Timm Kröger
Des Lebens Wegzölle
Timm Kröger

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Der Einzige und seine Liebe

1

Ein Liedchen summt in uns nach, das wir einstmal von dem himmelhochjauchzenden Glück eines Schneidergesellen sangen. ›Glück und Glas, wie leicht bricht das!‹ Wie wurde es mit dem Glück unseres Schneiders?

Sie war des Kätners Harder Rickers Tochter und hieß Katrien oder Tine und wohnte gleich an Meister Eggerts Garten unter einem niedrigen Dach, die Tür hinter stark verholzten Johannisbeerbüschen. Als dreizehnjähriger Junge hatte er sie gesehen (sie war damals ein sehr kleines und sehr lustiges Mädchen gewesen), als eben freigesprochener junger Geselle hatte er sie wiedergetroffen und die Bekanntschaft erneuert. Frau Meister hatte einen Topf mit Honig zu Harders hinüberschicken wollen, und er hatte den Topf hinübergetragen. Topf und Herz hatte er in der Rauchkate zurückgelassen, Tines Liebe aber mitgenommen.

 

Verliebte sind Egoisten. Reimer war verliebt und dachte nur an seine Braut, an sich und sein Glück.

Alte und junge Leute starben, Kinder wurden geboren. Es war wie immer: Fallholz und morsche Stämme, junger Auftrieb. Reimer aber kümmerte sich nicht um fremdes Leid und nahm nicht Teil an fremder Freude. Freund Hein machte in der Nachbarschaft Besuch, holte den alten Boldt aus dem warmen Nest, Reimer war im Sarggefolge, dachte aber dabei wenig an Tod und Unsterblichkeit, dachte nicht einmal viel an das, was der Pastor sagte – er dachte an Tine.

Ein heftiger Sturm kam auf und brach von Maaßens Windmühle einen Flügel ab; die Trümmer hätten bald den Müllergesellen erschlagen, das Gerücht lief rasch wie der Wind durch den Ort, viele eilten hin, Reimer aber nicht. Er gab nur auf Meister Rickers Haus acht, wohnte doch unter diesem Dach seine Tine. Der Wind hatte eine Stelle im Strohdach zergeigt, Reimer stieg in Graus und Sturm hinauf, schleppte eine Egge am Tau mit, band sie auf der schadhaften Stelle fest und beschwerte den Verband mit einem großen Stein. Tine stand mit wehendem Haar und flatternder Schürze, hielt die Leiter mit beiden Händen und zitterte und bat. »Reimer, ik mag gar ni sehn«, sagte sie, wandte dabei aber keinen Blick von ihrem Liebsten.

Reimer lebte nur in seiner Liebe.

Alle Leute schlugen die Hände über den Kopf zusammen: Peter, der ehrliche Peter Ranck hatte Papiere gefälscht und ... saß. Reimer hatte ihn, wenn auch nur flüchtig, gekannt; ihn kümmerte das Kapitalverbrechen des Orts keinen Deut.

Krischan Jakob Meier hatte sein Holzgeschäft verkauft, der Käufer sollte aus der Gegend des Orts stammen, man sprach davon, daß Krischan Jakob einen unmenschlichen Preis erhalte, man klagte, wie alles so teuer werde, daß es gar nicht mehr angehen könne. Reimer hörte nicht darauf; er saß, wenn er Zeit hatte, bei seiner Braut, leistete ihr, wo es ging, Gesellschaft und war nur in ihrer Nähe ein Mensch.

Jawohl, Verliebte sind Egoisten, und Reimer Stieper hatte das Recht, egoistisch zu sein. Vor der Hand wollte die Glücksgöttin ihm nämlich nur wenig von ihrem süßen Trank einschenken (einen Tassenkopf voll, schätzen wir), und Reimer wußte es. Nach dem Ratschluß von Harder Rickers mußte er nämlich (je eher, je lieber) auf Wanderschaft, wie es die Zunftgesetze noch um die Mitte des vorigen Jahrhunderts vorschrieben, und erst nach Rückkehr und nach Ablegung der Meisterprüfung stand die Hochzeit in Aussicht. Und deshalb durfte er in der knappen Zeit, wo er aus dem Tassenkopf schlürfte, an nichts anderes denken als an Tine und an sein Glück, soweit das überhaupt noch Glück genannt werden konnte, was einstweilen auf eine so kurze Zeit bemessen war. So lange durfte er wenigstens bei ihr sein, so oft es ging.

 

Eines Abends ... Er trat, wie gewöhnlich, bei Meister Rickers in die Stube, Dämmerung fiel in den Raum, da saß der Schatten eines Mannes, mit dem der Meister sprach, auf einem Stuhl. Der Unbekannte unterhielt sich über ein Holzgeschäft, denn auch Harder Rickers kaufte als Zimmermann ab und zu einen Stamm. Mit der Vorstellung seiner Gäste hat der kleine Mann es ja nicht eilig; aus den Reden aber entnahm Reimer Stieper, daß der Käufer von Krischan Jakobs Holzhandel auf dem Stuhl saß. Reimer wußte nicht genau, was ... aber der hoch- und plattdeutsch sprechende Fremde hatte in seiner Rede, in seiner sicheren Freiheit, sich zu geben, in einer Haltung etwas an sich, das ihm bekannt vorkam, das ihn an jemand erinnerte – er wußte nur nicht, an wen. Da trat Tine mit Licht ein, und Reimer fuhr überrascht von seinem Sitz auf. Der große, breite, blonde, städtisch gekleidete, so selbstzufrieden und so energisch auf Harders Lehnstuhl hingepflanzte Mann war ebenso überrascht. »Reimerchen?« – »Jochen Riese?« – kam es fast gleichzeitig von ihren Lippen.

»Du, Reimerchen?« rief Jochen. »Was treibst du denn hier?«

»Ja«, antwortete Reimer, »was soll ein Schneidergesell wohl anders tun als schneidern? Ich spiel aber auch ein bißchen Bräutigam, und dies kleine Mädchen« (er legte den Arm um Tine) »ist meine Braut.«

Jochen sah das Mädchen mit unverhohlener Bewunderung an. »Alle Wetter!« entfuhr es ihm. Er war von der blühenden Mädchenerscheinung ganz überrascht. Und er konnte es wohl sein, so frisch und schmuck und blond und blauäugig wie sie war. Reimern schlug er auf die Schulter.

»Das hätte ich dir nicht zugetraut«, setzte er hinzu. »Donnerwetter«, und wieder ging sein scharfes, graues Auge an Tine, an ihrem Beiderwandrock und Leinenspenzer, an der vollen jungfräulichen Erscheinung auf und ab. »Süh, de ol Reimer, de ol Jung, wer harr bat dacht?«

Es lag etwas darin, was dem Mädchen nicht gefiel. Und was er nachher sprach, verwischte diesen Eindruck nicht. Eine gewisse Jovialität, ja, aber es kam alles so großspurig, so protzig, herausfordernd heraus.

Jochen Riese hätte gern noch länger in der Hütte verweilt, die solche Schätze barg, aber dringende Geschäfte trieben ihn nach Hause. Als er weg war, fragte Tine, ob das der sei, von dem Reimer so viel erzählt habe, und Reimer antwortete: »Das ist er.«

Sie hatten zusammen die Schule besucht, Jochen kurz vor der Konfirmation stehend, Reimer als junger Knabe. Die Zügel waren dem alten Lehrer etwas aus den Händen geglitten, die unter Knaben üblichen Balgereien hatten überhand genommen; Reimer mit seiner schwächlichen Leibesbeschaffenheit und mit seinem weichen Herzen wäre unter die Füße gekommen, wenn Jochen Ries nicht seine Hand über ihn gehalten hätte. Das hatte er denn ehrlich getan, dafür aber auch blinde Unterwerfung verlangt.

Die hatte Reimer geleistet, dazu hatten sich sogar viel größere Jungen bequemen müssen, als er. Denn Jochen war nach Körperkraft, Rücksichtslosigkeit und Draufgängern unbestritten der ›Baas‹, den man nicht gerne zum Feinde hatte, mit dem selbst der ›Schulmeister‹ nicht gerne anband.

Ein rechtes Bauernkind war er niemals gewesen. Sein Vater war Forstwart und stammte aus hochdeutscher Gegend und ging noch vor Jochens Einsegnung dorthin zurück. Jetzt war der Sohn über fünfzig Prozent städtisch geworden. Er hatte den Holzhandel in einer Stadt erlernt, hatte einen amerikanischen Onkel beerbt und stand nun, seiner Art entsprechend, früh auf eigenen Füßen.

Das also war der berühmte Jochen Riese. – »Ich mag deinen Jochen nicht«, sagte Tine zu ihrem Bräutigam.


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