Timm Kröger
Des Lebens Wegzölle
Timm Kröger

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6

Zwei gleich wuchtige Gedanken lagen, als Hinnerk Schmidt sah, wie die Sache stand, in seiner Seele: erstens Trauer und Schmerz darüber, daß die letzten Augenblicke des Dahingegangenen durch sein Ungestüm verdüstert worden waren, zweitens – die eiserne Kiste. Und wenn er auch in bitterer Reue aufseufzte und schon jetzt empfand, wie oft im Andenken an diesen Augenblick er es noch tun müsse, und wenn er auch mit voller Klarheit dem letzten Wunsch des Verblichenen zuwiderhandelte, so war er doch entschlossen so wie er es früher mit Peter besprochen hatte, die Kiste an sich zu nehmen. Denn es war sein Recht, er nahm nur sein Gut. Die harte Unerbittlichkeit, die in seinem Wesen lag, verhinderte ihn, einen Plan zu entwurzeln, der schon so viele Jahre hindurch für diese Stunde entworfen worden war. Denn er nahm das, was ihm zukam, wie Hein Möller gesagt hatte, wenn es sein mußte, vom Altar; er mußte den Plan ausführen, er konnte nichts anders. Und was er nun tat, er tat es in der Überzeugung, daß er um keines Haares Breite vom Pfade des Rechts und davon, was ihm das Gewissen vorschreibe, abweiche, und daß Gott in der Höhe Wohlgefallen an seinem Tun habe.

Er war mit dem Toten allein im Haus – also wohlan!

Aber so viel Zeit ließ er sich, dem Bruder die Backen und die kalten Hände zu streicheln und die weitgeöffneten Augen zuzumachen. Er kramte auch ein Tuch aus der Kommode und band es dem Bruder um Scheitel und Kinn, denn der Mund stand offen. Dann aber ging er aus der Stube, stieg die Bodenleiter hinan, suchte und fand einen Sack, warf aus der Bodenluke etwas Stroh und kletterte die Sprossen wieder hinab.

In die Stube zurückgekehrt, schloß er die Tür und rollte die Fenstervorhänge herab.

Dann rückte er das Bett ab und fand den Sägestrich in den Brettern und hob den Deckel ab und legte die Höhlung und den Stahlkasten frei und hob den Kasten heraus und legte den Deckel an die alte Stelle und schob auch das Bett dahin zurück. Und fühlte sich in seinem Recht.

Und fühlte sich immer in seinem Recht und nahm die Schlüssel zu dem Kistchen dem Toten aus den Kleidern. Und als er das tat, schoß zum ersten mal die Frage in ihm auf, ob er das auch dürfe. Aber ohne Zagen und Zögern jagte er auch diese Zweifel davon. Der Tote saß in seitlich gerichteter Lage, die Tasche war eingeklemmt, Hinnerk mußte seinen Bruder aufrecht hinsetzen, um zur Tasche zu kommen; es war ihm, als ob der Tote sich wehre. Aber Hinnerk durfte dem Widerstand des Toten unmöglich mehr Gewicht beimessen als dem des Lebenden, und tat, was er tun wollte.

Hinnerk verstand es, aus Roggenstroh haltbare Bänder zu drehen, er tat es und umwickelte damit das Kistchen. Erst wußte er gar nicht, warum er das tat, aber als er sich genau fragte, da wurde es ihm klar, es sollte die Form des Kistchens im Sack nicht erkennbar sein.

Wer wollte kommen und sagen, daß er was weggenommen habe? Tag für Tag sieht man Dorfleute, die was im Sack tragen, und kein Mensch denkt sich was dabei.

Es wäre kaum nötig gewesen, so viel Umstände mit dem Stroh zu machen. Denn als er mit seinem Sack durch den Garten und dann über die Hofstelle und die Diele entlang ging, begegnete ihm kein Mensch. Das Kuhhaus war im angebauten Querflügel. Dahin ging er, ließ das Stroh zurück und trug dann die Kiste im Beutel nach seiner Bettstatt. Erst klemmte sich der Deckel des Verstecks, er mußte Gewalt anwenden; das war aber das einzige, was ihm widerfuhr. In der nächsten Minute waren Kiste und Inhalt wohlverwahrt.

Und als alles besorgt war, da ging er durch die Küche und durch den zum Ausseihen der Milch vor dem Keller benutzten Raum und durch noch eine Ecke des alten winkeligen Hauses nach der sogenannten neuen Hörn. Dort fand er Abel und Maleen (das Melkgeschäft war beendigt) beide beim Pahlen von Erbsen.

Und Hinnerk trat mit ernstem Gesicht hinzu: »Wir müssen hinüber nach der Kate. Peter ist bei Gott dem Herrn.« »Herr Jesus«, rief Abel, »und ich war nicht dabei! O Gott, o Gott, mein Gott!« Sie schlug die Hände zusammen. Maleen schüttete die Erbsen aus ihrem Schoß in den blanken Kessel und sagte nur: »De arm Peter, is he dor mit dör?«

Hinnerk gab Anordnungen wegen Totenfrau und Leichenkleidung und Sargtischler. Die Köchin sollte dem Notar entgegengehen und ihn abbestellen. Schließlich entschied Hinnerk aber anders: mit dem Notar, das wollte er selbst besorgen.

Aber es war nicht mehr nötig. Denn als er über den Hofplatz ging, bog die Kutsche zum Heck herein und fuhr an den Säulen unter den Bäumen vor.

»Wir sind eher fertig geworden, als wir dachten«, hieß es. »Nun wollen wir das mit dem Testament in Ordnung machen. Sie sind wohl so gut und lassen die Zeugen rufen.«

»Tut nicht mehr nötig«, erwiderte Hinnerk und stand trocken und ernst und kalt am Wagentritt. »Mein Bruder ist eben verschieden.«

Als er das sagte, erzählte kein Zug in seinem Gesicht etwas anderes als von dem Ernst, der solchem Augenblick angemessen ist.

»Was Sie sagen!« entgegnete der Beamte.

»Ah!« kam es vom Sekretär, nun glückte es noch mit dem Skat.

»Das ist bedauerlich«, fuhr der Notar fort. »Ich hatte freilich in Bültenbrooksdamm den Termin zu drei Uhr angesetzt, aber, wenn ich das geahnt hätte! Und Sie meinten ja auch, Ihr Bruder sei wie immer!«

»Weer he ok«, erwiderte Hinnerk und erzählte von den Anfällen. Wer habe denken können, daß just jetzt ...

»Sie sind wohl der leidende Teil, daß kein Testament zustande gekommen ist?« warf der Notar ein.

»Muß hingenommen werden.« Hinnerk war ganz ergeben.

Hein Möller fragte, ob er gleich wenden könne. Hinnerk Schmidt bat freilich, ein bißchen ›intokam‹, aber der Wagen fuhr nach dem Hoftor und auf die Landstraße hinaus.


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