Timm Kröger
Des Lebens Wegzölle
Timm Kröger

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5

Der Kurs war gegeben, Harder Rickers war Holzhändler, freilich nur ein kleiner, aber immer noch zu groß für seine Mittel. Die an den Zimmerplatz stoßende Weide hatte sich in einen Holzplatz verwandelt. Harder machte seinem Ideal Jochen Riese alles nach und bemühte sich, zu räuspern und zu spucken wie er.

Was helfen einem Mann, der mit Blindheit geschlagen ist, Töchter, und wenn sie auch noch so klug sind! Katrien sah klar, wie es kommen mußte. Sie bat, sie flehte, sie beschwor. Aber das alles war machtlos bei dem am Goldfieber erkrankten Meister Harder. Er liebte seine Tochter, aber er betete zu Jochen Riese und nicht zu seiner Katrien. Er schlief und schnarchte nicht mehr so ruhig, wie er früher geschlafen hatte, er wachte ganze Stunden. Und in langen schlaflosen Stunden der stillen Nacht mußte er immer (er mochte wollen oder nicht), mußte immer rechnen, mehr kopfrechnen, als er je in der Schule getan hatte. Anfangs rechnete er aus, wieviel Gewinn er davontragen werde, und schlug ärgerlich auf die Decke, weil er sich verrechnete, da er bald eine Null zu wenig, bald eine zu viel genommen hatte. Aber allmählich – ganz allmählich – mußte er anders rechnen, die Verluste ziffernmäßig feststellen, die er erlitten hatte oder demnächst erleiden müsse. Und endlich bedurfte es schon einer ganz haarscharfen und verwickelten Rechnung, um klar zu machen, wieviel seine Schulden mehr betrügen als sein Vermögen, wenn er das Haus zu soviel und die Weide mit soviel und seine Waren mit soviel ansetze und seine Ausstände ›alle einkriege‹.

Schließlich war es aber doch nicht mehr wegzuleugnen, daß er mehr Schulden als Vermögen hatte. Aber da kam die Hoffnungsseligkeit. Man sagt es den Schwindsüchtigen nach, daß sie sich über ihren Zustand täuschen und ewig hoffnungsvoll bleiben. Aber sind die, die am Schwund der Lungen leiden, hoffnungsvoll, so sind die am Vermögensschwund Leidenden hoffnungsselig. Dort ist sie eine häufige, hier aber eine fast regelmäßige Erscheinung. Wenn der Kanzleidiener des Gerichts schon die Tinte, womit ihre Falliterklärung unterschrieben wird, dem Richter ins Glas gießt, wenn die Formulare ihres Konkursproklams bereits im Fach zur nächsten Verwendung nach oben gerückt sind und bei jedem Luftzug erbeben – dann sind sie noch immer im Besitz der Überzeugung, alle Verlegenheiten, die sie gewissen Zufälligkeiten und gewissen Schlechtigkeiten zuschreiben, beseitigen zu können. Für die ganze Welt mag ihre geschäftliche Unfähigkeit klar sein wie der Tag, sie selbst würden es nicht zugeben wollen, auch wenn wieder mal ein Walfisch den göttlichen Befehl erhielte, einen Jonas auszuspeien, und dieser Jonas die ganz aparte Sendung bekäme, ihnen zu predigen, wie dumm sie eigentlich seien.

Eine ganze Zeitlang dauerte die Seligkeit des Wechselziehens. Harder hatte unten und hinten und quer – meistens quer – geschrieben. Beim Schreiben war Harder in der Schule Nummer zwei gewesen; es machte ihm jetzt eine kindische Freude, die lange entwöhnten Finger wieder geschmeidig zu machen. Erst hatte er seinen Namen hingepflügt, und sein Freund hatte dem Dokument durch sein ›Joachim Riese‹ erst seinen Wert gegeben, auf Grund dessen es, zum Erstaunen von Harder, als bares Geld bei der Bank in der Stadt angenommen worden war. Rieses Namenszug hatte auf ihn starken Eindruck gemacht; die selbstbewußte, einzige, wichtige Hand! Wie er in allem seinen Meister nachzuahmen sich bemühte, so auch in der Schrift. ›Harder Rickers‹ sollte aussehen wie das ›Joachim Rieses‹ jeder Buchstabe seines ehrlichen Namens sollte ebenso wie die J, die R und so weiter bei Riese sagen: ›Das bin ich, und ich bin der Einzige‹. Aber erst nach langer Übung gelang ihm – nicht das, was er wollte, aber doch eine Annäherung, erst das Gewicht und dann eine Art Fluß der geläufig hingeworfenen Buchstaben. Aber seiner merkwürdigen, wir wollen sagen kindischen Eitelkeit, genügte das nicht. Je mehr Jochen Riese vor ihm aufwuchs, um so knechtischer glaubte er ihn nachahmen zu müssen. Er saß ganze Sonntage in seinem Bretterschuppen draußen auf dem Holzplatz, den er sein ›Kontor‹ nannte, und malte Joachim Rieses Namen. Dabei dachte der ehrliche Meister bewußterweise noch mit keiner Faser an einen anderen Zweck als an den, ebenso charaktervoll zu schreiben wie Jochen. Sein böser Dämon aber stand hinter seinem Stuhl und sah auf die besser und immer besser gelingenden Übungen des alten Mannes. Harder wollte hinter das Geheimnis jener charaktervollen Zeichen kommen, er wollte ihre mystische Seele ergründen. Aber hinter seinem Stuhl standen seine innersten, seine werdenden, da standen seine zukünftigen Gedanken.

Wenn der Alte im Kontor Buchstaben malte, dann saß Katrien in der Stube. Sie lebten sich ganz auseinander. Selbst den Kaffee brachte sie ihm in den Bretterverschlag. Einmal war er wieder dabei, Namen zu schreiben, als ihn das Tassengeklirr aufschreckte. Da war es ihm plötzlich, als ob er etwas Unerlaubtes tue. Er versuchte den Bogen zu verstecken. Aber Katrien hatte es bemerkt, sie zog schweigend – sie war überhaupt still und schweigsam geworden – die arme Katrien zog den Bogen ruhig unter dem Hauptbuch hervor und betrachtete das vollgekritzelte Blatt.

»Vater!« rief sie.

»Was, mein Tinchen?«

»Du ahmst Jochens Handschrift nach, Vater. Das ist nichts Gutes, das führt ins Verderben.« Bleich und strafend stand sie vor ihm.

Der Alte sah aus wie ein ertappter Junge. Aber er versuchte sich zu fassen. »Mach doch nicht so Anstalten, Katrien«, sagte er. »Was Hab ich denn getan? Ich schreib seinen Namen, um zu sehen, wie man es macht, daß es nach was aussieht.«

»O Vater! Was du gedacht hast, was du gewollt hast, ich weiß es nicht, ich will es dir glauben. Ich weiß aber auch, daß du seinen Namen mißbrauchen wirst, wenn es sich mal um das Letzte handelt.«

Erst zerknüllte sie den Bogen. Aber dann genügte ihr diese symbolische Vernichtung nicht. Sie strich ihn mit der Hand wieder glatt und zerriß ihn dann in hundert Stücke. Sie brach in krampfhaftes Weinen aus und bedeckte ihre Augen.

»O Vater, was tust du! Du meinst, spielen zu dürfen in deinem Sinn. Aber solch Spiel führt zu keinem guten Ende.« Sie ließ die Augen frei und warf sich dem alten Mann an die Brust.

»Ich weiß, wie es steht, hör ich dich doch Nacht für Nacht rechnen, Zahlen und nichts als Zahlen. Der Gerichtsdiener kommt Tag für Tag. Ich weiß nicht, was er bringt, aber ich weiß, daß es Unheil ist. Das ist schlimm, aber das Schlimmste ist es nicht, das soll alles nichts machen. Es ist Unglück, vielleicht Ungeschick, aber keine Unehrlichkeit. Sie werden kommen und nehmen, was wir haben. Laß sie, wir wollens tragen. Ich bin jung und gesund und stark. Und du, bist du nicht auch rüstig und hast von Natur ein gutes Herz? Wir wollens hingeben, aber ehrlich, ehrlich wollen wir bleiben!«

Der arme Meister! In solcher Lage hatte er sich noch nicht gesehen. Anfangs hatte er zornig werden wollen, und bei dem, was die Katrien ihm zutraute, glaubte er tausend Gründe dazu zu haben. Aber er konnte mit seinem ›Aufbegehren‹ nicht zustande kommen. Es war wunderlich, irgendwoher sprach eine Stimme: ›Sie hat recht, du bist schon jetzt ein halb verlorener Mann.‹ So mußte er es aufgeben, wütend zu werden, er wurde nur gerührt. Und dann kam ein fürchterliches Mitleid mit sich selbst und mit der Tine über ihn. Er weinte mit der Tochter zusammen. Schließlich faßte er sich.

»Kind, Katrien«, sagte er, »du siehst es zu schlimm an, so steht die Sach doch nicht.«

Von der Möglichkeit, unehrlich zu werden, schwieg er. Wog er sein sittliches Schwergewicht und befand es zu leicht?

 

Vier Wochen ging es hin.

Harder stand vor Jochen Riese in dessen Kontor, ein Wechselblankett in der Hand. Es handelte sich um nochmalige Verlängerung. Er sah alt und grau und verzagt aus; Jochen, der Einzige, der Wohltäter, hatte ein verflucht geschäftliches Gehaben.

»Tus, Jochen!« wiederholte Harder. »Tus, sonst bin ich verloren.«

»Tus, Jochen, sonst bin ich verloren«, ahmte ihm der andere nach. »Und das soll für mich ein Grund sein, Tausende wegzuwerfen.«

»Ich bitte ja nur um deine Unterschrift«, entgegnete Harder.

»Ja um meine Unterschrift, um Jochen Rieses Unterschrift, die so viel wert ist wie klingendes Bargeld. Ich muß es doch bezahlen, denn du kannst es nicht und wirst es in Zukunft auch nicht können. Wenn ich hier meinen Namen hinschreibe, meinen guten, ehrlichen Namen, sieh so!« (er malte sein Joachim Riese auf ein Stück Papier), »dann zieht jeder den Hut. Aber dein »Harder Rickers« ist nichts als Luft, für die auf der Bank, und für mich auch.«

Jochen war in Gefahr, sich im Hochgefühl zu verlieren.

»Ja, aber«, wagte Harder zu unterbrechen, »wenn du später zahlen mußt, dann mußt dus ja auch, wenn du nicht schreibst.«

»Dummer Kerl, siehst du denn nicht, daß just das meine Rettung ist? Ich prolongiere nicht, nicht wahr? Der Wechsel ist fällig, nicht wahr? Die Bank verlangt es von mir, nicht wahr? Ich deponiere es bei der Bank und klage gegen dich, pfände deine Holzvorräte, deine Mobilien, deine Forderungen, mache die Hypothek an dem Haus geltend; das Häuschen wird gerichtlich verkauft, alles wird gerichtlich verkauft, soweit es nötig ist – und ich bin gedeckt. Bin ich ein gutmütiger Hans Narr und prolongiere, dann machst du, so gewiß wie zweimal zwei vier ist, neue Dummheiten und fährst die Karre immer tiefer in den Dreck. Nicht wahr? Andere kommen mir zuvor – ich weiß, du bist bei Partsch & Ehrich gewesen, die haben natürlich auch Wechsel in Händen (weh, oh weh, die Prozente!), du hast vielleicht schon die Klage bekommen, nicht wahr? Nach drei Monaten ist das Nest ausgenommen, und ich habe das Nachsehen. – Und wenns noch einen Zweck hätte!« fügte Jochen hinzu. »Aber bei dir ist Hopfen und Malz verloren.«

Meistes Harder sagte gar nichts; er fühlte, daß Jochen Riese recht hatte.

»Wie konntest du auch so unsinnige Geschäfte machen?« fing Jochen wieder an. »Weiß Gott, ich habe dir geraten, als wäre ich dein leiblicher Vater. Und so lange du mit mir gingst, wars gut; du verdientest Geld, und die Sache machte sich. Dann, ja dann wolltest du selbst der Kluge sein und hast dich denn auch hineinlegen lassen, daß es man so raucht. Nun sieh auch zu, wie du herauskommst!«

Jochen hatte vergessen, daß Harder sich erst auf seinen Rat selbständig gemacht hatte.

»Jochen«, bat Harder wieder, »nur dies eine mal noch. Ich sehe es ein, ich war nicht klug, aber es wird anders werden, Jochen!«

»Riese ist mein Name!« unterbrach ihn hart und herrisch sein väterlicher Berater, der Mann mit dem seinen Ehrgefühl.

»Also Riese, Herr Riese, wenn dus lieber willst. Ich tu alles, um dich zu erweichen. Ich falle dir zu Füßen, ich knie vor dir.« Er tat es wirklich.

Jochen aber stellte sich ans Fenster und fing an zu pfeifen. Er pfiff seine Lieblingsmelodie: »Muß i denn, muß i denn zum Städtelein hinaus«, brach aber ab und kehrte sich rasch um. »Rickers«, sagte er, »du machst dich zum Narren und außerdem sandig. So was verfängt bei mir nicht.«

»Jochen«, redete Harder Rickers ihn noch einmal verbotener Weise an, »Hab Mitleid mit mir, und wenn nicht mit mir, so doch mit meiner Tochter! Das Kind vergeht.« ›Se översteit dat ni‹, drückte Harder sich aus.

»So, so«, murrte Jochen und sah befriedigt drein. »Fräulein Tochter kommt es hart an!«

Er lächelte so fein, wie er konnte, und flötete sein ›Muß i denn‹ so leise, wie er vermochte. Dann machte er ein ernstes Gesicht und setzte sich breit in seinen Stuhl. Seinem Freund hatte er keinen angeboten, der stand, wie sichs für einen Bittsteller schickt, am Schreibtisch, die Mütze in der Hand. Nun sah man erst, wie häßlich der Holzhändler eigentlich war. In diesem Augenblick waren seine Haare gar nicht blond, sondern rot.

Jochen Riese sann nach. Erst lagen die Augen glanzlos in ihren Höhlen, sie waren nach innen gerichtet und besahen die Seele, die ihr Eigner hatte. Dann schlossen sie sich ganz. Riese wurde nach außen ganz blind, um seine Pläne um so deutlicher zu prüfen. Er fing an zu lächeln und mit den Fingern auf die Tischlatte zu trommeln.

»Die Katrien ist also traurig«, sagte der blinde Jochen.

Meister Harder weinte selbst, als er antwortete: »Sie weint Tag und Nacht.«

Nun öffnete Jochen die Lider, er hatte wieder Augen. »Vielleicht gibt es noch Mittel«, sagte er groß und gemessen. »Ich unterschreibe das Ding nicht nur, sondern löse es auch ein, ohne Ersatz zu beanspruchen.«

»Jochen, du wolltest ...« Ein Hoffnungsstrahl, an den Harder vorläufig selbst noch nicht glaubte, fiel in seine Seele.

»Ja, ich wollte, aber ich stelle meine Bedingungen: Du holst sofort deine Tochter. Deine Tochter bittet mich, sie zu heiraten, und ersucht mich, ›liebes Tinchen‹ zu ihr zu sagen. Und dann sagt sie ›mein lieber Jochen‹ zu mir und erklärt mich für einen guten Menschen und sagt, daß sie mich liebt, und zwar aus dem Grunde ihres Herzens und mit reiner, aufrichtiger Liebe. Und wie sichs für Brautleute schickt, umarmt sie mich und küßt mich. Und wenn das alles geschehen ist, dann unterschreibe ich den Wechsel, und das andere, was ich versprochen habe, gebe ich schriftlich.«

»Aber Jochen ...«

»Was ist?« fragte dieser.

»Das tut Katrien nicht.«

»Dann ist Katrien ein undankbares Mädchen und eine lieblose Tochter, dann unterschreib ich auch den Wechsel nicht.«

»Das ist ja ganz unnatürlich und unmenschlich«, eiferte der Alte.

»Ich bin nun mal für das Unnatürliche und Unmenschliche.«

Ein Arbeiter trat ein. »Ja, ja«, rief Jochen ihm entgegen, »geh nur, ich komm.«

»Du mußt mich wirklich entschuldigen«, wandte er sich an Harder. »Ich geh jetzt. Ich hab Geschäfte. Du kennst ja meine Meinung, und nach der Kontoruhr kannst du deine Rübe einstellen. Also nach einer Stunde.«

Als der Alte das Zimmer verlassen hatte, rief Jochen den Arbeiter zurück. »Wir wollen es jetzt lassen, Krischan«, sagte er. »Heute nachmittag ist auch noch früh genug. Ich komme heute nachmittag.«

Krischan verschwand durch die Tür nach dem Schneideraum. Um ihn kümmerte sich Jochen nicht. Jochen verfolgte durch das Fenster den langsam über den Hof gehenden Harder. Dann trat er zurück, warf die Arme in die Luft und lachte laut auf, aber nicht aus dem Kehlkopf, sondern aus voller Brust. »Die soll mir schon kommen! Endlich, endlich! – Ich will sie feierlich empfangen. Leider fehlt mir die Palme. Will mal sehen, was sich mit den Sachen machen läßt, die ich besitze.«

»Lene! Heinrich!« rief er durchs Haus.

In seiner Wohnstube ließ Joachim Riese zusammentragen und auf Reolen amphitheatralisch aufbauen, was seine Räume an Gewächsen bargen. Dem großen Spiegel gegenüber richtete er seinen die Palme vertreten sollenden Blumenhain her. Da wollte er Braut und Brautvater empfangen.

Mit gravitätischer Miene setzte er sich hinein und wartete auf Katriens Liebeserklärung.

Er wartete eine Stunde. Katrien kam nicht. Er wartete noch eine in seinem Hain. Und die nicht kamen, waren Harder und Katrien.

Da gab er Befehl, alles wieder wegzutragen.

»Verrücktheit!« sagte Lene. »Blödsinn!« drückte sich Heinrich aus. Aber sie schafften nach dem Gebot.


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