Timm Kröger
Des Lebens Wegzölle
Timm Kröger

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4

Der Nutznießer des Gartenhauses kam nicht mehr aus dem Lehnstuhl heraus, er war ein bedauernswerter Mann, seine sich mehr und mehr steigernden Atemnöte waren furchtbarer Art. Die Umgebung wußte, daß seine Tage gezählt seien, und auch Peter Schmidt selbst wollte sich nicht mehr darüber täuschen.

Er war vom Leben satt. Er bereitete sich auf die große Reise vor und klammerte sich an die Tröstungen der Religion. Ein einfacher, christlicher Mann, war ihm der fromme Glaube an das Jenseits der letzte Stecken und Stab. Früher hatte Peter Schmidt es mit der Religion nicht so ernst genommen, aber je mehr er sich der Küste der Ewigkeit näherte, desto leuchtender erhob sich vor ihm die ewige Stadt des himmlischen Jerusalems. Denn für ihn ging die Sonne unter, die Schatten des Abends mischten ihre Aschenwölkchen in den lichten Tag, und der helle Geigenstrich der Freude schwamm nur noch windverweht im Äther. In den wachen Träumen seiner schlaflosen Nachte war ein für und für gehörter, von den Zinnen des neuen Jerusalems herüberfließender Posaunenruf das Tröstlichste.

Auch in seinem Leben hatte es an Tönen, die den Eitelkeiten und Nichtigkeiten der Welt angehörten, nicht gefehlt. Wohin waren sie? Sie waren verstummt, dafür trat nun manches hervor, das von ihnen überschrien gewesen war. Klarer und schwerer aber auch die Sorge, ob er nicht unter der Last seines Tuns und Lassens vor den Toren der ewigen Stadt und angesichts ihrer Herrlichkeit im Feuerpfuhl der Hölle versinken müsse, ob er nicht, wenn es zum Gericht ging, vor dem Buch erblassen müsse, in dem seine Taten und seine Worte und seine Gedanken niedergeschrieben standen.

Hinnerk ahnte zwar den Seelenzustand seines ihm wesensverwandten Bruders, sprach aber in dumpfer, stumpfer Schweigsamkeit nicht davon. Und dumpf und stumpf war auch die Liebe, die er für Peter fühlte. Gott hatte sie gewissermaßen als zwei Hälften eines Ganzen in die Welt gesetzt, da war es nicht nötig, mit den Lippen von den Gefühlen zu sprechen, die beide im Herzen trugen und beide im Herzen des andern wußten. Es ist so peinlich, Rührsames zu sagen, zumal etwas zu sagen, was wie Erklärung einer Zuneigung klingt.

Daß Peter in seinem Lehnstuhl oft an die Ewigkeit denke, erschien Hinnerk Schmidt natürlich. Er tat es nach reichlichem christlichem Hausgebrauch auch. Und je näher es zum Sterben kommt, um so mehr wird er es tun. Das ist mit Krankheit und Sterben vermacht. Aber daß die Sterbegedanken besser seien als die in gesunden Tagen gedachten, folgte für ihn nicht daraus. Ohne auf seine Kraft zu trotzen, hielt er die in einem gesunden Leibe wohnenden Gedanken für gesunder als die eines Kranken.

Der Propst besuchte Peter, wenn der Weg ihn vorbeiführte. Er war ein angenehmer und vornehmer Mann, wurde sonst auch von Hinnerk gern gesehen, aber den seelsorgerischen Zuspruch an Peter überwachte er mit Sorge. Er fand den Kranken nachher immer in einer gesteigerten Gewissensnot, in einer nervösen Angst, irgend jemand wehgetan zu haben.

Und nun ging Hinnerk mit Abel durch den Gartensteig nach Peter Schmidts Kate.

»Ist da was Besonderes?« fragte er.

Der Propst sei dagewesen, lautete die Antwort, Hinnerk Schmidt hatte, als er das hörte, ein unangenehmes Gefühl.

Jawohl, der Propst war dagewesen und hatte dem Notar auf seine Weise die Wege bereitet, hatte versucht, die Kuppelglanzstimmung des Kranken, seine Gewissensweichheit zum Friedenmachen mit dem Bruder in Amerika auszunutzen.

»Je vollständiger«, hatte er gesagt, »wir Frieden mit der Welt machen, um so eher gelangen wir zum Frieden mit Gott.« Das die Einleitung, das der Grundton. »Aber wie? Kann ich Frieden, machen mit jemand, der nicht da ist? Ich sage: Du kannst es! Wie, fragst du, reicht meine Hand über den großen Ozean? Ja, antworte ich, so weit reicht eine Hand, die sich in Liebe streckt. Vor Gott sind tausend Meilen wie die paar Zoll, die deine Finger umspannen.

Zwei Brüder gingen im Zorn voneinander und behielten ihren Zorn. Und als der Weggegangene nach langer Trennung zurückkehrte, machte Esau sich auf, ihn mit Waffen und Wehr zu empfangen. Aber Gott rührte sein Herz, und Jakob und Esau hingen einander weinend am Halse.

Nicht aber genügt das äußere Zeichen der Liebe. Nicht daran hat Gott Wohlgefallen. Kuß und Umarmung gelten ihm nichts, wenn nicht die Liebe im Herzen wohnt. Gott sieht aufs Herz. Und deshalb, o Menschenkind, kannst du auch Frieden machen mit einem, der weit entfernt ist und nichts davon weiß. Du kannst es, wenn Liebe in deinem Herzen wohnt.

Aber es muß eine tätige Liebe sein, eine, die gutmacht was noch gutgemacht werden kann. Bloß gedachte Liebe ist nicht mehr wert als müßige Lippenliebe. Allein ist sie nichts, stumme Gedankenliebe ist eine taube Nuß. Sie muß die Probe der Tat vertragen. Und wohl dem, der auf Erden Gelegenheit hat, die Echtheit seiner Liebe im Feuer der Tat zu erhärten.«

So hatte der Propst gepredigt. Zum Schluß war er ganz deutlich geworden. »Schmidt«, hatte er gesagt, »Sie haben einen Bruder in Amerika. Wenn Sie Ihr Haus bestellen, dann denken Sie an ihn! Und wenn Sie nur deshalb Ihren letzten Willen aufsetzen wollen, damit Sie ihm nichts als Ihr Mißfallen hinterlassen, dann ändern Sie lieber Ihren Vorsatz und lassen es ganz, lassen es bei dem, was das Gesetz bestimmt. Entziehen Sie Ihrem Bruder nichts von der Liebe, die er als Ihr Bruder verlangen kann. Und wie Sie in diesem Punkt handeln, das gehört mit dazu, auch daran erkenne man Ihre tätige Liebe.

Und so wollen wir, Liebe im Herzen, mit dem ewigen Gebet unseres Erlösers vor den Thron des Höchsten treten.«

Dann war das Vaterunser gefolgt und das Amen. Und der Kranke hatte gehofft, nun sei alles zu Ende. Aber der Propst hatte sich an seinen eigenen Worten erwärmt und hatte wieder das Wort genommen:

»Zwei Bitten hat uns der Herr hinterlassen, dunkel und unserem Verständnis schwer eingehend. Da ist das Gebet: zu uns komme Dein Reich! Es sind Bücherschränke voll Weisheit darüber zusammengeschrieben worden, und man hat die Tiefe dieses Wortes nicht ausgeschöpft. Nach des Heilands Worten kommt sein Reich nicht mit äußeren Gebärden, sondern es ist inwendig in uns. Und wieder sagt er: Du sollst Gott über alles lieben und deinen Nächsten, wie dich selbst. Und ich meine, zu dem ist das Reich Gottes gekommen, der dies Gebot erfüllt hat, dessen Wesen durch die Gnade Gottes so umgewandelt worden ist, daß er nicht anders kann, als in Gott das Gute und damit auch seinen Nächsten lieben. Und gerade das ist die Erfüllung der Bedingung, die wir unsrer Bitte um Vergebung der Sünden anhängen. Ja, lieber Schmidt: Vergib uns unsre Schuld, wie wir vergeben unfern Schuldigem ... ja, unsern Schuldigern, nicht anders!«

Damit hatte der Geistliche den Kranken verlassen, und die Rede war bei Peter Schmidt auf einen Boden gefallen, worin sie Wurzel faßte und rasch aufschoß. Es kann steinigtes Land, kann aber auch fruchtbarer Boden gewesen sein.

So stand es mit Peter Schmidt. Den ganzen Tag kam er von dem Gedanken, daß er Frieden mit Hans in Amerika machen müsse, nicht los. Er wollte Vergebung der Sünden finden, mußte daher selbst vergeben. Hans hatte sich zwar nicht direkt gegen ihn vergangen, mittelbar war er aber doch mitgetroffen worden. Hans in Amerika gehörte zu seinen Schuldigern.

Hätte ein Seelenscheidekünstler diese Gedanken daraufhin prüfen wollen, ob Peter seinen Bruder nun plötzlich mehr liebe, als er früher getan hatte, so stünde er dem Ergebnis vielleicht achselzuckend gegenüber. Aber Peter Schmidt hielt das, was jetzt bei ihm zugunsten seines Bruders sprach, für Liebe. Er lag, nach Luft und Atem ringend, in seinem Lehnstuhl und träumte mit wachen Sinnen. Den ganzen Tag hörte er für und für ein nach Beendigung der irdischen Wallfahrt bei seinem Erscheinen in der Ewigkeit geführtes plattdeutsches Zwiegespräch.

»Wat s dat för een?« kam es wie aus einer Gewitterwolke heraus. Und es war die Stimme des lieben Gottes. Ein junger schöner Mann mit Flügeln an den Schultern (ein Erzengel) antwortete: »Dat is Peter Schmidt von Westerhusen.« – »Is he mit Groll kam, or ohn Groll?« fragte der liebe Gott weiter. – »He seggt jo ohn Groll«, entgegnete der Engel. – »Dat s all goden Schnack«, erwiderte der große Gott. – »Wo ist mit dat Testament? Hett he Testament makt? Wenn he Testament makt hett, hört he hier ni her! Denn kann he man sin Gang gan. Denn hett Musje Satan wull Platz för em.«

Stundenlang lag Peter in seinem Stuhl, nicht schlafend, nicht träumend, noch weniger wachend, und immer hörte er das Gespräch. Wenn es zu Ende war, fing es wieder von vorne an: »Wat is dat för een?« Antwort des Erzengels: »Dat is Peter Schmidt ut Westerhusen.« Und so weiter.

Wenn wir nicht wohl sind und liegen wach im Bett, und unsere Schlafstube ist hell, und sie hat, wie so oft, eine Wandtapete, worauf große unmögliche Blumen sich in einförmigem Rhythmus durcheinander winden – wehe uns, wenn unsere Gedanken anfangen, sich gegen unsern Willen aufzulehnen, unsere Augen in ihren Dienst nehmen und Augen und Seele die Blumenwege hinauf- und hinabschwingen lassen! Wehe auch dem kranken Peter Schmidt, der im Lehnstuhl sitzt und immerzu, immerlos das plattdeutsche Gottesgespräch anhören mußte und erfahren mußte, Musje Satan habe einen Ofen für ihn geheizt, wenn er ein Testament mache. Wer, an Peters Stelle, hätte den Gedanken nicht aufgegeben, ein Testament zu machen?


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