Timm Kröger
Des Lebens Wegzölle
Timm Kröger

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Der Schulmeister von Handewitt

Erster Teil

1

An flacher Nordlandsküste hinter Handewitt schläft und atmet das Meer: hohe Flut – tiefe Ebbe. Ein ewiges Steigen und Sinken der Gewichtsschalen, die der gute Mond am Wagebalken über den Gewässern unserer Erde hält, ohne daß sich das Zünglein einstellt. Sind die Wogen über die weiten Flächen des Ebbegrundes zurückgewichen, so drängt das Meer alsbald in sein altes Bett zurück. Es ergießt sich aus unsichtbaren Quellen, quirlt und gurgelt in schlammigen Prielen, schwillt zu Strömen, erweitert sich zu Sammelteichen und triumphiert als rollender, schaumspritzender Wogenschwall, daß es wiedergewonnen, was die träge Ebbe verlor. Eine nichtige Freude: mag auch die Flut ruhmredig ihre Schaumflocken werfen, schon führt der Ebbestrom Wasser und Welle wieder zu Tal.

Ein fester Deich umrahmt eine breite Bucht in weitausholender Linie und verliert sich nach Süden und Norden in endloser Ferne – getreuer, stetiger Begleiter und Schutz der gewundenen Ufer.

An einem Abend – es war eher ein klarer Winter- als Frühlingsabend – stand auf dem Deich ein langbeiniges Menschenkind und sah der ins Meer hinabfröstelnden Sonne nach. Jetzt blinkte nur noch der Reifen ihrer Bogensehne, mit dem Gold der letzten Strahlengarbe schmückten weiße, in geringer Höhe schwimmende Wölkchen ihre weich zerfranzten, flaumigen Säume: die Pracht des Abendrots stieg herauf.

Eine alte Frau karrte über den Strand dem Meere zu, den Fang ausgespannter Fischnetze zu bergen. Im Schlick und Schlamm krochen Taschenkrebse, ein Schwarm von Möven war kreischend und flügelschlagend der weichenden Flut gefolgt, drei Schafe weideten in Winterpelzen winterliches Gras und die ersten Frühlingsmoose am Deiche. Klaus Wippesteert, seines Zeichens eine gebildete Krähe, dem Vollbauern Peter Kölln aus Handewitt gehörig, hackte einem toten Seehund in die Weichen.

Die alle waren Wesen ohne Interesse für die Idee des Schönen; der allem vernünftige Zuschauer war der Mann auf dem Deiche, der langbeinige Schulmeister von Handewitt. Und seine stille Freude wog vor dem Werkmeister der Natur das tausendfache Ah! entzückter Mengen auf; deshalb kam auch eine Extrabeilage, die sonst zu dieser Jahreszeit selten gewährt wird. Die Flucht der ebbenden Gewässer hatte viele Sammelstellen der Salzflut im triefenden Strande zurückgelassen, sie bildeten die Schleifflächen eines ungeheuren Krystalls, der dem Schulmeister leuchtenden Zauber mit berückenden Farben in die Augen warf.

Für Klaus Wippesteert hatte der Sonnenuntergang die Bedeutung: an der Gesindetafel von Peter Kölln gibt es gleich Speckschnitte und Mehlklöße. In aller Gemächlichkeit trat er den Heimweg an. Als fliegender Spaziergänger strich er lässig über die Marschen bis zur Dünenkette von Handewitt. Über den Dünen erhob er sich zu größerer Höhe, der Sandgeruch war ihm unangenehm, und auf sein Gemüt wirkte es niederschlagend, daß sich nichts für eine rechtschaffene Krähe fand. Die zerzauste Eiche am Rande der Sandregion erfüllte ihn mit Wehmut. In ihrer Krone war er in schwankendem Neste aus dem Ei gebrütet worden. Von seiner Höhe überschaute er Handewitt, die verschlungenen, buschigen Wege, seine Häuser, seine Höfe und Gehöfte, den ragenden Schulhof auf dem Schierenberg, den großen Handewitter Forst im Hintergrunde und das breit ausladende Gehöft seines Herrn, auf dessen Hofstelle er in raschem Fall hinabtauchte. Er würgte schon die erste Speckschwarte, als noch des Schulmeisters lange Beine den Weg durch die Wiesen maßen.

 

Unsere Geschichte ereignete sich zu einer Zeit, wo ein im Examen verunglückter Gottesgelehrter noch immer gut genug für einen Dorfschulmeister war. Rudolf Schmidt war ein Schiffbrüchiger dieser Art. Aber er machte sich nicht allzu viel daraus. Er wußte, daß unser Geschick am fremden Herdfeuer geschmiedet wird und Unabänderliches zu beklagen schien ihm töricht.

Der Händedruck seines Freundes, Professors Friedrich Helm, dessen kleine auf dem Bahnsteig gehaltene Standrede waren die letzten Erinnerungen an eine hinter ihm versunkene Kulturwelt. Seitdem war er mit sich und seiner Philosophie und mit seiner Mutter, einer einfachen Frau, allein. Ihm eignete nicht die Art, Leute zu verpflichten, er hatte nicht viele Freunde, dafür um so treuere, denn die, die auf den Grund seiner Seele sahen, waren Leute, bei denen Verwandtes anklang. Und der treueste war der grundgelehrte Dr. Friedrich Helm, Meister im Sanskrit und Arabischen, Deuter und Übersetzer von allerlei Keilschriften und dunklen Hieroglyphen, Inhaber hoher akademischer Grade.

Theologie hatte er seinen Eltern zuliebe studiert, das wurde zum Bruch seines Gemüts. Er sah sich in einen Widerstreit versetzt und ließ die Theologie. Wenn er nur etwas anderes angefangen hätte! Aber leider fehlte es daran; er hatte viele Interessen, war aber geistig zu bequem, an einem Punkte fest zu werden. Sein Studium zerfloß wie ein auf dem Straßendamm ausgegossener Eimer Wasser. Das staut zwar um jeden Pflasterstein ein kleines Meer auf, aber es trägt nicht mehr als einen leichten Federflaum. Und noch immer mochte er lieber über das Arbeiten nachdenken und einen Gänsekiel schneiden, als ihn ins schwarze Tintenfaß tauchen. Er trug, so strafpredigte ihn oft sein Freund an, zu schwer an der Erschaffung und Erhaltung der Welt und durfte doch dem lieben Gott seine Beihilfe gern entziehen.

Und jetzt machte die Einsamkeit dem Träumer eine kindliche Freude. Dem großen Sanskritkenner war das gar nicht recht. Schon auf dem Bahnsteig predigte er: »Reiße dich wieder los, solange du noch Augenblicke hast, dich in Handewitt unglücklich zu fühlen. Ein Halbaffe willst du doch nicht werden? Ich prophezeie aber, du wirst es. Auf die Dauer gehts nicht, dazu bist du zu sehr das, was man gebildet nennt.«

»Was?« hatte Rudolf aufbegehrt. »Ich, der nur im Alleinsein gedeiht?«

Friedrich hatte gelacht. »Ja, das glaubst du, ich aber glaub es nicht. Keiner hält es aus, da mache ich auch vor Rudolf Schmidt nicht Halt, er mag sich mit seiner Einsamkeitssucht brüsten, wie immer – brüsten in aller Aufrichtigkeit und in gutem Glauben. In drei Jahren bist du entweder wahnsinnig oder verbauert; im Notfall rechne ich auf den ersten Fall, da es das vornehmere und auch freundlichere Geschick ist. Denn der Wahnsinn kann bei dir nur ein fideler sein. Ich möchte dich aber möglichst lange bei Verstand behalten und verschreibe deshalb dies Rezept: jeden Tag oder jede Woche, allenfalls auch allmonatlich ... wies kommt, nach Bedarf ... ein bißchen Tagebuch, Ausströmung des Ich, der Eindrücke, wenn in Handewitt hiervon die Rede sein kann. Ja, ja – Selbstbespiegelung ist es und als solches nicht schön. Aber was hilfts, es ist Arzenei, und da kommts auf den Geschmack nicht an. Es handelt sich darum, der Entartung gewisser Organe vorzubeugen. Und einen besseren Ersatz als das Tagebuch kenne ich nicht. So hoffe ich denn, dich als halbwegs Vernünftigen wiederzubekommen. Im Notfall reise ich selbst mit der Zwangsjacke nach Handewitt, um dich einzufangen.«

Rudolf hatte zwar gescherzt, wie es Friedrich getan, aber ganz hatte die Rede ihren Beruf nicht verfehlt. Sie kam seiner Neigung für Tagebücher entgegen, er besaß noch ein altes, ein blaues Heft, und das erzählte in der ersten Hälfte kindliche Schulgeschichten und kindliche Gelübde, sich dereinst durch die enge Pforte zu zwängen, während in der zweiten Hälfte Reim und Rhythmus die an eine gewisse D... gerichteten Bekenntnisse beherrschten. Und niemals hatte er sich überwinden können, die Verse schlecht zu finden.

Die letzte Eintragung war von altem Datum. Dora hatte einen andern genommen – die ewig alte, die ewig neue Geschichte. Rudolf hatte versucht, in ergreifenden Versen und Rhythmen die Sterne anzuklagen. Es war ihm nicht gelungen. Aber schließlich konnte er als lachender Philosoph in gewichtigen Trochäen sein Weh zerstampfen.

Als Schulmeister von Handewitt hatte er nun wieder ein Buch geheftet (der Umschlag war hellgrau ergeben), weiter war sein Vorhaben noch nicht gediehen. Nun aber sollte Ernst gemacht werden. Eine stählerne Feder, mit Handewitter Galläpfeln getränkt, sollte die Wahrheit stahlhart berichten.

Mit diesem Entschluß nahm er die Steigung des Schierenbergs. Die Dunkelheit war auf Handewitt gefallen, der Vollmond hatte sie aber vergeistigt. Dessen feistes Gesicht beleuchtete die schwarzen Fensterreihen der Schulstuben und die durch Lampenlicht erhellten Rolladen des Wohnzimmers, als er seine Stube aufklinkte.

 

Seine Mutter war für morgen bei Frau Kölln zum Kaffee gebeten. Peter Kölln selbst hoffte, wie sie mitteilte, den Schulmeister (die Ferien dauerten noch an) für einen Flüttgutszug (der Neubauer vom Hof Birkenrade, der aus dem Osten kam, war abzuholen) zu gewinnen. Sie plauderten noch eine Weile, dann ging die alte Frau zu Bett.

Und als sie zu Bett gegangen war, ließ Rudolf Schmidt die Teemaschine wieder summen und machte sich einen Punsch. Er setzte sich, kostete, trank, stopfte die lange Schulmeisterpfeife, räumte Bücher vom Schreibtisch, nahm eine Feder, tauchte sie in die von seinem Amtsvorweser übernommene Galläpfeltinte und begann. Die starke Rauchwolke, die sein Haupt umlagerte, sprach von einem lebhaften Interesse des Schreibers an seiner Arbeit, Falten und sonnige Glätte, die seine Stirn bald beschatteten, bald erhellten, von einem wichtigen Vorhaben.

Nach einer Weile legte er einen Bogen in das graue Heft. »Der Bann wäre gebrochen«, murmelte er, »dem ersten Blatt werden weitere folgen.«

 

Es ist geschehen, wie Rudolf Schmidt sagte. Im folgenden Kapitel wollen wir lesen, was in den Blättern stand.


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