Timm Kröger
Des Lebens Wegzölle
Timm Kröger

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2

Reimer war ein junger, schwarzbrauner Schneidersmann und hatte große kastanienbraune, immer wie mit Traum und Schlaf kämpfende Augen. Der Holzmann Riese dagegen war ein Bild von Kraft und Gesundheit und seine straffen Glieder immer bereit, wenigstens scheinbar bereit, seinem Zeug, so bequem ihm auch Rock und Weste und Beinkleider angemessen sein mochten, die Nähte zu sprengen. Wenn jemand auf den Einfall gekommen wäre, sich beide bei Kraftproben zu denken oder gar als Kämpfer, dann konnte es nicht zweifelhaft sein, wer Sieger bleiben mußte.

Einstweilen ging der Schwache dem Starken aus dem Wege, und als der Herbst gekommen war, überließ er ihm sogar notgedrungen insofern räumlich das Feld, als er die Wanderschaft antrat Mit Stecken und Ranzen ging es stracks gen Süden, wo man den Anschluß an die neuerbaute Chaussee gewann ... hinaus in die weite Welt.

Das Kirchdorf, das er verließ, lag hoch, zu seinen Füßen rings umher die kleinen Ortschaften, die dahin eingepfarrt waren und von dem ansehnlichen Turm und dessen gelbem Gockelhahn überwacht wurden. Tine begleitete ihren Bräutigam ein kleines Stündchen bis zum nächsten Dorf. Es wehten rauhe Winde, es war ein richtiges Abschiedswetter, ein regenschweres.

In der am Ende des Dorfs gelegenen kleinen Schenke kehrte das Pärchen ein. Die Wirtsfrau kannte sie, übersah sofort die Lage der Dinge und bat sie in die ›beste Stube‹. Da hatten die jungen Leute denn das, was sie brauchten – ein einsames, ihnen alleingehöriges Stübchen und Stündchen.

Sie baten um Kaffee und Brot und Käse, Reimer bestellte zwei Eier und zwei Kornschnäpse nach. War es das letzte mal, so wollten sie auch aus dem vollen schlemmen. Sie tauschten ihre Abschiedsgeschenke aus, Reimer verehrte seiner Braut ein gelbes, blankes Schmuckstück, das er im Spenzer festnestelte, kramte dann im Ranzen und zog ein schönes Spruchbuch mit Goldschnitt hervor. Die erste Seite war schon beschrieben:

Dir gab ein Gott Zufriedenheit
Und einen muntern Sinn;
Nun wandle du im Rosenpfad
Den Lebensweg dahin.

Neben diesem Spruch war eine rote Rose, wie man sie in Papierläden kaufte, dick mit Mehlkleister aufgepappt. Es sah nicht schön aus, aber ihnen kam es schön vor, und das ist die Hauptsache.

Tine steckte ihrem Reimer eine Taschenuhr in die Weste. Es war ein altes Erbstück von einem Ohm. Dann lachte sie; auch sie hatte ein Spruchbuch. Spruchbücher waren, zumal bei jungen Mädchen, Mode. Alle Sprüche waren auf ›Rosen‹ und ›Vergißmeinnicht‹ und ›Lebenspfad‹ abgestimmt.

Tines Spruchbuch war schöner als das von Reimer. Es hatte nicht nur Goldschnitt, nein, die Rosen- und Vergißmeinnichtsträuße waren dem Papier in schönen Farben aufgedruckt. Und wie sauber hatte ihre Hand das erste mit dem herzigen Veilchen geschmückte Blatt beschrieben:

Nun wandre hin den Lebensweg
Den Lebensweg bis an das Grab;
Ich wünsche viele Rosen dir
Und werf sie auf den Pfad hinab.
Doch wenn du meine Blume siehst,
Die Blume mit dem lieb Gesicht,
Die Blume ist ein Gruß von mir –
Lieb Reimer du, vergiß mein nicht.

Der Schneider las und las und wurde mit dem Lesen nicht fertig. Er fing an wunderlich mit den Lippen zu ziehen, scheuerte die Augen, am Ende schluchzte er und lag weinend an Hals und Brust seiner Tine. Und da weinte Tine auch.

Wir wollen nicht schlecht von ihnen denken. Es ist schon wegen geringerer Ursachen geweint worden. Die Ungewißheit ihres Glücks, ihrer Zukunft lag klar vor Augen.

Die Ahnung, daß zumal von Jochens Seite Unglück kommen könnte, lastete wie Gewitterschwere. Es war noch nicht zum Grollen und Donnern gekommen, um so schwüler und drückender spürten sie das, was drohte. Aber davon sprachen sie nicht, es war das Unausgesprochene, Dämonische. Und wer den furchtbaren Ernst des Lebens, wegen dessen wir Erlösung begehren, versteht, der wird den in der besten Stube beschlossenen Frieden nicht stören wollen.

Wir ziehen den Schlüssel ab und wachen über die innerliche Einkehr des Paares.

Es benahm sich, wie fast immer in solchen Lagen geschieht, unbeholfen und trocken und täppisch, um nicht zu sagen: dumm. Das Weinen ließ nach, aber reden taten sie wenig, das wenige abgebrochen. Und dann sagten sie wieder gar nichts, drückten sich nur stumm die Hände. Und als sie schließlich das Schweigen brachen, geschah es mit ausgesucht nüchternen Worten.

Vor der Hand aber saßen sie Hand in Hand und – schwiegen. Zwei gipserne Pausengel, die auf der Konsole standen, waren auch aufs Maul geschlagen, der eine sogar auf die Nase, denn er hatte keine. Und beide machten betrübte Gesichter. Der Ofenbeileger mit eingeknickten eisernen Drehbeinen war ganz Mitleid. Ganz still war es. Und doch klang in ihnen von irgend woher Chorgesang und brausender Orgelklang. Und als es recht voll daherströmte, stand Reimer auf und sagte die denkwürdigen Worte: »Dat is hier banni kold und min Tied ward 't ok al, Tine.«

Hundert Schritte hinter der Schenke war ein Kreuzweg. Da machten sies kurz, da reichten sie sich zum letzten mal die Hände.

Noch immer war es windig und trübe und regnerisch.

Auf der Landstraße, wie Tine ihm nachsah, nahm Reimer sich in der Tat wie ein Lebenspilger aus. Sie (er glaubte sie schon längst auf dem Heimweg) stand noch lange auf dem Knick hinter einer Stechpalme und sandte ihm Blicke und Segenswünsche nach – ›Rosen auf den Lebenspfad‹. Er konnte sie brauchen; lang und weit und lehmig dehnte sich die Straße. ›Und dann und wann ein Vergißmeinnicht am Weg‹ – ›bis zum Grab.‹

Ganz hinten, wo der Weg sich bog und ein Knick sich vorschob, war etwas. Tine hielt es für einen Mann, der auf dem Wall stand. Und er bewegte sich, als ob er grabe.

Was grub er? Das Grab ihres Glückes?

 

Allerdings war es ein Mann, sogar einer, der sich aufs Graben verstand, aber keiner auf dem Knickwall, sondern einer, der im Wagen fuhr. Und was Tine für die Bewegung des Grabens gehalten hatte, war die schwingende Armbewegung eines mit sich selbst zufriedenen Kutschers, der seine Peitsche mit Schwungbewegungen von oben nach unten neben dem Handpferd knallen oder vielmehr knipsen ließ. Am besten geht es mit der Sorte, die der Bauer ›Rattensteert‹ nennt und auch als Nachahmung eines Rattenschwanzes gelten kann.

Der mit dem Rattensteert knipsende Mann sah frisch und frech in die Welt hinein, und hieß Jochen Riese. Reimer Stieper begegnete ihm.

»Brr! Reimerchen, Jung, du gehst?«

Reimer legte die Hand auf die Wagenleiter. »Ja, ik gah, dat ward Tied!«

»Nun, es muß ja wohl sein, aber hast mir nicht Adjüs gesagt.«

»Das hätte ich wohl tun sollen. Aber da kam so viel zusammen, es lag mir so schwer.«

»Ich verstehe«, lachte Jochen, »Braut und Liebe und so was.«

»Das wars.«

»Soll ich dir was sagen?« fing Jochen an. »Es taugt nicht, daß du dich so früh mit ner Braut abgegeben hast. Du bist nichts, du hast nichts, Jahre des Wanderns liegen vor dir. Ihr werdet alt und welk, wenn ihr euch überhaupt bekommt. Du bist ein schmuckes Kerlchen, du meinst vielleicht, du kommst gut zu sitzen bei Meister Rickers, wenn was draus wird. Aber da hat eine Eule gesessen. Ich weiß, ich habe ja mit ihm zu tun, er ist zu dumm, er hat sich ›verhandelt‹, es steht nicht gut. Und was du brauchst, ist eine Braut, die Geld hat. Die wirst du leicht kriegen, wenn du vernünftig bist.«

Jochen hatte, während er sprach, bald ins Weite, bald nach dem Fuchs gesehen, nun mußte er aber Reimer Stieper ansehen, so arbeitete es in dessen Gesicht.

Er lachte. »Krieg nur keinen roten Kopf! Ich meine es gut mit dir. Deine Katrien – ja, fein und hübsch und sauber ist sie, das muß man ihr lassen. Aber sie hat auch was anderes nötig als einen Schneider, der noch nicht gewandert hat, dem noch manches Jahr dahinläuft, bevor er Meister wird, wenn er es überhaupt wird. Du siehst, ich sage, wie meine Meinung ist, ich rede Leuten nicht nach dem Bart. Das macht, ich meine es gut mit dir, Reimer.«

Reimer hatte bisher platt gesprochen, nun fing er an hochdeutsch zu sprechen. Es war ein wenig steifer als bei Jochen, allerlei nicht dahin gehörige unreine Laute rollten nebenher, aber im allgemeinen ging es doch ganz gut.

»Ich will annehmen, daß dus gut meinst. Aber es ist nun mal so: Tine und ich gehören zusammen.«

»Tine und ich gehören zusammen«, machte Jochen nach. »Papperlapapp! Du kennst mich, Reimer«, fuhr er fort, »ich heiße Jochen Riese. Und wenn Jochen Riese sagt: Es ist so, dann ist es auch so. Und ich sage: such dir eine andere Braut, die was mitbringt! Ich denke mir ungefähr so, wie bei Meister Eggert, aber bei einem, der ›reines Folium‹ hat. Es ist eine gutgehende Werkstatt, meinetwegen vier, sechs, acht Gesellen. Und der Meister möchte sich zur Ruhe setzen und hat eine Tochter. Und die Tochter ist hübsch und nett, ich sehe nicht ein, warum sie es nicht sein soll. Na, und das andere macht sich von selbst.«

»Jochen, du machst Spaß!« Reimers Gesicht war finster. »Dat kanns ni in Eernst meen'«, fügte er hinzu.

Jochen Riese sah ihn verwundert an. So hatte er ihn noch nicht gesehen, das Reimerchen, so gefährlich. Der Junge sprühte ja ordentlich aus den braunen Augen.

Jochen besann sich und ging behutsam vor.

»Das war natürlich Spaß«, erwiderte er und fing wieder an zu knipsen, »So darfst du es selbstverständlich nicht machen. Ich meine nur, ob ihr es auch ordentlich überlegt habt. Laßt ein Jahr oder zwei ins Land gehen und seht, wie ihr dann über die Sache denkt. Oder laßt es, wie es ist. Ich will ja nur dein Bestes.«

Der Wagen kam in langsame Bewegung. Jochen reichte seinem Schulkameraden die Rechte. »Leb also wohl, Reimerchen, und nichts für ungut. Und viel Glück auf die Wanderschaft! Du wirst viel erleben, halt alte Freunde in Andenken und komm gesund zurück!«

›Die Tine hat ihn begleitet‹ dachte Jochen. ›Ich will sie einholen und auf den Wagen nehmen.‹ Er lockerte die Zügel und ließ den Rattenschwanz pfeifen.

Tine war wirklich noch in dem Dorf, wo sie mit Reimer eingekehrt war, als Jochens Wagen über die holperige Straße daherstieß und knatterte. Sie erkannte ihn von weitem. Ein feiner Instinkt veranlaßte sie, ihm aus dem Weg zu gehen. Sie trat bei dem Höker Sievers in den Laden und stand vor der Tonbank, und Sievers wog ihr ein Pfund Pflaumen ab, als Jochen breit und behäbig vorüberrasselte.


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