Timm Kröger
Des Lebens Wegzölle
Timm Kröger

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6

Meister Harder ging also nicht in den Blumenhain. Meister Harder machte sich am andern Tag auf zur Stadt. Ein auf Jochens Namen ausgefülltes Wechselformular hatte er in der Tasche. Noch war es nichts mehr und nichts weniger, als ein im Kontor zustande gekommenes Übungsblatt. Er hatte es eingesteckt, er wußte selbst nicht, weshalb.

»Wenn ich es nun täte, wenn ich es nun täte«, sagte er für sich. »Wäre es ein Unrecht? Nein, es wäre kein Unrecht. Nach drei Monaten kommts zum Zahlen. Dann hab ich meine Sachen in der Reihe. Es kräht kein Hund und kein Hahn danach. Da ist kein Unrecht bei.«

Die ganze Nacht hatte er gerechnet, sein Sinnen zersonnen und dadurch um alles Unterscheidungsvermögen für bös und gut gebracht. Er hatte herausgerechnet, daß sich alles ebnen lasse, wenn nur der Wechsel verlängert werde. Das war aber notwendig, sonst war er verloren. Seiner Tochter hatte er weder von dem wunderlichen Ansinnen ihres Liebhabers gesagt, noch von dieser Reise. Sie sah zu scharf, sie hätte sicher durch seine Jacke hindurch den Wechsel, auf dem ›Joachim Riese‹ so groß quer herübergeschrieben war, gesehen. Nein, die Sache wollte er allein abmachen, und dann wollte er sehen, seine Ausstände einzubekommen und alles in Ordnung bringen.

Es war eine mäßig große Provinzialstadt, wohin Harder seine Schritte lenkte. Nicht gerade von überwiegender allgemeiner Bedeutung, immerhin aber Bank- und Warenhaus für die Umgebung, zu der auch der vielleicht zwei Meilen entfernte Wohnort von Harder Rickers gehört.

Bis zum Nobiskrug, eine halbe Stunde vom Ort entfernt, führt ein düsterer Weg zwischen Waldgehegen, fünf Minuten vor dem Wirtshaus liegt, so recht in der Einsamkeit, eine kleine Mooskate.

Hier hatte Peter Rank, der falsche Papiere gemacht hatte und nun saß, gewohnt. Dessen Frau rief Harder Rickers an und bat ihn, sich nach ihrem Mann umzuhören.

Das traf ihn wie Donnerschlag. War das eine Warnung des Himmels? War er im Begriff, sich zum Schuld- und Schicksalsgenossen von Peter zu machen! Aber lange ertrug sein Wille, der sich in der Erreichung seines Zieles gehemmt sah, diese Störung nicht. Nein, mit Peter Rank hatte er nichts zu tun. Mit Peter war das eine ganz andere Sache. Der hatte Hans Hollers Namen unter einen Bürgschaftsschein geschrieben, ohne dazu ein Recht gehabt zu haben. Denn Hans Holler hatte beschworen, daß er dem Peter nichts versprochen habe, wenn Peter auch bei seiner Behauptung geblieben war. Aber er und Jochen! Wie oft hatte Jochen Riese ihm gesagt, ihn nicht im Stich zu lassen und Wechsel zu verlängern, wenn es mal mit Geld nicht passe. Einmal, zweimal, dreimal hatte er es denn auch getan. Nun wollte er es nicht mehr. War das nicht himmelschreiendes Unrecht? Wer konnte ihm verdenken, daß er jetzt selbst den Namen schrieb, den Jochen Riese zu schreiben verpflichtet war? War das Unrecht? Nein, das war kein bißchen Unrecht.

Das Bankgebäude hatte ein hohes Schieferdach. Mit seinen roten Ziegelsteinwänden sah es solide und einfach und wahr aus. Zu dem Haupteingang führten schwere Steinstufen. Vor der Haupttür lagen Granitblöcke, schwer und massig, wie das Gewissen nach begangener Tat.

Kurz vor Mittag trottete Harder Rickers die Stufen hinauf. Er war von unansehnlicher Figur, ein kleiner Bauer, und in den letzten Monaten war er alt und welk geworden. Zwar war sein Haar noch voll und dicht, aber grau und steif war es, so daß es sich der Mütze nur widerwillig bequemte. Es schien den leichten Deckel heben zu wollen, und an den Schläfen und Ohren strebte es eigensinnig in die Weite. Es war, zumal als er nach verrichteter Sache über die Granitplatten wieder hinabschritt, ein borstiges, widersetzliches Haar, ein Haar, das Wert darauf legte, auf einem ehrlichen Kopfe zu wachsen.

Harder hatte sein Bankgeschäft besorgt, der Auftrag der Frau Rank war ihm ganz entfallen, er hätte also nach Hause gehen können, aber er tat es nicht. Das Bankhaus hielt ihn, als sei es ein Magnet und als sei er eine Stecknadel. Er mußte immer an das Stück Papier und an Rieses Namenszug denken, der darauf stand. Für sein Leben gern hätte er noch einmal in die Kontorfenster hineingesehen, ob das Papier wirklich im Fache liege und nicht vielleicht als verdächtig nachgeprüft werde.

Und immer zweifelhafter wurde ihm sein sittliches und juristisches Recht, Rieses Namen in der Weise zu gebrauchen. »Ja«, sagte sein Gewissen; »du behauptest zwar, Jochen Riese sei verpflichtet gewesen, seinen Namen zu schreiben. Das ist aber doch sehr fraglich. Und wenn auch – eine Fälschung, einen Betrug hast du doch begangen. Denn du sagst durch das Papier allen, durch deren Hände es geht, daß Riese die Unterschrift geschrieben hat. Und das ist nicht wahr. Du bist ein Fälscher und Betrüger! Eine andere Bezeichnung gibts nicht dafür.«

»So schlimm ists doch nicht«, redete er auf sein Gewissen ein: »Ich bin doch kein Verbrecher wie ... wie ... nun, wie Peter Rank.«

»Ich sehe nur den Unterschied: bei Peter Rank handelte es sich um ebenso viele Hunderte wie bei dir um Tausende«, antwortete das Gewissen.

»Ach, hättest du das vorher gesagt!« seufzte Harder.

Diese Beschwerde hatte Berechtigung. Vor der Tat leistet unser böser Wille an moralischer Schönfärberei das Mögliche. Die Moralanschauung muß sich gefallen lassen, dem Interesse zu dienen, die glänzende Seite des Zieles wird grell beleuchtet, die keck zugreifende Hand wird empfohlen. Überall sieht man Eideshelfer für das eigene Recht. Die Warner schweigen oder sind doch von dem Willen so eingeschüchtert, daß sie Eindringliches nicht leisten. Aber nach der Tat, wenn es zu spät ist, da helfen die Eideshelfer, da werden die schüchternen Warner dreist, da werden sie herzlose und unerbittliche Ankläger.

Der alte Mann begann die Bank zu umkreisen. »Hätte ich es nicht getan! Katrien, meine gute Katrien!«

Was sollte er beginnen? Sollte er vor die Kasse hintreten, den Wechsel wieder fordern und sich der Fälschung anklagen? Ach nein, das ging nicht! Den alten Wechsel konnte er nicht zurückgeben, den hatte er gleich zerrissen, man würde ihn verhaften. Jochen Riese würde Nachricht erhalten. Das alles war klar.

Harder ging und ging. Er wanderte ruhelos in den Straßen umher, aber das schreckliche Bankhaus, das den falschen Wechsel barg, behielt er im Auge. An der Hinterseite war es von Höfen und Häusern eingeschlossen, man mußte, wollte man darum herumgehen, durch einsame Gassen und Gäßchen. Das war für einen alten Mann mit abstrebendem ehrlichem Haar eine rechte Mühsal. Aber er unterzog sich dieser Mühsal, er mußte das große Gebäude mit dem roten Dach sehen, und wenn es einmal durch Giebel und Dächer, wie zum Beispiel in der Torstraße, verdeckt war, dann steigerte sich die Beklemmung bis zur Atemnot.

Die Torstraße ist schmal und feucht und übelriechend. Sie ist auf der einen Seite durch niedrige Häuser, auf der anderen Seite durch eine hohe Mauer begrenzt, deren regelrechte Fugen die tägliche Augenweide für die Fenster der anderen Häuserzeile bilden. Harder kannte die Mauer, jeder kannte sie – sie faßte den Hof des Zuchthauses ein.

Harder Rickers schrak heftig zusammen. Unmittelbar vor ihm hatte sich klirrend und rasselnd ein Tor geöffnet, eine Patrouille mit geschultertem Gewehr führte einen Trupp Sträflinge vor sich her.

Zwei zerlumpten Knaben, die sich grade an der Jacke hatten, schien das so wichtig, daß sie ihre Balgerei einstellten. »Dat sünd Galeerensklaven«, erklärte der eine, »de arbeit op n Stadtwall mit n Kugel ant Been.« – »Kiek«, erwiderte der andere, »se hebbt en gel Been un en swart.«

Die Sache war dem Meister Harder nicht neu. Als er noch eine intakte Seele besaß, hatte er sich zu seiner mehreren seelischen Erhebung die Sache selbst angesehen. Die Züchtlinge verrichteten in der Tat schwere Karrenarbeit mit einer Kugel am Bein. Es ist doch ein eigener Genuß – das Gefühl sittlicher Höhe, wenn man weiß, daß einem so was nicht passieren kann. Wie oft und mit welchem Behagen hatte er bei allem Mitleid das früher gefühlt. Die Sträflinge hatten alle graue Gesichter, überall standen Wachen mit geladenem Gewehr dabei. Einmal hatte er auch seinen Freund Peter in der Karre getroffen, er hatte mit ihm sprechen wollen, war aber barsch auf die Sprechstunde in der Anstalt verwiesen worden.

Der Beamte hatte den Mittwoch genannt, und nun war es Mittwoch, und auch die Stunde war richtig, und von Frau Rank hatte er Bestellung zu verrichten. Peter Rank wurde in seinen Augen zu einem Kameraden, zu einem Unglücklichen, den wollte er besuchen. Hauptsächlich aber wollte er ihn fragen, ob es wahr sei, daß Hans Holler auch ihm, just wie in seinem Fall, die Unterschrift versprochen gehabt habe.

Wenige Minuten später war er im Sprechsaal der Anstalt. Als die Tür hinter ihm zufiel und abgeschlossen wurde, mußte er an einen Sargdeckel denken. Dieses Schlüssel- und Kettengeklirr, ihm war immer, als müßte die nächste Handschelle sich um seine Knöchel legen. Überall roch es nach Teer und Öl, und alle Leute hatten bleierne Gesichtsfarbe.

 

Um dieselbe Zeit, als Harder Rickers sich beim Kastellan des Zuchthauses meldete, sprach ein halb städtisch, halb bäurisch gekleideter, selbstbewußt tuender junger Mann auf der Bank vor. Das war Jochen Riese. Er wurde seiner Bedeutung und seinem Vermögen entsprechend empfangen und behandelt und in das Direktionszimmer genötigt.

Der fällige Wechsel von Rickers sei doch eingelöst? warf er hin.

»Selbstverständlich, Sie haben ja prolongiert«, lautete die Antwort. Man legte ihm das von Harder abgegebene Papier vor.

Mit lächelnder krauser Lippe und mit krausem Kinn prüfte der große Jochen Meister Rickers Kunst.

Sein Gesicht fiel auf. »Mit dem Wechsel ist es doch in Ordnung?«

»Darüber möchte ich mir eine Erklärung vorbehalten«, war die reservierte Antwort.

»Spaß!« lachte der Direktor. »Der alte ehrliche Harder.«

»So denke ich auch«, antwortete der Diplomat. »Die Sache wird gewiß in Ordnung kommen.«

 

Jochen hatte mit der Handlung Paap & Co. ein gutes Geschäft geschlossen, er hatte im Adler gegessen, er hatte eine gute Zigarre geraucht, er hatte eine Flasche Wein getrunken, der Fuchs vor seinem Einspänner war mutig und gut eingefahren. Als er, nach Hause zurückkehrend, durch die Königstraße knatterte, grüßte man rechts und links – Jochen Riese war ausgezeichneter Laune.

Eben hatte er das Stadttor hinter sich, da holte er den mühsam daherstiefelnden Harder ein.

»Holla!« rief er. »Holla, Meister Rickers.«

Er pfiff und zog die Zügel an, steckte den Peitschenstiel ins Futteral. Der Fuchs stand wie ein Baum.

»Harder«, wiederholte er, »bißchen mitfahren?« Er lachte dabei aus voller Kehle.

Harder stand still, ohne sich zu wundern, wie der Unglücksnachbar so plötzlich daherkomme. Er wunderte sich über nichts mehr. – Mitfahren wollte er nicht. Er dankte.

Jochen lachte noch immer, lachte ihm voll ins Gesicht.

»Was lachst du?« fragte Harder. Es war ihm wirklich unbegreiflich, wie heute jemand lachen könne.

»Ich bin vergnügt, Meister. Soll ich da nicht lachen? Wart nur, Nachbar. Morgen sollst du auch lachen. Morgen wollen wir alle lachen. Morgen. – Jawohl, morgen! Gestern habt ihr mich im Stich gelassen, morgen werdet ihr das nicht tun. Es ist der zweite Termin, einen dritten gebe ich nicht.«

Er zog seine Uhr. »Es ist fünf Minuten nach vier. Morgen um diese Stunde, also vier Uhr, wünsche ich euch zu sehen. Meine Bedingungen sind die alten. Du brauchst nichts zu sagen, Harder. Ich weiß, daß ihr kommt, du und deine Fräulein Tochter, die ... na die ...« Er schüttelte heftig den Kopf, als wenn er den Namen suche und nicht finde. »Wie heißt sie doch gleich?«

»Katrien heißt sie«, antwortete Meister Rickers demütig.

Jochen Riese mit dem feinen Ehrgefühl lachte wieder. »Das ist ja auch wahr. Wie konnte ich das vergessen! Darüber erzürnten wir uns ja gerade. Tinchen darf ich nicht sagen – ›Katrien Rickers ist mein Name‹.« Er ahmte des Mädchens Stimme nach und brach wieder in schallendes Lachen aus.

»Lach nicht!« bat der Alte. Es ging ihm wirklich durch Mark und Bein.

»Kannst du mein Lachen nicht leiden, Schwiegervater? Dann laß ich es selbstverständlich.« Er lachte nicht mehr; um so listiger verzog er den Mund.

»Was tut man nicht dem Vater seiner Braut zuliebe! Wir wollen nicht mehr davon reden, es gibt ja noch mehr, was interessiert. Zum Beispiel, Harder, warst – auf der Bank?«

Harder wurde kaum noch rot. Jochen wußte natürlich alles, es kam nichts mehr unerwartet. »Ich war da«, gestand er.

»Das find ich nett, Harder! Ich sprach übrigens auch mal vor und freute mich, wie du schreiben kannst, Meister.«

»Ich weiß, Jochen. Ich bitt dich, schweig davon!«

»Du bist ein wunderlicher Heiliger, Nachbar. Nun kannst auch das nicht vertragen. Lachen soll ich nicht, von der Bank und von Wechseln willst du nicht hören. Was soll man denn eigentlich mit dir reden? Na, wollens versuchen. Warst bei Peter Rank?« Der Sprecher bog sich zu Harder hinüber, so weit es ging. »Hast du ihn besucht?« fragte er schmierig.

»Ja«, antwortete Harder. Ihm war jetzt alles einerlei.

»Sehr vernünftig. Man kann nicht wissen, wo man noch mal sein Brot ißt. Wenn mans kennt, dann gewöhnt man sich um so eher. Wie gehts denn dem ehrlichen Peter?«

Harder schwieg.

»Hat dir natürlich erzählt, daß Hans Holler der Schuldige ist. Er hatte ja versprochen, ihm mit Bürgschaft zu dienen. Aber das Gericht hat gesagt, das seien Redensarten, das sei kein Versprechen, kein bestimmtes Versprechen, das allein vor dem Gesetz binde. Und selbst, wenn auch alles so wäre, haben sie gesagt, Fälschung bleibe Fälschung und werde mit Zuchthaus bestraft. Nicht wahr, das alles hat er dir erzählt? – Wieviel Jahre bekam Peter doch?« fragte er weiter.

»Viereinhalb.«

»Viereinhalb, und erst drei vorüber. Noch einundeinhalbes Jahr, Tag für Tag in der Karre mit ner Kugel am Bein. Das würde uns nicht behagen, was, Meister? Aber da ist nichts zu machen. Und das müssen wir doch sagen, Meister: verdient hat der ehrliche Peter seine viereinhalb Jahre redlich. Wohin solls führen, wenn man sich nicht mehr auf die Unterschrift verlassen kann? Das empfinden wir Geschäftsleute am ersten. Nicht wahr, Meister?«

Der Alte stöhnte. »Schweig, Jochen!«

»Weshalb soll ich schweigen? Was bist du komisch! Das, was Peter getan hat und was er zu verbüßen hat, das geht uns beide doch nichts an.«

»Bitte, lieber Jochen, hör auf. Ich beschwöre dich bei deiner Seligkeit, ich beschwöre dich bei meiner Katrien!«

»Wenn du die Katrien anrufst, dann muß ich freilich still sein.«

»Wir kommen morgen, du sollst nicht umsonst warten.« Harder war ganz zerknirscht.

»Das ist mir angenehm zu hören. Ihr sollt mir sehr willkommen sein. Dann ist ja alles gut. Und nun sei kein Narr, Schwiegervater, und steig auf! Wir fahren zusammen ins Dorf.«

»Laß mich allein, Jochen! Ich bitte dich, ich flehe dich an. Ich kann nicht, ich kann nicht.«

»Komischer Kauz! Dein Wille geschehe!« Er nahm die Peitsche aus dem Futteral und lockerte die Zügel.

»Ja, alter Fuchs«, redete er zum Pferd hinüber, »wir fahren allein weiter. Unser Schwiegervater kann heute noch nicht. Aber morgen kann er. Komm!«

So rollte Jochen rasch davon.


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