Timm Kröger
Des Lebens Wegzölle
Timm Kröger

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Zweiter Teil

1

Es vergingen Jahre, und Rudolf Schmidt blieb Schulmeister von Handewitt.

Im Zeitenstrom rauschte Welle auf Welle vorüber, wogte und wusch. Hier und da setzte ein Haus ein paar Fach am Stallende an, auf roten Brandmauern und breiter als das Wohnende. Das lugte daraus hervor, wie aus ihrem Gehäuse die Schnecke. Jungen, die bei Ankunft des neuen Schulmeisters noch Barbier im Ziegenstall gespielt hatten, wurden mit dem ersten Bart versehen. Dem Vollmacht war etwas Reif ins Haar gefallen. Hier hatte sich ein Alter, dort ein Junger zur Ruhe gestreckt, aber der Klapperstorch fischte noch immer fleißig im Sumpf. Junge Frauen vergalten als Mütter die Schelte, die sie einstmals als Kindermädchen eingeheimst hatten, und trockneten auf Hecke und Zaun ominöse quadratförmige Tüchlein.

Man sorgte und mühte sich, wie man es überall tut. Im Frühling hastete man, die Frühjahrssaat zu bestellen, um Zeit zu haben, Knick und Wälle zu befestigen und den Kompost zur Weide zu bringen, bevor noch die Heuernte begann. Davon war noch nicht das letzte Fuder geborgen, und schon strich der Schnitter die Sense zur Roggenernte. Ruhte endlich der Kranz auf der letzten Getreidefuhre, war der Grummet daheim, die Wintersaat bestellt, so fegten die ersten Vorposten des Nordwest über die Herbstfärbung. Und dann kam der Winter und deckte Feld und Flur und Weg und Steg weiß und weich zu, so gründlich, daß alles für immer vorbei zu sein schien. Handewitt arbeitete aber auch im Winter ruhelos. Überall tanzten Dreschflegel auf klangvollem Tennestrich, und im Wald arbeitete die Axt des Holzschlägers bei klingendem Frost.

Aber so viele Giebel in Handewitt auch neue Sparren ansetzten und von dem aufgestopften Heu gepreßt wurden: die alten Dächer von Birkenrade träumten weder von neuen Dachsparren noch von Heu, dies war ihnen unter des Jägers Verwaltung ein unbekanntes Ding geworden. Dieser, der Fürsorge und Lehren des Ohms satt, hatte nämlich die Wirtschaft selbst in die Hand genommen, und nach menschlicher Voraussicht mußten Birkenrade und sein Besitzer der Verlotterung entgegengehen. Der Alte blieb zwar vorderhand auf dem Hof, er wollte der jungen Frau in Notfällen zur Hand sein, aber daß seine Hand nicht mehr auf Birkenrade ruhte, zeigte sich bald. Die Giebel zogen sich schief und schiefer; die Türen an Haus und Scheuern folgten dem Vorgange der Giebel. Im Sturm klapperte manch loses Brett; hier und da erschien eine Latte im schäbigen Dach.

Das Steinpflaster der Hofstelle wurde verkauft, nun watete man in Wasser und Schmutz. Die Schlagbäume und Hecktore vermorschten und verfaulten; durch die mit dem Fleiße eines Jahrhunderts gesättigte Ackerkrume des Heidebodens brach die jungfräuliche Erika wieder hervor. Denn Birkenrade verhandelte den Dünger um ein Billiges, gute Nachbarn leiteten mit Hütt! und Ho! ihre schwerbeladenen Wagen aus der Grube. Große, starkknochige Pferde spannten die Sehnen, ihr Huf schlug Funken an dem Granit, der als versprengter Rest der Steindecke im Wege lag.

Der Jäger trieb es für Handewitt ärger, als man es im Dorfe ertragen wollte. Er wurde außer Verkehr gesetzt, und auch das war für Frau Sophie ein weiterer Grund, sich noch mehr auf sich zurückzuziehen.

Der hübsche dunkle Knabe wuchs heran, an ihn verschwendete sie ihre Liebe. In dem Geschick mit ihrem Mann sah sie Vergeltung im herben Sinn, in ihrem Kind sollte sichs, so hoffte sie, noch mal gütig erfüllen, und solange sie ihr Kind habe, wollte sie kein Gegenstand des Mitleids sein.

»Ich glaube an eine Schuld«, erklärte sie, »und hoffe zu Gott, daß ich bei der Prüfung etwas, und sei es auch nur wenig, in meinem Schuldbuch tilge. Denn der Allvater droben ist, daran halte ich fest, ein allgütiger Gott. Ich darf ihm aber nicht aus der Schule laufen, ich bin auch entschlossen, es nicht zu tun. Jeder Tag, der mir Leid bringt, soll mich daran erinnern, daß ich als Büßerin nach Birkenrade kam. So hoffe ich denn zu ertragen, was mir verhängt sein wird, solange der Grund nicht wankt, auf dem ich stehe. Dieser Grund ist die Liebe zu meinem Kinde; die gütige Vorsehung wird nicht wollen, daß ich diese Liebe jemals entbehre oder eine neue Schuld auf mich lüde.«

Mit dem Jäger ging es steil bergab. Noch vor einem Jahr hatte es bei dem im Grunde gutmütigen Mann nicht an Gelöbnissen gefehlt, sich zu bessern, an weinerlichen Selbstanklagen, daß seine Frau um seinetwillen so viel leiden müsse. Aber mit zunehmender Verwilderung verlor er den Geschmack an den Bußpredigten seiner Frau und an eigenen Bußübungen. Sein Äußeres bestätigte immer eindringlicher, daß an ihm nichts mehr zu retten sei. Sein rotes, vom Alkohol verwüstetes Gesicht wußte nur noch wenig von der einstmaligen Schönheit des schmucken Jägers; es verlor mehr und mehr die reinlichen Züge. Mit der grünen, gegen den Bauernrock vertauschten Joppe hatte er die Straffheit seiner Haltung ausgezogen, seines höflichen »ergebenst« und »gehorsamst« hatte er sich für eine schlimme Ungebundenheit entäußert. Gutmütig mochte man ihn zuweilen noch nennen können, nämlich dann, wenn er ganz frei und ganz nüchtern war. Leider traf dies immer seltener zu. Und die trunkenen Zustände bekamen auf die Dauer einen immer bösartigeren Charakter.

Anfangs war es das Stadium der Albernheit mit der Richtung auf fixe Ideen. Bald hielt er sich für einen Abgesandten der Regierung, eine bessere Entwässerung der Handewitter Wiesen in die Wege zu leiten, und fuhr mit hohem Hut von Hof zu Hof, bald spielte er sich als Laienprediger auf und hielt witzig sein sollende Strafpredigten. Über alles lachte Handewitt von der Düne bis zum Forst.

Dann kam der Stich ins Gefährliche. Klaus Heuk hatte mit ihm Streit in der Schenke gehabt. Als er unversehens bei Birkenrade vorbeiging, knallte ein Flintenlauf aus der Pferdeluke, die Schrotladung prasselte über seinem Haupt in einen Weidenbusch.

 

Die Denkwürdigkeiten des Schulmeisters erhielten Ergänzungen:

 

Lange wird man die arme Frau nicht mehr mit ihm allein lassen können. Er ist nicht mehr bei Sinnen und für seine Umgebung gefahrbringend.

Vor ungefähr kreuzten sich unsere Wege, ich suchte vorüber zu kommen, aber er vertrat mir den Weg. Man könnte solche Szene lächerlich finden, wenn sie nicht zum Weinen traurig wäre. Er beschuldigt seine Frau der Untreue, auch ich stehe auf der Liste. Er war übrigens betrunken und nach seiner Meinung stark geistreich, so daß man nicht daraus klug wird, wieviel er von dem, was er sagt, selbst glaubt.

 

Es geht nicht mehr. Der alte Ohm ist vom Hofe gejagt. Man sagt: Eifersucht ... Unglaublich, und nicht helfen können!

Nun ist es geschehen. Ich habe ihr gesagt, was ich für sie fühle, ich habe sie in meinen Armen gehalten.

Mit dem Alten war der letzte Friede aus Birkenrade entwichen. Sie suchte mich auf, in voller Verstörung über die ihr angetane Schmach. Ich sah auf den Grund ihres Herzens, eines trüben, leidgewohnten Herzens, und sah auch das, was sie ihre Schuld nennt.

Als sie mich entließ, waren wir, wenn man will, beide schuldig geworden. Ich wollte sie trösten, und über dem Trösten gestand ich ihr meine Liebe ... Und dann ... ja, dann lagen wir uns in den Armen und küßten uns ... küßten uns, bis sie sich mit allen Zeichen des Schreckens losriß.

 

Der Abend kam, ich ging in die Dünen, war dort, wie immer, allein ... doch hatte ich es noch niemals so empfunden.

Kein Laut im Dorfe von Osten her, kein Hundegebell, kein Käuzchenruf; kein Rauschen und Brausen vom Meer, kein Kehllaut melancholischer Möven. Stummes Wetterleuchten über dräuenden Wolkenmassen, die Berge zürnten: was brichst du unsern Frieden?

Die Dünenwege sind einsam und mühsam; die Stiefelsohle wühlt und grafft tief im Sand. Dafür umspannt die Herrschaft meines Gedankens von dieser Sandwüste aus den Erdenrund. Und ergießt der Vollmond sein bleiches Licht über den Wogengischt des Gebirgskammes, so huschen leichte Schatten über schimmernde Bergwände und entschlüpfen in der Schluchten mystisches Schwarz. Ungetüm auf Ungetüm scheint uns zu beschleichen, vor uns zu fliehen.

So sah ich den Dünengeist, als ich den mondbeglänzten, schneeigten Gipfel der Jungfrau erklomm. Er befand sich auf dem zum Teil mit Heide bedeckten Mönch und schien zu schwärmen und zu spintisieren, just wie der Schreiber dieser Zeilen. Das freche Menschenkind ließ er nicht aus den Augen, bis er vor meinem Schatten langsam hinter die Bergwand versank. Es hat seine Richtigkeit: es wächst ihm Sandhafer auf dem Haupt; in seinen Augen funkelt das Geheimnis grüner, leuchtender Meerflut.

Und nun dieser Zettel:

»Geliebter! Ich will Sie nicht belügen, ich will Sie so nennen, wie mein Herz es befiehlt. Ich danke dem Himmel für die Sekunde des Glücks, die ich erlebt habe. Sie soll das Beste bleiben, was meine Seele verschließt, und auf meinen Knien bitte ich den Herrn der Höhe, sie mir nicht zur Schuld anzurechnen. Behalte mich lieb, Geliebter, aber ganz im stillen, nur ein ganz klein wenig.«

Es war ein Wetter für unglücklich verliebte Seelen. Schon, als ich in der Düne war, gestern, vorgestern – ich weiß nicht mehr, wann – schon damals funkelte ein wetterleuchtender Gott mit blitzender Gedankenkrone um das Haupt vom Erdenrund herauf – heute nacht ging es unter Blitz und Donner auf Handewitt hernieder. Der Horizont rings umher ein brüllendes, ein feurige Spieße werfendes Verderben. Flammensäulen ringsum, eine hohe von Siethfelde her. Wir Handewitter standen, sobald der Regen nachgelassen hatte, auf der Dorfstraße. Bei Birkenrade hatte es eingeschlagen, der große Weidenbaum am Hecktor liegt zerschmettert.

Christian Normanns Turm ist hin, heute früh vermißten wir die Spitze, vor einer Stunde wurde uns Bestätigung. Der Blitz ist hineingefahren, der Turm ist bis auf das Feldsteingemäuer zerstört, glücklicherweise schützte ein scharfer Nord die Kirche und das Kirchendach.

Es wird einen neuen Turm geben, vielleicht einen schöneren, der alte Weidenbaum aber wird sich nicht mehr erholen. Ich finde, der Blitz ist ungeschickt in der Wahl seiner brennenden Liebe. Damals, im Handewitter Schulhof, die eine Sekunde, wo ich sie in meinen Armen hielt, das Haus in lichter Lohe, und wir, sie und ich, in Glut und stürzendem Gebälk begraben!

 

Die ganze Nacht haben Verstand und Herz in mir Zwiesprache gehalten.

Wohin ist mein Gleichmut und wohin meine Ruhe! Wie groß und sicher war ich, als ich mich unterwand, alles auf mich zu nehmen: Ruhm und Schande, Armut und Reichtum. Glück und Unglück. Wußte ich mich doch selbst mit dem Bewußtsein eines verfehlten Lebens abzufinden. Die Reue gehört der Torheit an, eine Liebesleidenschaft, die nur Leid bringen könne, war Narrheit. Ich fühlte mich als ein Stück der Natur, ich wußte, daß ich, wie sie, nur durch Stoß und Gegenstoß in Bewegung gesetzt werde, und felsenfest war mein Glaube, daß diese Sicherheit mir niemals fehlen werde.

Mein Verstand und mein Herz hatten Zwiesprache, der gute nüchterne Verstand behielt das Wort. »Das geht nicht, und, weil es nicht geht, darf ich es nicht wollen. Und deshalb will ich es auch nicht.« Mein Verstand, der gute, klare, nüchterne Verstand, suchte sich durch lautes Wesen zu stählen. Er schrie geradezu in die Nacht hinein: »Ich will nicht!«


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