Timm Kröger
Des Lebens Wegzölle
Timm Kröger

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6

Die Nacht verging, der Morgen kam. Und kam taufrisch.

In den Pappeln und Linden sang und zankte und zirpte es, das Flüßchen hastete unter Büschen und Bäumen am Zollhaus vorbei, rauschte und plätscherte seine Melodien; alles atmete Frieden, und das Zollhaus wartete auf ein paar Brückenschillinge.

Da begab sich etwas, was in Jahrzehnten nicht vorgekommen war: es fiel vor Tag ein aus mehreren Gespannen bestehender Flüttgutszug in das Wirtshaus ein.

Der kam von hinten her aus Dörfern, die man nur dem Namen nach kannte. Er war den größten Teil der Nacht unterwegs gewesen und wollte weiter übers Moor. Mitgenommene Erfrischungen waren verzehrt, nun frühstückten sie im Zollhause, nun lärmte ein Dutzend mehr und weniger angesäuselter und angetrunkener Männer und Frauen im Zollhaus.

Die Reisestimmung war den guten Leuten über den Kopf gewachsen, die Fluggedanken waren von der Umwelt unabhängig geworden – nun kamen Züge an den Tag, die dem Alltagswesen der Braven gewiß fremd waren.

Um sechs Uhr trank man Kaffee. Die Männer gossen Rum hinein, eine bedusselte Frau strich dicken Senf aufs Brot und sagte immer: »Wat för schön Honni (Honig)!« Um acht Uhr tanzte man nach der Musik eines Kammvirtuosen: »Herr Schmidt, Herr Schmidt« – Peter hatte genug mit der Herbeischaffung von Getränken und Butterbrot zu tun. Um halb elf gerieten zwei Leute in Meinungsverschiedenheit, Punkt elf fiel der erste Schlag, eine Minute später war eine allgemeine Keilerei im Gange. Jäh auflodernder Zorn des Wirts, Aufkündigung des Gastrechts, wenn nicht sofort Ruhe eintrete. Darauf Ernüchterung, merkliche Abflauung. Man fing an, sich zu erinnern, daß man auch in der Fremde bei lustigem Flütten ein von den Außendingen abhängiger Mensch sei. Was besiegt schien und zur Vordertür hinausgeworfen war, schlüpfte zur Hintertür wieder herein.

Ein paar Männlein und Weiblein wurden unwohl, zwei von den gesund Gebliebenen standen Peter Holling bei, sie im Heustall zu betten. Und als endlich – endlich gegen drei Uhr nach Mittag die wilde Gesellschaft über die Brücke ins Moor hineinfuhr, lagen die Kranken in Pferdedecken gewickelt im Wagenstroh.

Die ganze Zeit war Peter beschäftigt gewesen, hatte nichts oder wenig gegessen. Nur zwei oder drei Grog hatte er in der Küche trinken können. Er war nicht betrunken, nur angeregt und ein ganz klein wenig gehobener als sonst. Übermenschentum ist erfahrungsgemäß ansteckend, ein wenig mochte auch unser Peter von der gröhlend davonjagenden Gesellschaft abbekommen haben. So fiel das Glücksgefühl, das den Geschäftsmann an seinem guten Tag beseelt, auf günstigen Boden. Es hatte ihn den ganzen Morgen erwärmt. Wer kennt es nicht! Die Bankhalter kennen es, die mit krummer Nase und mit krummem Lächeln auf krummer Lippe am Pult thronen und schmunzelnd sehen, wie das Volk sich an ihre Wechseltische drängt. Der Krämer kennt es, der einem Jungen eine Kanne Syrup einmißt und sechs Köchinnen mit Kontobüchern und Körben vor der Tonbank warten sieht. Auch Peter Holling kannte es. Abends pflegte er alles in die Schublade auszuleeren, was der Tag an Schillingen gebracht hatte. Das Glücksgefühl der Tagesgeschäfte maß sich im wesentlichen nach der Schwere ab, womit der kleine Silberballen in der rechten Hosentasche auf die Lende drückte.

Der Bauer des Märchens, der aus dem Glücksberg goldbeladen herauskommt, mißt seinen Schatz, um vorerst im Groben unterrichtet zu sein, mit dem Kannenmaß ab. Peter Holling tat es mit der Hand. Er stand hinter der Tonbank vor der offenen Schublade, die ganze hohle Hand voll Geld. Bevor er es hineinfüllte, fischte er mit den Augen die Taler, die Achtschillingstücke, die Vierschillingsstücke heraus und schätzte die breite Masse der Einzelschillinge und der silbernen Sechslinge. Es war wirklich ein guter Tag. Vier Wagen waren es gewesen, das hatte acht Schillinge Brückengeld gebracht – vier hatte er zurückgegeben und geschenkt. Eigentlich war es in diesem Fall Dummheit, das sah er ein, denn die Leute würden ganz gewiß den Moorweg niemals wieder fahren. Aber so ging es immer, er war eben zu gut für diese Welt.

Er war zu gut für die Welt, und über die Diele her kam jemand in vollem Trab, ganz eilig, kam förmlich gelaufen (die Röcke rauschten, es mußte ein Mädchen sein), der Jemand riß die Tür zur Schenkstube auf, und vor dem glücklichen und tugendhaften Peter Holling stand das Kleinmädchen, stand Marie Olfers, rot und heiß und aufgeregt und rief: »Uns' Weert, uns' Weert! Hans Rohwer sin Kauh sünd all in uns' Rogg'n.«

Den Teufel noch mal, die Meinerskoppel! Die hatte er ganz vergessen.

›Das macht nichts‹ begehrte das Glücksgefühl und die beiden aus leerem Magen in den Kopf verstiegenen Glas Grog auf. ›Das macht nichts, das kann Hans Rohwer bezahlen. Wo steht das, daß ich dicht machen soll? Freilich, man hält das im Dorf unter Bauern dafür. Aber wo ist das Gesetz? Das steht in keinem, weder in einem echten noch in einem unechten.‹

Peter setzte seine Mütze auf und stürmte nach der Meinerskoppel.

Und als er die Verwüstung seines Sommerroggens sah, da stand es bei ihm fest: das alles soll Hans Rohwer bezahlen.

Auf der andern Seite des Walls, vom Steinhofer Gebiet her, klang Lärmen und Prahlen und Peitschengeknall und Kuhgebrüll; in der Zollhauskoppel waren der Knecht Franz und der Dienstjunge Jörn dabei, die letzten Rinder durch das Knickloch zurückzujagen.

»Halt!« schrie Peter.

Fünf Stück waren noch zurück, schwere, wertvolle Tiere.

Es kam ihm ein Gedanke. Das altdeutsche Schütt- und Pfändungsrecht war bei Viehübertrittcn freilich außer Gebrauch, gesetzlich aber noch in Geltung. »Halt!« rief Peter. »Laßt, wir wollen sie nach unserm Stall nehmen, wir wollen sie schütten.«

Franz war darüber schier verstört. Schütten! 'Das wird den Steinhöfer in Wut bringen', dachte er, wagte es aber nicht zu sagen. Er stellte vor, die Tiere seien über ›unsern‹ Knick gestiegen. Aber Peter wurde heftig und bestand um so mehr auf seiner Anordnung. So hüteten Franz und Jörn die fünf Gehörnten aus dem Heck.

Als Franz den Schlagbaum in die Gabel zurückwarf, hörte er plötzlich eine Stimme: »Sag mal, Franz, was hat das zu bedeuten? Die Kühe gehören mir.« Hans Rohwer war aus der Steinhofer Koppel gekommen und stand vor ihm.

»De will uns' Weert schütten«, erwiderte Franz.

Hans Rohwer schien ruhig, war aber in Wahrheit in heller Wut. »So«, sagte er gedehnt. »Und ist dein Wirt in der Koppel?«

»Das ist er.«

»Schön.«

Der Steinhofer stieg über den Schlagbaum der Zollhauskoppel, Franz wollte das Tor öffnen, aber Hans Rohwer ließ es nicht dazu kommen. Entschlossenen Schrittes ging er in die Tiefe des Feldes.

›Das geht nicht gut‹, dachte Franz.

»Jörn«, wendete er sich an den Dienstjungen, »die Kühe nehme ich allein. Du kannst zurückgehen nach dem Wirt und sehen, ob er was für dich zu tun hat.« Franz zwinkerte mit den Augen. »Und kannst mir nachher erzählen, Jörn, verstehst du?«

Franz war mit seinen Kühen halb nach Hause, da kam Anna ihm in heller Angst entgegen.

»Was sind das für Kühe? Das sind nicht unsere, die gehören nicht uns. Das sind welche vom Steinhof. Franz, was soll das doch einmal?« »Ja, Anna, die will unser Wirt schütten.«

»Schütten... wieso schütten? Ich verstehe das nicht.«

Sie konnte die Tat ihres Vaters nicht fassen, sie war nach den im Dorf landläufigen Begriffen zu ungeheuerlich. Und als sie alles begriffen und übersehen hatte, da war sie verzweifelt.

»Das geht nicht gut, das geht nicht gut«, jammerte sie. »Das wird Hans Rohwer meinem Vater niemals vergeben.«

»Das glaub ich auch«, entgegnete Franz. »Hans Rohwer ist auch schon hingegangen. Ich fürchte, es wird zu Streit kommen.«

»Gott, mein Gott!« Und in namenloser Angst flog Anna den Weg nach der Meinerskoppel entlang.


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