Timm Kröger
Des Lebens Wegzölle
Timm Kröger

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7

Bei den Begräbnisfeierlichkeiten war noch gutes Wetter, und warmes Sonnengold fiel durch die Dielenfenster auf die lange Festtafel der ortsüblichen Grabmahlzeit. Aber gleich darauf sank die Quecksilbersäule, da kamen regenschwere Stürme auf, da brachen sie vom Moor her über das Dorf herein.

Die für jene Gegenden so wichtige Heuernte war gefährdet, die Bauern sahen es ohne Verdruß und ohne Ärger, zumal Hinnerk Schmidt. Was der Himmel sündigte, fiel nicht in den Kreis seiner Verantwortung, fiel nicht ihm zur Last. Wenn Hinnerk mitn Fellerbüdel die Federn seiner Gänse aufsammelte oder die Schubkarre hinter seiner Herde hergehen ließ, dann gehorchte er nicht anders dem Zwange einer Pflicht, als wenn er mit der Sense die letzten Sumpfgräser am Rande der tiefen Au wegschnitt. Es war nicht ohne Gefahr, der alte Fehrs war dabei ertrunken. Das machte nichts aus, dafür war er ein getreuer Knecht, es war sein Amt. Die Leitung des Wetters hatte der liebe Gott sich vorbehalten, ließ der auf sein schönes Heu regnen, dann hatte nicht er schuld; an ihm war es nur, zu kehren und zu wenden und so gut zu bergen, wie es die Umstände zuließen.

Gleich nach dem Todesfall war der Sekretär des Amtsgerichts gekommen, hatte Peters Nachlaß aufgeschrieben und dann an Hinnerk Schmidt zur Verwahrung anvertraut. So sei die Vorschrift, weil ein Miterbe außer Landes sei. Sobald dieser einen im Lande ansässigen Bevollmächtigten bestellt habe, werde der Nachlaß freigegeben werden. Von dem, was in der Stahlkiste sich befand, war nicht die Rede gewesen, und in Hinnerk Schmidt hatte auch nicht die leiseste Stimme zu behaupten gewagt, daß er das angeben müsse.

Nach festem Brauch wird in der Kirche für das selige Ableben eines Entschlafenen gedankt, das zog sich hin, weil Hinnerk geglaubt hatte, es komme von selbst, während er Antrag stellen und Gebühren und Kosten dafür zahlen mußte. Nun hatte er es aber nachgeholt, und nun stieg der Dank durch des Priesters Mund zum Herrn empor.

Und Hinnerk und Maleen saßen unter der Kanzel, sie im Frauenstand, er im Männerstand. In Gebeten und Danksagungen klang die Predigt aus. Hinnerk folgte dem Dankgebet für das Unsterbliche seines geliebten Bruders mit fest gefalteten Händen. Je fester man die Hände bindet, um so vorbehaltsloser ergibt man sich der Gnade Gottes. Er flocht und preßte die Finger, obgleich er hoffte, sein Bruder habe die Fürbitte nicht nötig. Wenn irgendeiner, so stand dieser Dulder rein vor Gottes Richterstuhl. Aber, soweit in seinem Vermögen lag, wollte Hinnerk dem Verewigten doch helfen.

Und wer wußte denn gewiß, wie der Verblichene vor dem Ewigen bestehe? In seiner Predigt hatte der Propst eine Lehre verkündigt, die Hinnerk neu war und ihn beinahe erschreckt hatte. Der Kreis unseres sittlichen Dürfens, hatte er ausgeführt, decke sich nicht mit dem weiten Kreis des von dem Staat abgesteckten Beliebens. »Wie, fragt mancher, ist das, was ich nehme, was ich tue, wenn die Gesetze es erlauben, nicht mein Recht? Wie komme ich dazu, mich in meinen gesetzlichen Befugnissen einschränken zu lassen? Kann das, was das Gesetz gestattet, mir als Sünde angerechnet werden? Ich sage: Ja, es kann. Es kann die Ausübung eines Rechtes schwere Sünde sein. Du gehst hartherzig an der Armut vorüber – es ist dein Recht, aber es ist Sünde. Du gehst an einem Wasser vorbei, es kämpft jemand mit den Wellen, du kannst retten, ohne dich selbst in Gefahr zu bringen. Aber du tust es nicht, du gehst vorüber. Wer wagt es, dich zu schelten, bist du nicht in deinem Recht? Wer wagt es? Ich wage es, ich sage: Du bist ein hartherziger Sünder.«

Das und anderes hatte der Propst gesagt, eine Flut von Beispielen hatte sich über die Gemeinde ergossen, die ganze Stufenfolge von der Bosheit und der Hartherzigkeit an bis zu den Fällen, wo man gegen Anstand und Sitte verstößt und doch nur tut, was man darf. Und dann ging es an die Untersuchung der schwankenden Grenzen formeller Befugnisse. »Kannst du in allen Fällen sagen: das ist mein Recht? Wer wagt es, sich allezeit mit der Gewißheit zu brüsten, er sei im Recht? Frage einen Rechtsgelehrten: Du wirst öfter den Zweifel, ob du im Recht seiest, als Gewißheit mit nach Hause nehmen, und nicht zu oft liegt die Sache so, daß du bestimmt weißt, du darfst. Wenn du aber nimmst oder behältst, obgleich du zweifelst, so nimmst du das Unrecht in deinen Willen auf, und es hängt nur von dem Zufall ab, ob du es auch äußerlich begehst. Das weltliche Recht ist, wie du siehst, unsicher; sicher und gewiß ist aber dein sittliches Dürfen. Denn dafür trägst du den Wertmesser in deiner Brust: die Stimme des Gewissens. Deshalb, o Menschenkind, rüttele dein Gewissen auf, daß es wach bleibe und nicht schlafen gehe. Frage dein Gewissen und lausche, was es sagt! Und wenn es auch nur zögert und stammelt, dir zu sagen, du seiest nach den Vorschriften des Staats und Gottes im Recht, und du hörst nicht die in solchem Stottern und Zögern enthaltene Warnung, oder tust gar das, was zu tun die innere Stimme untersagt, dann wandelst du in Schuld und Sünde.«

So ungefähr hatte der Propst gepredigt. Hinnerk war dabei zumute, als wenn er auf ihn ziele. Hörte er immer auf den Warner und Tadler in seiner Brust? War er wirklich im Recht vor Gott und vor der Moral oder auch nur vor der Welt? – Hinnerk Schmidt fühlte sich beklommen, er schob es auf die hallende Kirchenluft und hoffte, es werde vergehen, wenn er wieder im Freien sei.

Zur Hälfte war es schon Erlösung, als die Gemeinde die Schlußverse sang.

Klingling! Klingling! – Der Klingelbeutel.

Er kam vom Altar her. Die Kirchenjuraten, die sonst mit ihm gehen, waren verhindert gewesen, es hatte für Vertretung gesorgt werden müssen, so kam es, daß erst nach der Predigt und nicht schon wie sonst beim ersten Gesang der lange Stab durch die Sitzreihen geschoben wurde. Nun meldeten sich die frommen Glöcklein. Fein und rund riefen sie: ›Wir kommen und fordern ... haltet euch bereit! – Kling-kling ... wir kommen ... gebt! gebt!‹

Tagelöhner und andere kleine Leute, die oft zur Kirche gehen, aber wenig Geld haben, verneigen sich vor dem Seidengestrickten und legen nichts hinein. Hinnerk versah sich sonst immer, wenn er zur Kirche ging, mit Zehnpfennigstücken. Nun griff er, als die kleinen, runden Glocken riefen, in seine Taschen und fand nichts kleineres als ein Markstück. Er griff rechts und links in alle Taschen, aber die kleinste Münze war eine Mark. Es kam ihm ungeheuerlich vor, ein Markstück in den Klingelbeutel zu tun.

Wenn er hundert an die Armen zahlte, dann hatte er was davon. Er konnte nachrechnen, wer es bekam, und wußte ganz genau, wie sie sich freuten. Und wenn er die hundert an die alte Kracht gab, dann noch mehr. Dann hatte er ein Gefühl wie damals, als man die Fähre durch die Fuhlenau baute. Man hatte Findlingssteine zusammengefahren, zwei Tage war er mit seinem Knecht dabei, sie ins Wasser zu werfen. Jeder einzelne Stein war nichts, aber jeder sagte ›plumps‹ das Wasser spritzte hoch auf, aber er wußte, wenn sie nun erst alle drin seien – dann ist die Furt fertig.

Mit dem Klingelbeutel war es ganz anders. ›Kling‹ sagte es zwar auch, aber ganz leise, und es war, als wenn er einen Flintsteinspitter in den Fluß werfe. Kein Mensch wußte, wo er blieb, er versank lautlos im Schlamm. Es war just so, wie wenn ein Kätner seinen Liter Milch in die große Sammelmeiereibütte gießt. Niemand weiß, wer seinen Tropfen bekommen hat. Und noch immer schien es ihm unmöglich, eine Mark zu geben.

Aber der Klingelbeutel kam näher, und nun schob sich der aus Samt und Seide und aus Perlen Gewirkte am langen Stab langsam die Bank entlang zu ihm hin. ›Verneige dich wie ein kleiner Mann‹, sagte er zu sich und sagte es, bis der Beutel ganz nahe war. Aber er tat es zu seiner eigenen Überraschung nicht. Er tat seinen Tropfen in die große Sammelbütte. Ein kleiner scharfer Schlag, halb Klang, halb Stoß – seine Mark war drin, der Prachtbeutel schüttelte sich und läutete seinen Dank und ging weiter.

Maleen verneigte sich immer vor der seidenen Mütze, wenn ihr Mann im Mannsstand saß.

Es mußte heute ein besonderer Kirchentag sein, denn zum Gesang gab es noch eine Nachfeier, die der Propst durch eine vom Altar her gehaltene Rede würzte.

Der Propst predigte auch hier über das Kommen des Reiches Gottes.

»Dein Reich komme!« Für Hinnerk waren es immer Rätselworte gewesen, auch heute blieben sie ihm dunkel wie sonst. In unser Herz soll das Reich Gottes kommen als die Liebe zu Gott, und in ihrer Folge soll sie die Menschenliebe darin entzünden.

»Und wenn du so recht tief dein Einssein mit Gott und mit allen Gottesgeschöpfen, zumal mit deinen Mitbrüdern in Menschengestalt, fühlst, sie daher auch liebst, als wären sie in ihrer Person und in ihrem Bewußtsein nicht von dir verschieden, wenn du fühlst, du liebest das Gute nicht zu eigenem Nutz und Frommen, sondern weil es eine aus deiner Gesinnung sprießende Notwendigkeit ist, weil du nicht anders kannst, dann ist«, so sagte der Propst, »das Reich Gottes in dir, dann Hab nur acht, daß Weltlust und Weltfreude es nicht wieder daraus verdrängen!«


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