Timm Kröger
Des Lebens Wegzölle
Timm Kröger

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14

Der Doktor zuckt die Achseln und schüttelt den Kopf, er hat an die Wegnahme der für immer fühllos gewordenen Glieder gedacht. Der Zollwirt ist alt, da hat er von diesem Eingriff abgesehen.

Meistens schläft der Kranke. Und selten oder nie wacht er ganz, er lebt in einer anderen, eigentümlich humoristisch verzerrten Welt. Was ihn quält, was ihn verbittert hat, das Elend seiner jähzornigen und rachgierigen, seiner rechthaberischen Seele ist für immer in dem Moorgraben ersäuft und ertrunken. Heinrich Gröhl hat ihm seine Beine abgeliehen – das ist die Erklärung für die toten Glieder, das plagt ihn, nun muß er im Bett liegen, bis es Heinrich gefällt, ihm sein Eigentum zurückzugeben. »Das ist doch zu toll«, klagt er. »Aber so ist Heinrich Gröhl immer, mit den Worten oben hinaus, aber die Tat, Zusagen halten, da fehlts!« Anna soll hinschicken, Peter will seine Beine wiederhaben.

Wenn ein Wagen vorüberfährt, wenn die Peitsche knallt, dann muß Anna hinausgehen und Brückengeld holen. Er wundert sich, wie rasch die Leute abgefertigt werden. Er macht das Geräusch nach, wenn die Wagen über die Brücke rollen. »Holterkapolter«, sagt er, »das geht flink. Ich machte es anders, ich sprach immer ein paar Minuten mit den Leuten, wie sichs schickt, da dauerte es länger.«

Der Prozeß, sein Unfall, alle diese Sachen sind in seinem Gedächtnis ausgelöscht. Die Jugend, seine Jugend, seine lachende Jugend steigt herauf. »Ich träume immer von Hinrich Beckmann«, erzählt er. »Ich traf ihn auf dem Stafstedter Bahnhof. Da geht Hinrich, die Haare immer noch gelb und steif vom Kopf, da geht er mit seinem Tuchbündel, das er Sonntags zu seiner Mutter brachte. ›Na‹, sag ich im Traum; ›Hinnerk, du hier?‹ – ›Ja‹, sagt er. – ›Ja, Hinnerk‹, sag ich da wieder, ›bist du nicht tot?‹ – ›Ja‹, antwortet er, ›das bin ich, das kann ich nicht leugnen.‹ – ›Ja, Hinnerk‹, fang ich wieder an, ›dann hast du hier doch nichts mehr verloren?‹ – ›Na‹, sagt er so recht verwundert, ›wenn man doch Urlaub hat‹. – ›Hast denn Urlaub?‹ frag ich. – ›Ja‹, sagt er, ›bis August, und so lang bleib ich hier.‹ Und geht mit seinem Tuch auf und ab. Er hatte son eigenen Schwung, sich das Bündelchen unter den Arm zu stopfen.«

Am meisten beschäftigen ihn aber die Beine, die Heinrich Gröhl von ihm geliehen hat.

»Anna«, sagte er eines Tages zu seiner Tochter, »kommt denn unser Nachbar Hans nicht mal? Oder weiß er gar nicht, daß ich liegen muß?«

»Vater, ich wills ihm sagen, er wird gern mal kommen!« »Könntest hinschicken, meine Tochter! Und dann laß dabei sagen, ob er nicht mal nachsehen wolle. In großen Haushaltungen fällt viel ab. Es wäre doch wunderlich, wenn nicht ein Paar abgesetzte, aber im Notfall noch zu gebrauchende Beine zu finden wären. Sind ja leicht gut genug. Ich brauchte dann doch nicht mehr zu liegen und könnte umhergehen, bis Heinrich Gröhl meine wiedergebracht hat.«

 

Als Peter eines Tages (er war wieder auf dem Stafstedter Bahnhof mit dem toten Hinrich Beckmann zusammengetroffen), als er eines Tages aufwachte, sah er Hans Rohwer und Anna an seinem Bett Hand in Hand.

Der Kranke war verwundert. »Was ist das für einer? Kenn ich den, Anna?«

»Vater«, antwortete Anna, »den kennst du ganz gut, das ist unser guter Nachbar Hans Rohwer.«

Der Kranke lächelte. »Si, so«, summte er, »das ist ja wahr. Hans Rohwer von Steinhof. Von dir hab ich auch geträumt. Ein schwarzes Pferd war dabei, naß von Schweiß, wie aus der Schwemme, da hab ich drauf geritten.«

Eine Weile schwieg er, dann fragte er plötzlich: »Und meine Beine? Hast mir 'n paar mitgebracht?«

Hans Rohwer ging auf die Vorstellung ein. »Es tut mir furchtbar leid, Nachbar«, antwortete er. »Es hat sich nichts gefunden, die Köchin hat alles weggetan. Aber ich hab neue bestellt – in drei Tagen sollen sie fertig sein, und Heinrich Gröhl will auch bringen.«

Peter Holling hörte nicht mehr, es war einer ins Zimmer gekommen, der das Schicksal alles Lebendigen darstellt – der alle Dinge beherrschende Tod. Er stellte sich zu Hans und Anna an den Bettrand und rollte vor Peter Hollings Seele Bilder auf, die er mitgebracht hatte – ausgelöscht gewesene, jetzt um so frischer erstandene; das Streiten in der Schenkstube, die Meinerskoppel, die Axthiebe, den Fluch, den Prozeß, die Fahrten über das Moor, die Wette, die Stunden, die entsetzlichen Stunden im Graben. Auf schäumendem Roß kam sein Feind, sein Widersacher, und rettete ihn.

Die Liebenden fühlten die Nähe der Majestät, Anna umfaßte den sterbenden Vater: »Vergib!« bat sie.

Da erwachte der Kranke aus seinen Träumen und fuhr auf: »Ich vergeben? Was hätte ich zu vergeben, aber ich brauche Vergebung. Hans, komm her, recht nahe her, hör mich an, du weißt gar nicht, wie tief ich in deiner Schuld bin.«

Der Steinhofer nahm des Kranken Hand und streichelte sie. »Und wäre deine Sünde tief wie das Meer, sie ist vergessen und vergeben. Und Sünder sind wir allzumal, ich wie du.«

»Sag nicht zu früh das gute Wort. Komm recht nah heran mit deinem Ohr, ich hab dir was zu sagen.«

Und er fing an zu bekennen. Von seinen bösen Gedanken sprach er, von den Racheplänen, von der Erscheinung im Moor.

»Ich schlug auf den Fuchs, es sollte dein letztes Stündlein sein. Aber Gott hob dich hinweg und ließ dich groß und hoch, weit weg von mir, über Sümpfe schreiten, wo sonst keines Menschen Fuß gehen kann.«

»Ja«, erwiderte der Steinhofer, »es ist alles Einbildung gewesen, auch deine Schuld. Es mag ein Gedanke, ein Bild aufgetaucht sein, womit du spieltest, aber etwas, was du wirklich wolltest, ist es nicht gewesen, daher nichts, was dir als Schuld zuzurechnen ist. Und selbst wenn – mein Herz weiß nichts von Zorn, darin ist kein Buch aufgelegt für Rache und für Groll, am allerwenigsten für Missetat, die nicht begangen worden ist.

Hans Rohwer hielt noch immer die Hand des Sterbenden. »Bist ein dummer Kerl«, fuhr er fort, »ein Quälgeist an dir selbst. Ich war nicht im Moor, und du, das heißt, der klare, wache Peter, auch nicht, nicht meiner Anna guter Vater. Das Andere war nichts als Spiel deines Ärgers. Versuchs nur und komm dem lieben Gott mit solchem Tand, er hört dich gar nicht an, die Engel stehn und lachen über dich.«

»Du spaßtest immer, Hans!«

Über das todesmüde Gesicht flog ein glückliches Lächeln. »Ich sah euch Hand in Hand, warum tut ihr das nicht mehr?«

Der Steinhofer umarmte seine Braut.

»Das ist recht«, murmelte der Kranke. »Hans, du kriegst eine gute Frau.«

Das ist das Letzte gewesen, was er gesprochen hat. Die Dinge der Welt begannen vor ihm zu versinken.

Einmal summte er etwas. Es hörte sich von den Lippen eines Sterbenden wunderlich an. Man hätte glauben können, er summte oder versuchte zu summen: ›Lustig sind die Warler‹

Das Atmen wurde leiser, immer leiser und immer kürzer... ganz kurz... stockte... setzte aus, kam wieder, schließlich war alles still. Vorher ein langes Geräusch, wie wenn ein Fläschchen unter Wasser voll läuft, mit einer Art Glucksen endigend.

Etwas Speichel trat aus dem Mund.

Der Tod fing an, die Züge zu meißeln.

Anna lag weinend an Hans Rohwers breiter Brust.


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