, der zwar auch erst seit einigen Monaten im Schutzgebiete weilt, mir aber doch manche wertvollen orientierenden Auskünfte über allerlei mir unbekannte Verhältnisse geben kann. Oft sitze ich auch des Nachmittags ein Stündchen bei meinen Krankenhauspatienten und lasse mir außer von ihren Leiden auch davon erzählen, wie es im Hinterlande Togos oder in Dahome oder wo sie nun gerade hergekommen sind, aussieht.

Wöchentlich zweimal haben wir »Kasinoabend«. Unglücklicherweise liegt das Kasino – mit diesem stolzen Namen bezeichnen wir ein sehr bescheidenes, einstöckiges, kleines Häuschen mit einem einzigen Raum – auf dem uns entgegengesetzten Ende der Landzunge, also einige Kilometer vom Hospital entfernt. Der abendliche Weg dorthin im Dünensande gehört nicht zu den angenehmsten Promenaden, besonders nicht, wenn der Mond fehlt, und Moritz ihn mit einer vorausgetragenen Laterne ersetzen muß. Außerdem benutzt der Neger mit großer Vorliebe gerade dieses Terrain zur Verrichtung aller seiner leiblichen Bedürfnisse, und der Seewind pflegt nachdrücklich genug der Nase des Passanten diese Tatsache in Erinnerung zu bringen. Das beste am ganzen Kasino sind die sich ihm anschließende Kegelbahn und eine dort aufbewahrte Bibliothek. Was an den Kasinoabenden geboten wird, sind außer schlechten Getränken schlechte Witze – gute macht nur der dicke Postmeister H. – und neben den höheren Gesichtspunkten des »Küstenklatsches« die schwierigsten Fragen der Kolonialpolitik. Was da in kurzer Zeit alles für Weisheit ausgekramt wird, namentlich dann natürlich, wenn der unvermeidliche Alkohol der Zunge und den Gedanken die Zügel gehörig gelockert hat! Neben mancher ganz treffenden Ansicht feiert hier der koloniale Dilettantismus die tollsten Orgien. Als jüngster Afrikaner hüte ich mich aber wohlweislich, vorläufig zu widersprechen.

Du siehst, im ganzen leben wir erträglich. Auf vieles freilich, was die Heimat als etwas Selbstverständliches bietet, müssen wir hier verzichten. Dafür sind wir in anderen Dingen wieder bevorzugt. Schwer drückt mich das Bewußtsein, drei Wochen Seefahrtszeit von der Heimat entfernt zu sein, und alles, was ich nach dieser Frist aus Deutschland erhalte, nur veraltet zu haben. Die Gewöhnung allein kann Abhilfe schaffen.

Eine Bitte habe ich noch auf dem Herzen: schicke mir ab und zu ein gutes Buch. Aber ein wirklich gutes muß es sein, denn anstatt ein schlechtes zu lesen, will ich lieber eine Operation mehr machen oder ein paar Enten auf der Lagune schießen. Ich selbst kann von hier aus schwer Spreu vom Weizen unterscheiden; was Dir wirklich gefallen hat, schicke heraus; auch alle Monate einen Packen Zeitungen. Auf der Reise fand ich in der Schiffsbibliothek ein Werk von Frenssen, Jörn Uhl. Es muß demnach schon vor geraumer Zeit erschienen sein, aber bis in unser verlassenes Bergdorf war noch keine Kunde davon gedrungen. Schaffe Dir es an. Es ist in unserer Zeit des Probierens, Suchens, Tastens und der Halbheiten seit langem wieder etwas Ganzes, es atmet nordische Kraft. Warum es mir besonders gefallen hat, kann ich Dir in kurzen Worten nicht sagen, aber ich zweifle nicht, daß es auf Dich eher noch stärker wirken wird, weil es in Deinem Heimatlande spielt. Schreibe mir mal darüber.

Einige lose Tagebuchblätter und photographische Aufnahmen mit den nötigen Erklärungen lege ich diesen Zeilen wieder bei. Du wirst gewiß mit allen möglichen Fragen bedacht werden, mehr vielleicht aus Neugier als wirklichem Interesse. Je nach Zeit und Neigung will ich auch in Zukunft kleine Notizen und Skizzen niederschreiben. Vielleicht können sie Dir und anderen, denen Du sie zugänglich machen willst, nach und nach ein annäherndes Bild unseres Lebens und Strebens hier geben, und uns sind sie später eine Erinnerung an diese Afrikazeit.

Lebe wohl, der nächste Dampfer bringt Dir bald mehr. Hoffentlich geht es Euch ebensogut wie mir. Dir und der Kleinen einen herzlichen Kuß vom fernen Vater.

11. September

Vor einigen Tagen traf Dr. Sch. aus dem Hinterlande hier ein, war während dieser Zeit mein Gast und hat sich heute morgen zu einem Heimaturlaub eingeschifft. Er weilte seit 1½ Jahren in der Kolonie und verbrachte einen großen Teil dieser Zeit im Hinterlande mit der Lösung einer bestimmten Aufgabe von weittragender Bedeutung, die ihm hoffentlich gelungen ist. Das Togohinterland besitzt große Reichtümer an Rinderherden, aber der Transport dieser Tiere zur Küste ist bisher unmöglich, weil sie während desselben der Ansteckung mit einer Seuche ausgesetzt sind, der Nagana, die ausnahmslos zum Tode führt; oft allerdings erst nach langem Siechtume. Hier in Togo sowohl als in Ostafrika und Kamerun herrscht in verschiedenen Distrikten diese Tierkrankheit, die nicht nur Rinder, sondern auch Pferde zu befallen pflegt. Die Krankheit wird den Tieren vermittelt durch den infizierenden Stich der Tsetsefliege. Die unmittelbare Küstengegend selbst ist in Togo frei von Nagana.

Abgesehen davon, daß durch diese Seuche das Hinabtreiben von Viehbeständen zur Küste für Schlacht- und Exportzwecke unmöglich gemacht wird, steht sie auch ihrer Nutzbarmachung als Zugtiere für den Lastverkehr oder den landwirtschaftlichen Betrieb entgegen. Solange wir daher über keine Eisenbahnen oder mit dem Automobil befahrbaren Straßen verfügen, müssen alle Produkte die kostspielige Beförderung auf dem Kopfe des Negers über sich ergehen lassen. Es würde natürlich einen großen Gewinn für unsere Schutzgebiete bedeuten, wenn es gelänge, die Rinder und wenn möglich auch die Pferde gegen diese Krankheit zu schützen. Verschiedene Autoritäten, Ausländer und Deutsche, haben sich dieses Ziel gesteckt, ohne bisher einen sicheren Erfolg aufweisen zu können. Dr. Sch. hat nun nach eingehenden Vorstudien über Ausbreitung und Verlauf der Seuche, auf Untersuchungen Robert Kochs fußend, eine Schutzimpfungsmethode ausgebaut. Er selbst enthält sich vorläufig eines abschließenden Urteils über den Erfolg seiner Versuche, da ja erst durch längere Beobachtungszeit sich zu erweisen hat, ob die von ihm behandelten Versuchstiere dauernd gesund bleiben.

Bisher ist man der Nagana bei allen Versuchen, soweit ich selbst die Nachrichten darüber hier verfolgen kann, auf Grund der Serum- Therapie zu Leibe gegangen. Eine zweite Möglichkeit wäre die, auf medikamentösem Wege dem Ziele zuzustreben. Es wäre nicht undenkbar, daß wir ein chemisches Mittel fänden, welches die Ansteckung zwar nicht verhindert, aber die in den Kreislauf eingedrungenen Parasiten nicht zur Entwicklung kommen läßt, ähnlich wie das Chinin die Parasiten der Malaria tötet. Die Behandlung mit einem solchen Mittel brauchte zu Transportzwecken ja nur eine kurz dauernde, während der Zeit des Durchtreibens durch das Gebiet der Tsetse zu sein. Haben sie einmal die Küste gesund erreicht, so ist eine neue Ansteckung nicht mehr möglich Die Hoffnung, durch eine Serumbehandlung der Naganaerkrankung vorzubeugen oder sie zu heilen, hat sich nicht erfüllt. Dagegen hat die deutsche chemische Industrie mit dem Naganol (Bayer 205) ein Mittel zur Verfügung gestellt, mit dem sowohl eine mehrmonatige Unempfindlichkeit gegen die Infektion wie Heilung im Krankheitsbeginn erzielt werden kann..

Wenn in späteren Jahren eine Bahn in Togo bis zu den viehreichen Gegenden vorgedrungen sein wird, so ist neben vielen anderen wichtigen Fragen auch diese auf einfache Weise gelöst, denn es würde leicht gelingen, die für den Viehtransport bestimmten Wagen durch Schutz mit Drahtgaze derart einzurichten, daß ein Eindringen der Tsetsefliegen während der Fahrt ausgeschlossen ist. Leider wird aber die Verwirklichung eines solchen Bahnprojektes wohl mindestens noch ein Jahrzehnt auf sich warten lassen. Aber kommen wird sie doch. Sero sapiunt Phryges, dummodo sapiant.


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