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Die Lagune

19. August

Das Wort Lagune klingt Euch wohl nach schmutzigem, totem Wasser, nach Fieberdünsten, nach ödem Sumpf und Modergeruch. Aber eine solche Lagune ist die von Kleinpopo keineswegs. Sie ist im Gegenteil eine wichtige Lebensader für den ganzen Bezirk, ja fürs ganze Schutzgebiet. Sie stellt das vielarmige Mündungsbecken dreier stattlicher Flüsse (Schio, Haho und Mono) dar, das aber auf deutschem Gebiete keine Kommunikation mit dem Meere hat. Erst sechs Stunden ostwärts von hier, in der Nähe des französischen Grandpopo, steht einer ihrer Arme mit der See in Verbindung. Meilenweit erstrecken sich ihre anderen Arme ins Innere des Togolandes hinein, bald zu einem See erweitert, bald flußartig mit tiefem Wasser. Nur in vereinzelten, schmalen Ausläufern, die sie hie und da ausschickt, und wo ihr sonst hügeliges Ufer Flachland ist, bildet sie ein mit dichtem Gras und Schilf bewachsenes Sumpfland. Je nach der Jahreszeit wechselt der Wasserstand der zuströmenden Flüsse und damit auch derjenige der Lagune in erheblichen Grenzen.

Auf den leicht erhöhten Ufern reiht sich Dorf an Dorf, oft von ansehnlicher Größe, mit Tausenden von Einwohnern, die im lebhaften Marktverkehr untereinander stehen. Das fruchtbare Uferland wird als Farmland von den Schwarzen mit den verschiedenartigsten Kulturen bebaut, namentlich mit Mais, Maniok und Yams. Überall im Lagunengelände gedeiht die Ölpalme, besonders gut in den wasserreichen Überschwemmungsgebieten.

Dabei ist die Lagune selbst nicht tot, sie bietet ein buntes Bild regen Lebens, denn zahlreiche Kanus, das Hauptbeförderungsmittel der Eingeborenen für Personen und Produkte im hiesigen Bezirke, bevölkern ihre Fläche. In allen Größen sind sie vorhanden, vom schmalen Einsitzer bis zum geräumigen Lastkanu, das Platz und Tragkraft für eine ganze Anzahl mit Palmöl gefüllter Tonnen bietet und nebenbei noch die gesamte Familie beherbergt, die in ihm kocht, ißt und schläft. Bisweilen sind sie, ähnlich unseren Landwagen, zum Schutz gegen Sonne oder Regen mit einem Leinwanddache überspannt. Sie bedienen sich langer Stangen, mit denen sie im Kanu stehend auf den Grund stoßen und so, meist dicht am Ufer entlang fahrend, das Fahrzeug vorwärtstreiben. Vereinzelt sieht man auch ein komfortableres Boot am Lagunenufer liegen oder übers Wasser fahren, die verdeckte Gig einer Faktorei oder des Bezirksamtes. Der naheliegende Gedanke, mit einem flachgehenden Motorboote den Verkehr für den Europäer zu erleichtern, die Produkte der Eingeborenen durch Schleppen schneller und in größeren Mengen zu befördern und damit eine regelrechte Verbindung zwischen den Hauptmarktplätzen der Lagune zu schaffen, ist noch nicht verwirklicht. Die Möglichkeit dazu ist gegeben, da selbst bei niedrigem Wasserstand eine genügend tiefe Fahrrinne vorhanden ist. Für den Neger ist zwar Zeit noch nicht Geld, wohl aber für den Weißen, und auch der Schwarze würde es bequemer finden, seine Produkte einem Motorboot anzuvertrauen oder seine damit beladenen Kanus von ihm schleppen zu lassen, nicht weil er Zeit, sondern weil er mühsame und anstrengende Arbeit dabei erspart, die er von Herzen gern meiden würde, wenn er es könnte. Aber gerade an naheliegende Probleme scheint man hier vielfach mit Zögern heranzugehen. In zehn Jahren wird man vielleicht darüber lachen, warum dieser Plan nicht schon längst verwirklicht wurde.

Ebenso mannigfach wie auf der Lagune ist das Leben an ihren Ufern und in der Tiefe ihres Wassers. Zum Treiben der Schwarzen gesellt sich die große, artenreiche Fauna der Wassertiere, der schwimmenden und der gefiederten.

Krokodile kommen häufig in der Lagune vor, ein beliebtes Jagdobjekt der Europäer. Wenn man zur Zeit des hohen Sonnenstandes auf dem Wasser fährt, dann sieht man sie am Ufer im Grase liegen, oft in tiefem Schlafe, die Schnauze der Sonne zugekehrt; schwimmend verraten sie sich nur durch drei über dem Wasser sichtbar werdende Punkte: die Nase, den Stirn- und den Nackenhöcker. Als unbeabsichtigter Fang verstrickt sich ein Tier mitunter in den Netzen fischender Eingeborener und wird dann lebendig gefesselt. Die Füße über dem Rücken befestigt, die Schnauze zugebunden, bringen es die Schwarzen an einer durchgesteckten Stange tragend zum Verkaufe. Ich habe in letzter Zeit mehrere Krokodile von schwarzen Patienten bekommen. Da sie bei dieser Art des Fanges vollständig unverletzt bleiben, eignen sie sich vorzüglich zum Ausstopfen. Durch eine Strychnininjektion sind sie rasch zu töten, »Élo« nennen die Togoleute das Krokodil, »evé« eine im Ufergebüsch der Lagune lebende Rieseneidechse, den Varan. Unerschöpflich ist der Reichtum an eßbaren Fischen und Krebsen, eine mühelose Nahrungsquelle der Schwarzen, die sie reichlich ausbeuten. Teils ziehen sie große Netze über die ganze Breite der Lagune, teils stellen sie Reusen auf, teils brauchen sie Rundnetze, die sie mit großem Geschick »werfen«.

Die sumpfigen Teile des Lagunengebietes sind von Wasservögeln aller Art bevölkert. Den grauen Fischreiher, den braunen Purpurreiher und den weißen Silberreiher mit dem begehrten, wertvollen Federschmuck, sieht man oft im Grase nach Beute umherstolzieren. Eisvögel mit prächtigem Gefieder, Bekassinen, Schnepfen, Strandläufer, Enten, Kormorane und Raubvögel in großer Zahl gehören zu den stehenden Gästen. Unter letzteren ist der imposanteste der schwarzweiße Gypohierax, der Geier-Seeadler.

Zehn Minuten hinter dem Krankenhause sendet die Lagune einen schmalen Arm ins Land hinein. Dorthin pilgere ich öfters nach beendeter Chirurgie am Spätnachmittage, vertausche das Operationsmesser mit der Jagdflinte, rufe Moritz als Begleiter, der in Ermangelung eines Jagdhundes die erlegte Beute apportieren muß, und suche das Menü der Krankenhausküche zu bereichern.

Auf den weiten Grasflächen, die sich zwischen den einzelnen Lagunenarmen ausbreiten, weiden mehrere Rinderherden, der Besitz einiger wohlhabenden Eingeborenen. Im ganzen mögen es einige hundert Stück sein, aber es sind kleine Tiere. Diese Riesengrasflächen würden ganz sicher geeignete Weideplätze für stattliche Herden abgeben, deren Unterhalt beinahe ohne Kosten möglich wäre. Warum nutzt man sie nicht aus? Auch hier vermag ich die Antwort nicht zu geben. Unter Tierkrankheiten leiden die Rinder an der Küste nicht, Futter ist in unbegrenzter Fülle da, Wasser desgleichen. Warum also nicht? Absatzgebiet würde in den vieharmen Nachbarkolonien ebenfalls reichlich vorhanden sein, besonders aber wäre die regelrechte Versorgung Togos mit frischem Fleische möglich, während wir bis jetzt jeden Tag, an dem es frisches Rindfleisch gibt, als Festtag im Kalender rot anstreichen können. Auch dies, sollte ich meinen, wäre eine naheliegende Aufgabe. Wenn ich diese Weideplätze mit dem nie versiegenden Wasservorrat sehe, so muß ich immer an die trockenen, öden Flächen Südwestafrikas denken, wo sich der Viehzüchter abquält, alles Wasser mühsam zusammenzuhalten, und wo trotzdem gerade auf der Viehzucht ein großer Teil der begründeten Hoffnungen dieser Kolonie beruht. Was würden die dortigen Farmer darum geben, wenn sie dieses Weideland hätten! Und hier liegt es fast unbenutzt!

Für die Handelsfirmen Kleinpopos ist die Lagune die natürliche Zufuhrstraße des größten Teiles ihrer Exportprodukte, namentlich des Palmöls und der Palmkerne, die in den Kanus angebracht und in den Faktoreihöfen aufgestapelt werden, bis sich Gelegenheit findet, sie auf einem Dampfer zu verschiffen. Was nach Lome bisher ausschließlich auf dem Kopfe des Negers zur Küste transportiert werden kann, gelangt hier weit bequemer auf dem Wasserwege ans Ziel. Es war deshalb wohlbegründet und berechtigt, daß Kleinpopo, der von der Natur bevorzugte Ort, anfangs auch zum Sitze des Gouvernements erwählt wurde.

Doch jede Medaille hat ihre Kehrseite. Gegenüber großen Vorzügen hat die Nähe der Lagune namentlich für den Europäer schwere Nachteile: sie gilt als Quelle der Malaria. Das Leben der Europäer war gerade in Kleinpopo mehr gefährdet als an anderen Orten Togos; man sah, daß hier Fiebererkrankungen häufiger, die Verluste an Menschenleben zahlreicher waren. Es gab zwei Wege, dieser Gefahr zu entgehen: entweder das von der Natur zum Handelsplatz prädestinierte Kleinpopo zu assanieren oder es zu verlassen und unter Verzicht auf seine Vorzüge einen anderen Ort zum Regierungssitz zu machen.

Der letztere Weg wurde gewählt, und Lome erstand. Man lebte damals noch in der irrigen Anschauung, daß die Lagunenatmosphäre an sich die Malaria hervorrufen könne, so daß allerdings unter dieser Voraussetzung eine Besserung der gesundheitlichen Verhältnisse des Ortes kaum möglich erschien. Heute wissen wir, daß keine Fiebermiasmen der Lagune entsteigen, sondern daß Moskitos die Vermittler der Malariakeime vom Neger zum Weißen sind und daß die Lagune nur indirekt eine Gefahr für den Europäer birgt, indem sie den Moskitos bequeme Brutstätten bietet. Dabei ist es nicht die freie, offene Lagune, die von ihnen zum Ablegeplatz ihrer Eier benutzt wird, sondern nur die im Steigen und Fallen des Wasserstandes sich bildenden begrenzten, stagnierenden Tümpel und Pfützen.

Weit größer und direkter ist für den Europäer die Gefahr, die ihm aus der unmittelbaren Nachbarschaft der Eingeborenen und aus dem dichten Zusammenwohnen mit ihnen erwächst. Die engen, dunklen Gassen, die niedrigen Hütten mit den Strohdächern sind bevorzugte Schlupfwinkel der Moskitos; Scherben, alte Flaschen, Blechgefäße, Töpfe mit abgestandenem Wasser in den Negerbehausungen sind für die Moskitos ebenso willkommene (ja vielleicht sogar bevorzugte) Brutplätze wie die Lagunentümpel, denn an erster Stelle scheinen die Moskitos »Haustiere« zu sein. Vor allem aber ist zu bedenken, daß erst derjenige Moskito für den Europäer eine Gefahr bedeutet, der sich vorher durch den blutsaugenden Stich an einem mit Malariakeimen behafteten Neger infiziert hat. Dazu ist infolge der nahen Eingeborenennachbarschaft die ausgiebigste Gelegenheit gegeben.

So hat man die Gefährlichkeit der Lagune zweifellos stark überschätzt und unterschätzt noch heute die Gefahren, die aus der Nähe der Negerhütten erwachsen. Im englischen Lagos hat man den anderen Weg eingeschlagen: man hat den durch seine Lage für den Handel bevorzugten Ort trotz schwerer hygienischer Bedenken nicht aufgegeben, sondern ist mit großem Eifer und unter Aufwendung bedeutender Summen darangegangen, Assanierungsarbeiten vorzunehmen. Lome ist dafür zur Regierungszentrale Togos erhoben worden, und wenn auch vorläufig der Export Kleinpopos den Lomes noch übertrifft, so wird letzteres doch endlich auch Handelszentrale werden, sobald es außer der im Bau befindlichen Landungsbrücke auch noch gute Zufuhrwege und eine Eisenbahn nach dem Hinterlande erhalten hat – alles Vorteile, die Kleinpopo versagt bleiben müssen.

Es liegt eine gewisse Schicksalstragik darin, daß Kleinpopo, der Ort, der über die Hälfte aller Einnahmen des Schutzgebietes aufbringt, es geduldig über sich ergehen lassen muß, daß diese Einnahmen dazu verwendet werden, seinen Rivalen Lome zu fördern und seine eigene Entwicklung, wenn nicht zum Rückschritt, so doch zum Stillstand zu bringen. So ist heute Kleinpopo, der einstige Sitz des Gouvernements, unter allen Bezirken Togos derjenige, der zwar die höchsten Einnahmen abwirft, aber dabei die weitaus niedrigsten Summen, sei es für Straßenbau, sei es für öffentliche Arbeiten – ganz zu schweigen vom hygienischen Gebiete –, zur Verfügung gestellt bekommt.


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