Timm Kröger
Des Lebens Wegzölle
Timm Kröger

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5

Peter Schmidt wollte kein Testament machen, Hinnerk Schmidt wollte es auch nicht – in der Sache einig, wichen sie in den Gründen voneinander ab.

Peter wollte es um das Reich Gottes nicht, für das er zu kämpfen glaubte, Hinnerk wegen der runden, gelben Dinger nicht, auf deren Schriftseite die Worte ›Deutsches Reich‹ stehen. Hinnerk lag es unbequem, den kranken Bruder zu überzeugen der kranke Mann im Lehnstuhl bebte vor Bange, Hinnerk Schmidt die Notwendigkeit zu zeigen. Er liebte seinen Bruder, hatte aber auch Angst vor ihm. Ein paar mal war Hinnerk heftig geworden und aufgebraust, das war ihm durch, alle Glieder gefahren; daran, daß das wiederkomme, mochte er nicht denken.

Hinnerk Schmidt wünschte, daß die Unterredung ohne Zeugen stattfinde. »Abel«, sagte er zur Haushälterin, als sie vor der Haustür angekommen waren, »Peter und ich haben ein paar Worte miteinander zu reden. Wenn du ein bißchen beim Melken mittun wolltest ...«

»Gern«, entgegnete die gutmütige Abel und schräkelte auf ihren alten Beinen durch den Garten nach dem Hof zurück.

Hinnerk öffnete die Haustür, die zur Wohnung seines Bruders führte, hielt aber die Schelle an (der Kranke konnte den Ton nicht vertragen) und ging leise in die Stube.

»Na, Broer, wo geit?«

»Ni good.«

»Regst dich wohl auf, weil der Justizrat kommen will. Und hast gar keinen Grund.«

Peter Schmidt ging auf diese Einleitung nicht ein, weil er sie nicht verstand.

»Broer«, sagte er, »ich lebe nicht mehr lang.« »Ah, Peter, bilde dir nur nichts ein!«

»Nä, Hinnerk, es dauert nicht mehr lang. Und der Propst hat gesagt, ich darf Hans nicht verkürzen.«

»De Propst? De Propst schnackt wull wat. Wat geit den Propst uns Saken an?«

Peter schwieg.

»Wat geit em dat an?« hatte Hinnerk gesagt, und erst allmählich wurde ihm klar, was es im Gefolge habe, wenn es nach dem Propsten gehe. Und als es ihm klar geworden war, fuhr er auf, Gewitter im Ton.

»Wat s dat för n Schnack? Un du, und du?« Er stand in hellem Zorn vor seines Bruders Stuhl und wußte nicht, wie es dem Kranken tat, und wollte es auch nicht.

Darin hatte der Justizrat recht, der Geizige geht wie ein verkleideter Donnergott durchs Leben, er will den Donnerkeil, will ihn aber nicht fliegen lassen. Hinnerk Schmidt war vielleicht kein Geizhals, aber der Gedanke, sich etwas von der Fülle der Macht, die im Gelde liegt, nehmen zu lassen, war ihm unerträglich. Und der Lotteriegewinn war ja schon sein eigen. Sollte er sich diese klingende Macht von dem Propsten nehmen lassen? Gott hatte in seiner Güte den Lotterieschatz dem Bruder geschenkt, damit er zusammen mit ihm, mit Hinnerk Schmidt, seine Freude daran habe. So war seine Vorstellung, da mußte er wohl Schmerz, einen schier körperlichen Schmerz fühlen bei dem, was Peter sagte. Er mochte den Gedanken nicht ausdenken. Er war ja gutmütig, und auf eigentlichen Haß war seine Seele niemals gestimmt. Aber wenn er seinen Bruder Hans, der ihm das angetan hatte, nicht liebte, damit meinte er frei vor dem himmlischen Richter bestehen zu können.

Deshalb rief er: »Wat seggst du? Wat is dat? Wat is dat för n Schnack?« und rief es laut und drohend vor seinem kranken Bruder.

Aber das dauerte nur kurze Zeit, ein Blick auf den kranken Mann, und das in den dunkelsten Winkel seiner Seele gestobene Mitleid brach wieder hervor. Er setzte sich auf einen Stuhl, zwang sich zur Ruhe, versuchte zu lachen.

»Nimm mir nicht übel, Peter, du machst Spaß, ich Hab es für Ernst gehalten. Nun seh ich, wie du es meinst. Und das ist recht, Spaß muß sein. So lange, wie der Mensch spaßt, so lange lebt er. Lachen und Spaß ist die beste Medizin, sagt ein altes Sprichwort.«

Die Augen des Kranken sahen den Sprecher traurig an. Peter Schmidt fühlte, daß er den Frieden mit seinem Gewissen nur um den Preis des Unfriedens mit Hinnerk erlangen könne. Denn noch immer ging es die Tapetengirlande auf und ab, das alberne Gespräch: »Wat is dat för een?« »Dat is ...« und so weiter.

Es mußte sein: die Sorge um die ewige Seligkeit war größer als der Schmerz um Hinnerks Liebe.

»Hinnerk«, antwortete er, »mach mirs nicht zu schwer. Bestell den Justizrat ab: Hans soll eben so viel haben wie du. Ich will kein Testament machen.«

Hinnerk saß und hörte, verstand die Worte, faßte aber den Sinn nicht. Oder vielmehr: er faßte den Sinn wohl, aber er glaubte diesem Sinn nicht. Noch immer hielt er eine Wendung für möglich, die den ihm das Erbe wegnehmenden Mummenschanz wegfege und alles wieder zurechtbringe. Er dachte an den Geschichtenerzähler Adolf Steen. Wenn Adolf Steen seine Lügengeschichten vorbrachte, pflegte Hinnerk ruhig zuzuhören und am Schluß zu sagen: ›Adolf, hol di man fast‹ oder: ›Dat mak anner Lüd wies‹ Ihm war auch jetzt, als müsse er sagen: Peter hol di man fast – dat mak anner Lud wies!

Er stand auf und schritt in der Stube auf und ab.

»Jung, Peter«, rief er. »Als Spaß bißchen viel, und im Ernst kannst dus nicht meinen.«

Er sah nicht nach seinem Bruder hin. Hätte er es getan, dann würde er die kummervolle Bitte in des andern Auge gesehen haben: ›Es geht nicht anders, finde dich darin! Bleibt nicht genug für dich, wenn du mit Hans teilst? Hinnerk, sei gut, um meinetwillen. Hör! ich kann keine Luft kriegen, ich sterbe, ich ersticke an deinem Zorn.‹

Hinnerk hörte wohl das Röcheln, die langen, pfeifenden Laute, aber es drang nicht hin nach der Stelle, wo es das Bewußtsein des Augenblicks in die Fänge nimmt. Und weil er sich der Bedeutung der von ihm gehörten Geräusche nicht bewußt wurde, achtete er nicht darauf. Man war ja auch solche Anfälle bei Peter gewohnt. Hinnerk schritt, die Augen auf die Bretterfugen des Fußbodens gerichtet, die Stube auf und ab.

Da brachte Peter heraus: »De Propst hett seggt, min Seligkeit hängt darvon af.«

Hinnerk hatte vor dem Propsten viel Respekt, hier war es aber die unglückliche Erwähnung des Seelsorgers, die Hinnerk Schmidt alle Selbstbeherrschung nahm. Er stand wieder mit Zornesaugen vor Peter: »Nein, mein Jung – da wird nichts aus, das laß ich mir nicht gefallen.«

Peter konnte nur würgen und schluchzen: »Aber Hinnerk, lieber Hinnerk ...« Er müsse doch selig werden, ob Hinnerk denn wolle, daß er ewig in der Hölle brenne?

Aber Hinnerk lief wieder durch die Stube und schalt laut und heftig, das sei son Priestergeschwätz. Und ob Peter denn glaube, selig zu werden, wenn er ihm das nehme, was ihm schon gehöre? Ja, ihm schon gehöre. Was da im Kasten sei, habe er ihm wohl zehnmal geschenkt, und er habe schon auf dem Schulweg gelernt: eenmal gebn un denn weller nehm, is eben so god, as teinmal stehln.

Und wieder stand er vor Peter: »Sag, ists wahr, hast mir das geschenkt?«

»Ja, das hab ich getan«, würgte der Kranke.

»Sühst du woll!« lachte Hinnerk und fing wieder an, auf und ab zu gehen. Und es verlief sich die Zornflut.

Worüber streiten wir uns denn eigentlich? dachte er. Peter will kein Testament machen; war er, Hinnerk, nicht herübergekommen, die Errichtung des Testaments zu verhindern? Das, was im Kasten war, gehörte ihm, daran konnte selbst ein Testament seines Bruders nichts mehr ändern. Ja, wenn er sich recht bedachte, so gehörte es gar nicht zum Nachlaß.

Vom Lehnstuhl kamen wieder die Würglaute des Anfalles.

Der arme Bruder! Hinnerk wollte ihm sagen, daß er bereit sei, den Notar abzubestellen, daß er damit einverstanden sei, daß das Testament nicht gemacht werde. Weiter brauchte darüber nicht gesprochen zu werden – dann war alles gut. Der arme, kranke Mann! Wie er röchelt und nach Luft ringt! Wenn mans nicht schon so oft gehört und mitgemacht hätte, dann könnte man glauben, es sei das letzte.

Hinnerk mitn Fellerbüdel tat es herzlich leid, heftig geworden zu sein. Er nahm sich vor, es durch verdoppelte Liebe wieder gutzumachen. »Peter«, sagte er, noch immer auf und ab gehend, »bist mein lieber Bruder. Es soll werden, wie du sagst, es soll kein Testament gemacht werden. Und dem Justizrat will ich Bescheid sagen.«

Hinnerk Schmidt hat später darüber nachgedacht, ob diese Worte noch von seinem Bruder Peter gehört worden seien, ob der versöhnt, wenigstens halb versöhnt mit ihm aus dem Leben geschieden sei. Er glaubte etwas wie Dank aus seinen letzten Seufzern vernommen zu haben. Aber es sind doch Stunden gekommen, wo er es bezweifelte.

Hinnerk Schmidt setzte sich in den Lehnstuhl und sah zum Fenster hinaus, immer überlegend, wie er am besten, wenn das mal eintrete, was bald kommen müsse, seine Rechte wahre. So saß er einige Zeit – dann war er mit dem Überlegen zu Ende. Und als er zu Ende war, sagte er laut: »Ja, min Broer, denn is je allns god! ... Na, wo geit di dat?«

Und erst, als er gesagt hatte: »Na, wo geit di dat?« da sah er nach dem Sessel hin, in dem der Kranke lag. Und erschrak.

Peter war tot. Er rüttelte ihn, er rief ihn an ... Peter war aus dem Leben geschieden.


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