Timm Kröger
Des Lebens Wegzölle
Timm Kröger

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4

Als Peter Holling von Jochen Vollstedts Koppel nach Hause gekommen war, fühlte er sich schläfrig und müde. Er saß und gähnte, aß wenig und ging früh zu Bett: »Dat oll Drinken!« Man hörte ihn auf sich scheltend nach seiner Kammer gehn. Er schlief nahe am Dielentor, weil es ihm für den Wegzoll bequemer war.

Im Bett fand er nicht die gesuchte Ruhe. Alles, was er mit Hans Rohwer besprochen hatte, lebte wieder auf. Mit dem Brückenzoll kam er nicht zurecht. Wenn ihm der genommen würde – den Gedanken wollte er nicht ausdenken. Es verhielt sich so, wie Hans Rohwer sagte, es stand Lateinisches im Kontrakt, es konnte wohl sein, daß darin etwas enthalten war, was für heute sein Privilegium aufhob. Früher hatte das Zollhaus den Weg gebessert, vor drei Jahren aber, da hatte das Amt die Unterhaltung übernommen, ohne daß, wie es schien, der Brücken- und Wegzoll zur Sprache gebracht worden war. Die Unterhaltungskosten wurden auf die Amtsunkosten verrechnet; zu den Amtsunkosten trugen alle Amtseingesessenen bei. Es war also richtig, was Hans Rohwer gesagt hatte, auch die aus dem Dorf ›kontribierten‹ dazu. Aber, was ging das Zollhaus das an? Man hatte ihn nicht zu den Verhandlungen herangezogen, man hatte ihm nichts gesagt, deshalb ließ er es so, wie es war. Wenn das Amt den Weg machen wollte: ihm nicht zuwider. Er fuhr fort, Sand und Busch dahin zu bringen, wo es dessenungeachtet nötig schien; die Brücke hatte er alle drei Jahre geteert.

Daß er den Weg besserte, das schien die Amtswegebehörde niemals bemerkt zu haben. Vor der frisch geteerten Brücke hatte der Wegeinspektor einmal gestanden und hatte gefragt: »Wir streichen doch sonst alle Brücken grauweiß. Wie kommt es, daß diese geteert ist? Ich muß mal mit Bruhn« (Bruhn war der Distriktswegeaufseher in Schönmoor), »ich muß mit Bruhn sprechen. Nun, ein Teeren tuts am Ende auch, ist im feuchten Moor vielleicht besser als graue Farbe.« Dabei war es geblieben, er hatte mit Bruhn nicht gesprochen.

Seinem Nachbar Hans, als dessen Freund er geschieden war, mißtraute der Zollwirt wieder, als er im Bett lag. Der große Steinhofbauer paßte, das war ihm klar, nur die Gelegenheit ab, um selbst die Probe auf den Brückenzoll zu machen. Das war am Ende auch natürlich. Just so hätte Peter Holling, stünde er an des Nachbars Stelle, gehandelt; weshalb sollte dieser anders tun? Entschädigung vom Amt? Sich von Herodes zu Pilatus schicken lassen? Nein, darauf wollte er sich nicht einlassen. Der Verkehr war im Steigen, 32, sage zweiunddreißig Schillinge hatte der Zoll in den letzten drei Tagen eingebracht. Das war keine Kleinigkeit! Nein, das Recht wollte er sich nicht für ein Butterbrot nehmen lassen.

Endlich kam Peter in seiner Bettstatt zum Entschluß. ›Er ist beim Advokaten gewesen‹, sagte er für sich, ›ich will auch zum Advokaten. Mein Wagen geht ohnehin nach Delf, ich fahre selbst und mache den Umweg zur Stadt.‹

 

Am folgenden Morgen war Peter, bevor Anna vom Melken zurückkam, auf der Landstraße. Noch vor Mittag fuhr er von Delf durch die Stadt zurück. Den ganzen Weg hatte er geschwankt, ob er zu Advokat Paulsen, der galt für ehrlicher, oder zu Muth, der sollte geriebener sein, gehen wolle. In der Torfahrt des alten Walles änderte er seinen Plan; er wollte zu gar keinem Advokaten, er wollte zum Volksanwalt. Die Studierten – teurer sind sie, und wenn man heimkommt, ist man so klug wie zuvor. Das steckt immer voll von Bedenken und Bedingungen. Wenn sie den Mund auftun, dann scheints, als ob sie einem recht geben wollen. Nachher folgt ein Sermon, der alles zurücknimmt. Und der Bescheid, den man nach Hause tragt, ist schließlich so eingewickelt und umhüllt, daß man ihn kaum noch findet. Peter Holling knipste mit der Peitsche und sagte zu sich, oder wenn man will, zu seiner Fuchsstute: ›Wir fahren zum Volksanwalt Georg Heinrich Joens in Schönmoor.‹

Schönmoor lag am Weg, nicht weit auf der andern Seite des Moors, über das die Straße führte. Es war ein Kirchdorf, hatte eine Kirchspielvogtei, wo kleinere Sachen niederer Gerichtsbarkeit erledigt wurden. Georg Heinrich Joens machte sich als Parteivertreter dabei nützlich oder, wie mans nehmen will, unnütz, befaßte sich mit schriftlichen Eingaben und spielte den Volksanwalt.

Mitten im Dorf lag eine Bauernstelle, die nach den Gebäuden nicht gar umfangreich sein konnte, mit einem Vorgarten nach der Straße, dreißig Schritt vielleicht zurück. Ein Mann in den Fünfzigern hatte den Rock ausgezogen und war dabei, zu graben. Peter wechselte mit ihm die Tageszeit. »Ich wollte noch ein bißchen einsäen«, sagte Georg Heinrich Joens zu Peter, denn er war es selbst. Peter, der mit seinem Fuhrwerk im Wege hielt, billigte das. »Ich hätte gern ein paar Worte mit Ihnen gesprochen«, bemerkte er seinerseits. »Kommen Sie rein«, erwiderte Georg Heinrich Joens und steckte den Spaten ein. Der Zollhauswirt fuhr auf die Hofstelle.

Gewöhnlich haben die in Erzählungen auftretenden Volksanwälte rote, fette, klebrige Haare, sommersprossige Gesichter; Verschmitztheit, Niederträchtigkeit und Gemeinheit steht ihnen auf der Stirn. Ich muß um Entschuldigung bitten – aber so sah mein Volksanwalt, so sah Georg Heinrich Joens nicht aus. Joens, der nach wenigen Minuten in einem schwarzen, abgeschabten Tuchrock rauchend im Lehnstuhl saß und Peter Hollings Papiere las, machte mit seinem guten, offenen Gesicht den Eindruck eines ehrsamen, besser erzogenen Mannes. Und wenn auch die Augen auffällige Nachbarschaft hielten und die Stirn eng schien, so sprach das nicht gegen eine gute Gesinnung. Das war sicherlich kein in der Lauge abgebrühter Gauner, das war höchstens ein etwas bornierter Mensch. Wie ein kleiner Landpächter sah er aus, der mit seinen Mitteln haushalten muß. Und das traf buchstäblich zu. Er hatte ein Gut besessen und es verprozessiert. Das war so gut wie ein juristisches Examen, dabei hatte er manches angenommen und gelernt und gesehen, wie ein Advokat sich räuspert. Nun hatten seine Freunde ihm zu einer kleinen Pachtung verholfen, wobei er die Volksanwaltschaft im Nebengewerbe betrieb.

Während Georg Heinrich Joens die vergilbten Papiere entfaltete und durchlas, gingen die Augen seines Klienten über die großen und wohlbesetzten Bücherregale. So viel Bücher hatte Peter noch niemals auf einem Fleck gesehen, so viel standen, meinte er, nicht einmal bei Advokat Paulsen. Die Menge und das Alter der Einbände! Ob Joens die wohl alle durchgelesen hat? Peter nahm wahr, daß auf dem Rücken eines ganzen Berges langer Bände gedruckt stand: ›Gesetze und Verordnungen.‹ Gesetze und Verordnungen, das erweckte bei Peter ähnliche Gefühle, wie das verschleierte Bild zu Sais bei dem die Wahrheit suchenden Jüngling. Für ihn war Georg Heinrich Joens ein Isispriester, ein Bewahrer der Geheimnisse des geschriebenen Rechts. Ja, wer so viel Bücher hatte, der mußte ein grausam kluger Mensch sein.

Und der grausam kluge Mensch schlug mit der flachen Hand gewichtig auf die Privilegien und sah den Zollwirt mit treuherzigen Augen an. »Holling«, sagte er, »das ist ein schwerer und tiefer Kontrakt.«

»Ja«, erwiderte Peter. »Latein ist auch drin, und hier stehts.« Er bog sich nach dem Schreibtisch hin und zeigte den Satz mit dem Finger. »Könnt Ihr das verstehen, Joens?«

Joens warf einen Blick auf die Stelle und lachte. »Ich wär ein netter Advokat, wenn ich das nicht könnte.« Auf eine Übersetzung ließ er sich aber nicht ein. Er wiederholte, es sei ein schwerer Kontrakt, und da müsse er erst mal die Gesetze nachlesen.

Darüber war Peter Holling enttäuscht. »Wißt Ihr denn die Gesetze nicht ›buten Kopp‹?« fragte er.

Aber der weise Mann lachte wieder. »Was Ihr euch einbildet, Holling. Seht, das ist so. Es gibt welche Gesetze, das sind die echten, die das festsetzen, was selbstverständlich und nicht abzuändern ist, die weiß man aus dem Kopf. Ich will mal sagen ...«

Joens holte sich die Pfeife wieder, zündete sie an und sann nach. »Na, ich will mal sagen, daß man seine Schulden bezahlen muß. Das ist so ein echtes Gesetz« sagte er gewichtig.

»Muß denn darüber noch ein Gesetz sein?«

»Nein, das ist nicht nötig. Und diese nicht notwendigen Gesetze, die sind eigentlich gar keine Gesetze, die nennt man natürliches Recht, die weiß ein Advokat ausm Kopf.«

Peter hatte sich bisher zugetraut, das auch zu wissen.

»Und dann gibts welche Gesetze«, fuhr Joens fort, »die meistenteils vernünftig sind und deshalb bei allen Völkern gelten und schwer abgeändert werden. Die hat man auch so am Band.«

Joens wollte das mit einem Beispiel belegen. Er lehnte sich zurück und paffte kräftig. Man sah es dem engen Kopf ordentlich an, wie es dahinter arbeitete und wie Verstand und Gedächtnis sich auf die Hinterbeine setzten.

»Es läßt sich schwer was finden«, sagte er ein bißchen mißmutig über seine aufsässigen Talente. »Nun, ich will mal sagen, daß ein Unmündiger einen Vormund haben muß. Das wird da hinein fallen. Das ist ja nur ein Exempel, aber ich habs anführen wollen. Bei diesen und solchen Sachen, da weiß man meistens auch Bescheid, ohne daß man die Gesetze ansieht.«

Wenn Peter Holling nicht vor einem Mann gesessen hätte, den er für gelehrt hielt, er hätte wahrhaftig geglaubt, was Alltägliches zu hören. Da er aber vor Georg Heinrich Joens saß, so war er gewiß, es stecke ein geheimer Sinn in den Worten. Aus diesem Grunde hörte er ehrfurchtsvoll zu und – bestaunte vorweg das ihm unbekannte Geheime.

»Aber«, sprach Gorg Heinrich Joens weiter, stand auf und ging rauchend und gestikulierend vor Peter Holling auf und ab, »und dann gibt es welche Gesetze, die als ein Singuläres, wie wir Juristen sagen, als ein Spezielles dem Natürlichen hinzutreten.«

Peter ging es wie ein Mühlrad im Kopf herum, und gerade weil es mit ihm rundum ging, freute er sich über den gestikulierenden Joens. Denn ein Mensch, der so hochtönende unverständliche Worte machen konnte, war sicher ein gelehrter Mann.

»Solche Gesetze«, schloß Joens, »die weiß kein Mensch ausm Kopf, die muß man, wenn ein besonderer Fall kommt, nachsehen. Ja, dann muß man in der systematischen und chronologischen Sammlung der Gesetze und Verordnungen« (seine Hand beschrieb einen Kreisausschnitt, worin die ganze Bibliothek an der Wand beschlossen war) »nachlesen, da muß man all die Bücher studieren. Und zu den speziellen Gesetzen gehören die, die in eurem Fall in Betracht kommen.«

Er nahm die Papiere in die Hand. »Ich sagte schon, das ist ein schwerer Kontrakt. Ah, Holling, seid so gut und sprecht in einer Stunde wieder vor.«

Im allgemeinen war der Eindruck ein guter, den Peter mit hinwegnahm.

Er überließ den gelehrten Mann sogar zwei Stunden dem Studium der singulären Rechte und Spezialgesetze und fuhr nach dem nur eine Viertelstunde entfernten Bostedt zu einer dort wohnenden Schwester. Er traf zur Kaffeezeit ein, bekam auch noch Lesefrüchte vom Mittag. Sein Schwager stärkte das Vertrauen zu dem gelehrten Mann, der inzwischen die unechten Gesetze, die allein welche sind, studierte, das Vertrauen zu diesem Mann steigerte er ungemein: »Der, der, der steckt fünf richtige Advokaten in die Tasche«, beteuerte er. Und er erzählte Geschichten von hohen Persönlichkeiten, denen der Mund von Georg Heinrich Joens aus Schönmoor gestopft worden war.

Der belobte Mann hatte seinen Spruch auch längst zurecht, als Peter zurückkam. Einiges hatte er noch zu fragen, aber es war wenig. Und dann schoß er los. Sachlich ging er zwar mit dem Gegner scharf um, in der Form aber blieb er mild, und wohlwollend sein Gesicht.

Im dunkeln, abgeschabten Tuchrock, das schwarze Haar leicht ergraut, ein wohlgenährtes und doch nicht zu fettes Gesicht, braune, freundliche, dicht zusammenstehende Augen mit dichten, schwarzen Brauen, eine stattliche Gestalt, im Lehnstuhl sitzend, eine lange Hauspfeife in der Hand, bequeme Filzschuhe an den Füßen, Blumentöpfe vor den Fenstern, die Sonne auf dem Schreibtisch, eine gelehrte Bibliothek ringsum. Und da sollte man kein Vertrauen haben?

Das Lateinische, lehrte er, heiße etwa: Da ich, der König, so gut gewesen bin, dem damaligen Holling ein Privilegium zu geben, so wird Holling auch gut sein. Er wird was an dem Weg und an der Brücke tun. Eine Verpflichtung, so, daß das Zollhaus es müsse, sei nicht ausgesprochen. Da nun das Zollhaus ohnehin bis in die jüngste Zeit was getan habe, so sei die Sache ganz klar: es dürfe kein Mensch ihm wegen des Privilegiums ›an den Wimpern klimpern‹. Joens drückte sich so aus, er war als junger Mensch in Berlin gewesen und liebte es noch immer, den Berliner zu markieren.

»Das Lateinsche«, fragte Peter Zollwirt sanft, »sonst führt das nichts im Mund?«

»Gar nichts, Holling.«

»Auch nicht, wenn es jetzt ein Amtsweg ist?«

»Geht uns gar nichts an.«

»Und das Lateinische hat da keine Fußangel?«

»Wieso, Fußangel?«

»Ich meine, daß da gesagt ist, wenn es so kommt wie jetzt, dann kann das Zollhaus nichts verlangen. Oder daß es doch so ausgelegt werden kann?«

Der Volksanwalt blickte auf seine Fingernägel und blieb drei Sekunden lang stumm. Dann sah er seinem Kunden voll und breit in die Augen. »Ihr könnt ganz ruhig sein, Holling. Euch kann nichts passieren. Ich setze meinen Kopf dafür ein.«

Peter Holling besah sein Pfand, das gut geformte würdige Haupt, und es gefiel ihm. »Nun bin ich zufrieden«, antwortete er.


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