Timm Kröger
Des Lebens Wegzölle
Timm Kröger

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10

Und es vergingen viele Wochen, die Ernte war größtenteils beschafft, da tat Hinnerk das Papier eines Sonntags wieder hin über den Türrahmen und tat es ganz leise und ganz verstohlen, als begehe er etwas Unerlaubtes.

Das Verzeichnis steckte zwischen Wand und Türrahmen, aber immer dünkte es Hinnerk eine Beruhigung, wenn sein Auge im Laufe des Nachmittags dahin ging und das Papier noch sah.

Nach dem Abendessen fand er sich allein im Hause. Das Gesinde war ausgegangen, Maleen hatte sich, wie öfters, müde und angegriffen gefühlt und das Bett früh aufgesucht. Eine ganze Stunde saß Hinnerk allein rauchend vor der Haustür unter seinen Eichen. Die Niederung rollte ihre Nebel immer höher nach dem Dorf hinauf. Tau fiel auf die Erde, die Luft war feucht und schwer. Eine trübe Kälte legte sich auf seinen unbedeckten Kopf, immer drückender wurde die Einsamkeit.

Hinnerk Schmidt war des Alleinseins gewohnt. Heute aber fühlte er zum ersten mal ein Verhältnis zur Natur und empfand, daß sie zu ihm sprach. Sie sprach von dem über dem Türrahmen steckenden Brief, und ob es nicht geratener sei, ihn vorläufig wieder in die Schatulle zu legen. Aber Hinnerk Schmidt beschloß, es auf eine Art Gottesurteil ankommen zu lassen. Morgen kommt der Briefträger Jochen Thomsen. Die Zeitung pflegt er beim Nachbarn niederzulegen, dessen Kinder sie herbringen, Briefe aber gibt er persönlich ab, und dann holt er einfach vom Türrahmen herunter, was da steckt. Hinnerk wollte es darauf ankommen lassen, wie der Verlauf der Dinge sein werde.

Mit einigermaßen ruhigem Gewissen ging er zu Bett aber im Traum kam die Sorge. Er hatte die ganze Nacht mit etwas Schwerem zu tun, er konnte aber nicht sagen, was. Aber es war etwas, das gar nicht anging, gar nicht zu ertragen war. Erst gegen Morgen gewann es Gestalt. Da saß er, so träumte Hinnerk, unter seinen Eichen, und am Himmel stand ein großer roter Schweifstern. Der warf rotes Feuer auf die Erde und Hinnerk Schmidt wußte, daß die Erde untergehen müsse. Und er war Schuld daran, denn er brauchte nur aufzustehen und den Brief vom Türrahmen zu nehmen, dann war der Weltuntergang abgewendet. Aber er vermochte sich nicht so weit aufzuraffen, es zu tun. So dauerte der Traum, bis der Großknecht in die Stube trat und, wie er jeden Morgen tat, die Scheunenschlüssel vom Haken nahm. Da erwachte Hinnerk Schmidt und stand rasch auf. Denn er erinnerte sich, daß er sich vorgenommen habe, heute bei der Ernte selbst Hand mit anzulegen. Und vor den Tagesgeschäften versanken Traum und Weltuntergang.

Die Roggenernte war beendigt, die Haferernte zur Not, mit dem Mähen des Buchweizens sollte angefangen werden.

Hinnerk machte nach dem Frühstück seinen gewohnten Rundgang durch den Hof. Die Mäher waren vorweg gegangen, über die Hauskoppel blinkten aber noch die Sensen und die weißen Schürzen der Mädchen herüber.

Hinnerk Schmidt hatte vor, beim Stucken zu helfen, und war dabei, die Stiefel anzuziehen, als Jochen Thomsen in die Stubentür trat und einen Brief sowie die Zeitung auf den Tisch legte. Das über dem Türrahmen steckende Schreiben holte er herunter und fragte: »Schall dat mit?«

Der Bauer stieß mit der Stiefelhacke auf den Fußboden. Er empfand es als eine Art Vergewaltigung von Jochen, daß er ihn zur Entscheidung nötige.

Warum fragte Jochen überhaupt? Das tat er doch sonst nicht. Durch die Frage brachte er ihn um die Ausrede vor seinem Gewissen, er sei noch gar nicht fest entschlossen gewesen, den Brief abzuschicken. Er antwortete daher nicht gleich, stieß vielmehr mit der Stiefelhacke gegen die Schwelle der Stubentür.

»Nu, wollen sie nicht?« warf Jochen ein.

»Nein, sind eingetrocknet, überm Spann zu eng.«

»Dann muß Mars Schuster sie aufblöcken.«

»Denk ich auch«, antwortete der Bauer, rief auf seine Frau und forderte das neue Stiefelpaar, das in der Kellerstube sei.

»Ja«, redete Jochen weiter, »Stiefel, die man nicht täglich trägt, werden eng und brüchig«.

Er wog den Brief noch immer in der Hand und wiederholte seine Frage: »Schall dat mit?«

»De Breef? – Ja, de schall mit.«

Hinnerk fühlte, daß dies Wort ein Markstein auf seinem Lebenswege sei. Jochen Thomsen aber steckte das Papier gleichmütig in seine Ledertasche.

Die neuen Lederstiefel waren nicht gleich zu finden, die alten hatte der Bauer abgestreift, nun schlüpfte er vorderhand wieder in seine Pantoffeln. Und in Pantoffeln schlürfte er nach dem Hofplatz hinaus, als Jochen Thomsen durch die Pforte ging. Er atmete tief, die Stubenluft hatte schwer auf ihm gelegen.

Die Sonne stand noch nicht hoch, sie sah unter den Laubkronen her und malte den Schatten des eilfertig davongehenden Briefträgers langgestreckt am Boden hin, den Oberkörper am Scheunendach emporreckend. Das Gehen, das Handschlagen übertrug sich dort in eine schwingende Bewegung, der Schatten wurde klein und kleiner; dem Nachschauenden war dabei zumute, als ob Jochen Thomsen sein gutes Gewissen in der Ledertasche davontrage.

Hinnerk Schmidt stand und sah. Jochen Thomsen wird gleich am Fußsteig sein, der über Viehdals Kamp führt, dann werden er und sein Schatten hinter dem Knick verschwinden. Aber bevor sie verschwanden, kamen sie in Ruhe und ein kleinerer Schatten war daneben. Neben Jochen Thomsen stand ein Knabe, Hinnerk sah hin und erkannte ihn. Es war der Sohn der Rühmann, derselbe, der dem fremden Schmiedegesellen so ähnlich sieht und noch immer keinen Vater hat. Kein anderer Knabe im Dorf steht so alt auf seinen jungen Beinen und steckt so tief in der Mütze. Von ihm wußte Hinnerk sich frei, mit dem hatte er nichts zu tun. Aber er fühlte immer wieder die Scham über seine schwächste Stunde, wenn er ihn sah.

Hinnerk hatte nach der Buchweizenkoppel gewollt, aber die Sorge, dem vermaledeiten Jungen zu begegnen, bewog ihn, aus dem Dielentor die Richtung nach den Wiesen zu nehmen. Das heißt: so hatte er beschlossen. Aber er kam auch dazu nicht. Er war noch auf der langen Diele, da hörte er die Haustür gehen, und eine laute Stimme die Hausfrau begrüßen.

»Tausend noch mal, das ist ein Jahr! Das gibt Taler, was? Das mögt Ihr wohl. Ist Hinnerk zu Haus?«


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