Timm Kröger
Des Lebens Wegzölle
Timm Kröger

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24

Man hörte, daß heute beide Pastoren verhindert seien, und daß der Propst erst morgen kommen könne.

In der Nacht fing es wieder zu regnen an, und auch in den Morgenstunden des folgenden Tages blieb das Wetter unverändert. Hinnerk Schmidt schritt in ledernen Wasserstiefeln aus dem Hecktor seines Hofes, nach den Moorwiesen hinunterzugehen, wo das Jungvieh weidete, da kreuzte seinen Weg eine städtische Kutsche mit Hein Möller auf dem Bock. Der Wagen hielt, der Propst saß darin, der öffnete den Schlag und war sehr befriedigt, Hinnerk Schmidt zu treffen.

»Wir fahren zum jungen Heitmann«, sprach er, »seine Seele verlangt nach den Tröstungen der Religion. Wenn es Ihnen nicht ungelegen kommt, wollte ich Sie bitten, mit mir längs zu fahren. Ich muß was fragen. Sie kennen ja Land und Leute.«

»Es kommt mir nicht unpaß, Herr Propst, ich habe denselben Weg.«

Hinnerk stieg ein, und der Wagen setzte sich in Bewegung. Der Regen ließ beim Fahren nach, es fielen nur noch große, glänzende Tropfen, die Sonne warf Lichter der Hoffnung über das dampfende Feld. Der Geistliche ließ das Fenster herab und schaute hinaus. »Was für ein Bild! Die Weite, die Ebene, die Moore, die Wiesen! Und überall Opferdampf, überall des nassen Segens Überfluß und überall Wucht und Schwere!«

»Aber, Schmidt, was ich sagen wollte ... Der junge kranke Mann läßt mir sagen, ich möchte nicht säumen zu kommen, er müsse mir was anvertrauen. Welcher Art kann das wohl sein? Das hätte ich gern gewußt. Man muß den Ton darauf stimmen, es ihm leicht zu machen. Was meinen Sie – was kann das sein?«

Hinnerk Schmidt schwieg. Hinnerk Schmidt erschrak. Dräute ihm denn Tag für Tag der Herr in der Höhe mit seiner Donnerfaust? Stand nicht alles und jedes wider ihn auf?

Der Propst hatte große, graue Augen. Er las seinen Beichtkindern, sagte man, die innersten Gedanken ab, bei Hinnerk Schmidt aber las er verkehrt. Von Hinnerk Schmidts Eid und von dessen Eidessache wußte er nichts, er wußte nur, daß kein Testament zustande gekommen war. Das Stammern und Zaudern führte er auf andere Gründe zurück.

»Selbstverständlich«, bemerkte er, »bleibt das, was wir hier sprechen, unter uns.«

Wenn es einen Menschen gibt, der helfen kann, dachte der Bauer, dann ist es der Propst. Klaus wird falsch geschworen haben, nun, da er den Fuß ins Jenseits setzt, schaudert ihn. Ich will dem Propsten sagen, was ich weiß, ich will ihn fragen, wie man die Sünde büßen kann, wenn sie überhaupt abzubüßen ist.

Mehr und mehr verdüsterte sich das Bild der Tat vor Hinnerks Gewissen. Wie war er frei gewesen, als er vom Gericht heruntergekommen, seine Geschäfte in der Stadt gemacht, als er mit Jaaks gescherzt, von dem er die Kutsche kaufte, als er im Weißen Roß mit Elend gewürfelt hatte! Wer hatte ihn jemals am Spieltisch gesehen, wer mit einem Würfelbecher in der Hand? Er hatte sich dabei täppisch benommen, den Becher gehoben, als sei es eine Wurfschaufel ... die knöchernen Dinger waren vom Tisch hinunter in die Stube gerollt.

»Wenn Sie was wissen, sagen Sies nur frei heraus!« ermunterte der Geistliche.

Und endlich fand Hinnerk Schmidt das Wort. »Man schnackt allerlei.«

»Was schnackt man denn?«

»Er hat sich von einer Dirne frei geschworen.«

»Und da meint man, es könnte mit dem Eid nicht in Ordnung gewesen sein?«

»Einige sagen so, andere anders.«

»Wie war denn die Sache?«

Da erzählte Hinnerk Schmidt, was er wußte. Daß er selbst auch von der Rühmann herangekriegt worden war, das erzählte er nicht, das war ja nicht nötig.

Und wie er redete, saß er zitternd und fröstelnd und mit bebender Seele vor dem Mann, dem er eine Art Vertretung des Jenseits und eine gewisse Schlüsselgewalt zur Himmelskammer beimaß. Ob man, wenn man falsch geschworen habe, im Höllenpfuhl ewig brennen muß? Er wollte den ›Priester‹ danach fragen.

Hinnerk wollte fragen, konnte aber lange nicht. Kinn und Lippen kamen in krampfhafte Bewegung, wenn seine Gedanken nach Wort und Bild rangen. Schließlich brachte er es aber doch heraus: »Kann der, der falsch Eid getan hat, noch selig werden?«

Der Geistliche antwortete nicht gleich, Hinnerk Schmidt zweifelte, ob er gehört und verstanden worden sei. Der Propst schloß die Augen und murmelte: »In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen.« Hatte er gehört? Sein Gesicht wandte sich voll und fragend dem Bauern zu: »Was meinten Sie, Schmidt?«

Und noch einmal stammelte der Angeredete: »Ob ein falscher Eid vergeben werden kann?«

Der Geistliche wiegte sein Haupt. Es war ein volles, lockiges, graues Haupt. »Nach der Schrift können alle Sünden vergeben werden, nur nicht die wider den Heiligen Geist.«

»Ist das der falsche Eid?« fragte Hinnerk leise. Seine Hoffnung, seine Verzweiflung hing an dieser Frage.

»Sie schürfen tief, Schmidt, Sie pochen an die größten Rätsel unserer Lehre. Ja, was ist Sünde wider den Heiligen Geist? Darüber ist viel geredet und geschrieben worden. Wir stehen und bekennen: wir wissen es nicht. Ich denke so: Allen kann vergeben werden, nur nicht denen, die ihr Herz und ihr Gewissen vorsätzlich verhärten.«

Hinnerk Schmidt wurde froh, als er das hörte. Die Stimme des Gewissens vernahm er Tag für Tag und Stunde für Stunde, und er war bereit, sie zu vernehmen, Tag für Tag und Stunde für Stunde.

Die vorsätzliche Ertötung des Gewissens, die vorsätzlich herbeigeführte Herzenshärtigkeit – das ist die Sünde wider den Heiligen Geist, die allein kann nicht vergeben werden. Alle anderen Fehler und Sünden gehen in dem großen Erlösungswerk auf.

Das Frösteln und Beben war vorüber. Hinnerk Schmidt hörte sogar jauchzende Stimmen in seiner Seele. Und wenn er noch etwas hinzufragte – eigentlich war es ganz überflüssig, aber er wollte es doch tun. Er fragte: »Alle anderen Sünden werden vergeben, auch der falsche Eid?«

»Die anderen Sünden können, und auch der falsche Eid kann vergeben werden: Aber der Sünder muß in aufrichtiger Zerknirschung ...«

›In aufrichtiger Zerknirschung‹, dachte Hinnerk Schmidt, ›das stimmt bei mir‹.

»In aufrichtiger Zerknirschung«, fuhr der Pastor fort, »bereuen, Besserung geloben und sich auch wirklich bessern.«

›Jawohl, wirklich bessern‹, gelobte Hinnerk Schmidt in seinem Herzen.

»Dazu gehört vor allen Dingen, an äußeren Werten wieder gut zu machen, was gut zu machen ist. Wer um Geld und Geldeswert einen Eid geleistet hat, gebe mit Zins und Zinseszinsen dem, der dadurch Schaden erlitten hat! Wer aus falscher Ehrsucht unrichtig geschworen hat, der demütige sich doppelt. Und vor allem gebe einer, der so schwere Sünden auf sich geladen hat, der weltlichen Obrigkeit, was der weltlichen Obrigkeit gebührt. Er bitte um Strafe und nehme sein Kreuz in Demut auf sich.«

Als Hinnerk Schmidt das hörte, wollte der Jubel schier verstummen. Anders als der Pastor sagte, konnte es gar nicht sein, und doch hatte er diese Seite der Sache noch nicht scharf beleuchtet. Er fühlte, es sei doch eine eigene Sache, die Fülle der in den Staatsschuldverschreibungen (die losen Zinsscheine gar nicht mitgerechnet) enthaltenen Macht hinzugeben und dazu noch zwei Prozent Erbschaftssteuer zu zahlen. Und dann das Schwerste ... die Strafe, der Verlust der Ehre, die Nacht des Kerkers und die Schmach.

»Brr!« klang es vom Bock, der Wagen hielt. Hein Möller öffnete den Schlag.

Sie waren am Rande des wilden Moores vor der Heitmannkate.

Der Regen hatte aufgehört; aber rund um die Hauswand herum plätscherte die Traufe vom Strohdach. Dicht am Häuschen ein kleiner Garten mit Sonnenblumen und Bauerrosen, ein paar urbar gemachte, durch einen Wall eingefriedigte Felder; weiße, sanfte Birken darauf, das einzig Erwärmende einer fröstelnden Umgebung. Dicht hinter Garten und Koppeln dräute das Moor. Wie ein schwarzes, wie ein schweres Gewissen, dachte Hinnerk Schmidt.

Mutter Heitmann stand mit verweintem Gesicht an der Pforte: »Herr Propst ik glöv, dat ward hoch Tied.«


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