Timm Kröger
Des Lebens Wegzölle
Timm Kröger

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8

Mondlicht lag auf der weißen Firn der Dünenkette, als die Gräfin von Birkenrade die vom Winde verschüttete, tiefsandige Wagenspur, die sich durch das Dünengebirge wand, durchwatete.

Die Glocke des neuen Turmes von Siethfelde hatte in zwölf dumpfen Schlägen die Mitternachtstunde verkündet (der Klang war andeutungsweise in der klaren Mondnacht herübergezittert), als sie unbemerkt die Wohnung verlassen hatte und mit behutsamen Schritten durch die Ortschaft gewandert war. Wo Steinpflaster bei den Gehöften den weichen Wegboden unterbrochen, hatte sie ihre Schritte nach Möglichkeit gedämpft und sie war unbemerkt vorübergeglitten. Einige Male hatten Hunde angeschlagen und an der Kette gezerrt. Bei Peter Kölln war das Fenster erklungen, eine Zipfelmütze an der Fensterbrüstung erschienen: »Kusch di, Hektor, wat tierst di?«

Bald lag die letzte menschliche Wohnung hinter ihr. Es war eine einsame Kate am Heideweg, der zur Düne leitete. Dort wohnte der Weise des Dorfes, Kaspar Schulz, dessen kaustischer Humor sie erfreut hatte.

Mannslist ist behend,
Frugenslist awer ohn End –

so klang es noch vom Nieburbeer her in ihrem Ohr.

Mit entscheidenden Schicksalswendungen verbinden sich kleine, kriechende Gedanken. So gedachte die Gräfin wunderlicherweise auf ihrem letzten Gang der Sinnsprüche des Kaspar vor seinem Hause. Ihr Auge umfaßte die vom Zwielicht des Mondes umflorte ärmliche Wohnung, die Esse, die blinkenden Fenster, sie gaben Zeugnis, daß auch dieses Heim Vertreter der Welt umfriede, in der sie so lange gelebt hatte.

Für einen Augenblick fühlte sie sich ermüdet. So rastete sie am Schlagbaum der Koppel. Kaum wagte sie ihre Augen von dem Frieden, dem letzten irdischen, den ihr Auge sah, zu lösen. Ein langer Scheidegruß, den Handewitt empfing.

Vorbei!

Sie war in der Welt der Dünen.

Eine lange, gleißende, im steten Winde reisefertige Bergkette. Blaßgrüner Sandhafer, der binsengleich emporgerichtet ist, oder Büscheln vergleichbar in langen Strähnen herabfällt, hat Mühe und Not, das Gebirge vor den Stößen des Westwindes dort festzuhalten, wo ein verschollenes Meer es aufgewühlt hat. Hier also hauste der Dünengeist, das kleine Männchen in erdfarbenem Rock und hohen Sandstiefeln, die grünen, funkelnden Nixaugen in tiefen Höhlen des faltenreichen Gnomengesichts. Sandhafer wächst auf unförmigem Schädel und umrahmt weich herabwallend das launig gekniffene Kinn.

Das alles flog durch ihre Seele, ohne den Reiz des Grauens. Wer den Fuß ins Leere zu setzen entschlossen ist, der ist vor Schauder gefeit. Und an der Biegung der vor ihr dämmernden Wegwindung erwartete sie der Dünengeist in eigener Person, und nichts schien ihr natürlicher als das. Das faltige, starre Borstengesicht, das grüne Auge, sie sah es genau. Und ohne Furcht näherte sie sich der Erscheinung. Die stützte sich auf einen soliden Wanderknotenstock und bewegte die Hand zum Gruße. Was war da zu verwundern? Hatte doch der Gnom, der Sage nach, das ganze Dorf unterwühlt und unter jedem Hause sein Lauscherplätzchen. So kannte er jeden Dorfseingesessenen genau.

Aber im Weitergehen löste sich alles vor ihren Augen auf. Das Binsenhaar wuchs als steifer Hafer am Rande des Hügels, und darunter strähnte der lange Büschel des Barts. Im reichlichen Regengeriesel der Dünenwandung leuchtete und schattete der trügerische Mond.

Sie schritt vorüber, wie ein Wanderer, der einer langen Tagereise gedenkt. Aber neben sich hörte sie den unsichtbaren Schritt des Gespenstes. Und als sie das Vorland hinter dem Gebirge durchmaß, der Salzflut entgegen, deren Brise über die Weiden strich, vernahm sie die Stimme des Geistes – ein tiefes, wohlklingendes, mildes Organ.

Er beglückwünschte sich zu der Begleitung, denn auch ihn treibe die Sehnsucht nach dem ewigen Meer. Im Nebel versuchte er, sich zu zeigen. Aber es war nicht mehr der Dünengeist, die Todbereite sah ihr verklärtes Selbst. Für einen Augenblick ... dann nahm der Morgenstreif den Nebel hinweg.

 

Am Strande wartete sie, bis die Sonne erschien.

Und als das Tagesgestirn Morgenrot und Nebel durchbrach, beleuchtete es ein wogendes, brausendes, unendliches Meer. Sonnenpfeile jagten die Wassernebel von den Sandbänken hinaus zur schaumspritzenden Flut. Dort schaukelten Schwärme von Möven, und am Horizont tummelte ein Volk behender Delphine.

Die uferlose Unendlichkeit vor sich, schritt sie mutig in den Tod. Die Wellen ergossen sich über ihren Fuß, umschlossen stürmischer Leib und Brust. Und als die Flut Brust und Herz umschmeichelte, watete sie mit erhobenen Armen zur Freiheit hinan. Eine große, grüne Woge mit weißer Krone nahm sie hinweg, überschlug sich in Schaumspritzen und Entzücken, und herzte und wiegte und schaukelte den köstlichen Fund.

Das Meer ließ sie lebend nicht mehr. Wogen und Wellen wälzten heran, hoben die tote Gräfin auf grünliche, schäumende Gipfel und versenkten sie tief in rauschende Flut. Sie schleuderten sie auf weiche Sandbänke und zogen sie langsam zurück ins gähnende Meer.

Auf bunten Muscheln und wellenartig geripptem Sand ließen sie sie. Eine weiße Schaumflut staute noch einmal zurück und warf sich über das bleiche Gesicht. Aber schon grollte das gurgelnde Meer, rief die Wasser zurück und zog den Atem ein.


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