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Neununddreissigstes Kapitel. Leidensstationen

»Ich bin sein Weib!« – Himmel und Erde haben es gehört. – Nun hat sie's überwunden! Das Ungeheuere, vor dem die Furcht sie bis an den Rand des Verbrechens gebracht, – jetzt in einem Augenblick der Liebe hat sie es getan, ohne Kampf, ohne Zaudern. Freude im Himmel und auf Erden über die büßende Sünderin! Und alle die unsichtbaren Mächte, die den Kreuzesweg, wo immer ein Mensch ihn wandle, bewachen, alle die Engel, die Beschützer des, nun unterbrochenen, Spiels, sie eilen ihr zu Hilfe, der neuen Magdalena, daß sie aus ihrer Tiefe mit emporklimme den Kalvarienberg bis zum Hügel von Golgatha hinan. – Und als brausten die himmlischen Heerscharen zum Geleit für diesen Kreuzeszug heran, so fegt jetzt plötzlich eine Windsbraut durch den offenen Raum über die Bühne und über die Zuschauer hinweg, daß der leichte Bretterbau, in Staub gehüllt, kracht und ächzt und die ausgeschnittenen Palmen im Winde rauschen, die Paläste von Jerusalem wanken und die gemalten Gardinen in die Luft fliegen. Der Sturm verweht das Gewitter. Der eine Windstoß zerreißt die drohenden Wolken, daß die Sonne einen schrägen, grellen Strahl herabsendet, wie das werdende Licht, als es das Chaos zu scheiden begann! – »Und es kam aber ein Säuseln und in dem Säuseln war Gott!« Leise schauert von dem goldenen Streifen durchleuchtet in stäubenden Perlen leichter Regen nieder und löscht den Staub und die trockene Erdenschwüle.

Still ist es geworden unter den Menschen auf der Bühne und im Zuschauerraum, – der Himmel weint die Träne der Versöhnung über das Weib, das wundersam verklärte in der großen Offenbarung der Liebe. – Und wie eine versengte Blume den Kelch durstig dem kühlenden Tau öffnet, so bewegt nun auch der Kranke die Lippen und saugt begierig, tief atmend die erquickende Regenluft ein. –

»O – er lebt!« sagt die Gräfin mit einem Ton, wie es süßer nicht die Mutter am Bett des totgeglaubten Kindes, die Braut am Herzen des wunden Geliebten sagen kann!

»Er lebt, ach Gott, er lebt!« wiederholen alle.

Indessen ist der Arzt gekommen und hat den Kranken untersucht, der einstweilen auf Tücher und Mäntel gebettet ward: »Es ist eine starke Herzaffektion. Der Patient muß durchaus in eine bessere Wohnung gebracht werden als die bisherige. Dieser Zustand bedarf der sorgsamsten Pflege, um der Gefahr vorzubeugen. Ich habe schon wiederholt darauf aufmerksam gemacht, aber immer vergebens!«

»Jetzt wird es anders, Herr Doktor!« sagt die Gräfin. »Ich habe schon für Zimmer gesorgt und bitte, ihn dahin bringen zu dürfen.«

»Die Gräfin!« hört sie plötzlich eine Stimme hinter sich sagen – und als sie sich umsieht, steht in sprachlosem Staunen Ludwig Groß vor ihr. »Kann denn das sein? Ich komme soeben vom Münchener Zug – ich habe aber Frau Gräfin nicht gesehen –«

»Das glaub' ich wohl – ich fuhr die Nacht durch. – Uebrigens, Herr Groß, nennen Sie mich nicht mehr Gräfin Wildenau, – ich heiße Magdalena Freyer.« Der Zeichnungslehrer verstummt, er kniet bei dem Kranken nieder, der schwach zu atmen beginnt, und beugt sich lange über ihn: »Wenn es nur nicht zu spät ist!« murmelt er bitter und unversöhnt.

Der Bürgermeister tritt zur Gräfin und reicht ihr die Hand, ihr bewegt in die Augen sehend: »Eine solche Tat kommt niemals zu spät, gnädige Frau! Und wenn sie dem einzelnen nicht mehr zugute kommt, so ist sie doch ein Beitrag zu dem sittlichen Gesamtvermögen der Menschheit,« sagt er milde tröstend.

»Ich danke Ihnen! Sie tun mir wohl!« erwidert die Gräfin, und große Tränen stehen ihr im Auge.

Jetzt ist eine Bahre herbeigeschafft worden und der Arzt läßt den Kranken sanft aufheben und darauf lagern: »Zuerst wollen wir ihn in die Garderobe schaffen und ihm etwas Nahrung geben, bevor man ihn nach Hause bringt.«

Die Gräfin hat die Straße bezeichnet: »Es ist doch ein ziemlicher Weg bis dorthin.«

Der Befehl wird ausgeführt und die Trage in die Ankleideräume gebracht. Die Freunde folgen mit der Gräfin. Das Publikum wartet draußen in banger Spannung. Auf dem Wege zur Garderobe gesellt sich eine hohe Frauengestalt schüchtern der Gräfin zu und sieht sie mit großen glänzenden Augen an: »Ich weiß nicht, ob Sie mich noch kennen? Ich möchte Ihnen nur sagen, wie gar viel mich das freut, daß Sie da sind! O, wie ich ihm das gönn'!«

»Maria –!« sagt die Gräfin beschämt und überwältigt von dem Liebreiz der selbstlosesten Seele und nimmt ihre beiden Hände: »Maria – Mutter Gottes!« Und ihr Haupt sinkt an die jungfräuliche Brust des Mädchens. Dieses schlingt liebevoll den Arm um sie und stützt sie im Weiterschreiten.

»Ja, gelten's, mir zwei, mir müssen schon z'sammhalten, wie die Maria und die Magdalena! Mir wollen's halt miteinander tragen, – 's ist schon recht hart, aber unsere zwei Heiligen haben's ja auch nicht besser g'habt! Und gelten's, wenn S' mich zu was brauchen können –« Die Garderobe ist erreicht, der Zug stockt, die Gräfin drückt ihr noch die Hand: »Ja, wir wollen zusammenhalten, Maria!« Dann eilt sie an das Lager des Gatten, – aber der Arzt winkt ihr, sich noch etwas entfernt zu halten, damit ihr plötzlicher Anblick ihm nicht schade, wenn er zu sich komme. Er fühlt ihm den Puls: »Kaum fünfzig Schläge – da muß ich zu einer Aetherinjektion schreiten.«

Er zieht den kleinen Apparat aus der Tasche und ein Fläschchen mit Aether, füllt das Instrument, stößt die Nadel in den Arm des Bewußtlosen und spritzt ihm die belebende Flüssigkeit ein. – In atemloser Spannung harren die Umstehenden der Wirkung: »Holen Sie einstweilen Champagner, Eier, Bouillon, was Sie bekommen – nur etwas Kräftiges, was die Herztätigkeit hebt.«

Der Zeichenlehrer eilt fort. Jetzt kommt auch der Pfarrer, der eben erst erfahren hat, was geschehen: »Muß er versehen werden?« fragt er.

»Nein, ein so rapider Verlauf ist nicht zu fürchten!« meint der Arzt: »Und jetzt ist Ruhe das Nötigste.« Der Bürgermeister führt den Pfarrer zur Gräfin: »Die Gemahlin Herrn Freyers, die sich soeben vor aller Welt öffentlich zu ihm bekannt hat,« sagt er leise: »Frau Gräfin Wildenau!«

»Ah, ah, – das sind ja außerordentliche Ereignisse. Nun, da kann ich nur wünschen, daß Gott solche Liebe auch belohnen möge!« sagt der Geistliche mit seinem Takt: »Frau Gräfin haben da ein großes Opfer gebracht.«

»O Herr Pfarrer, wenn Sie wüßten –« die Gräfin stockt: »Horch – er kommt zu sich!« Sie faltet lauschend die Hände – »jetzt helfe Gott uns weiter!«

»Wie ist Ihnen, Herr Freyer?« fragt der Arzt.

»Leidlich, Herr Doktor! Maria, du weinst? Hab' ich euch erschreckt?« Er winkt Maria, sie eilt zu ihm.

Der Gräfin wird es trübe vor den Augen, er flüstert dem Mädchen etwas ins Ohr.

Das ist Höllenqual. – Maria, die Reine, darf bei ihm sein, ihr gilt sein erster Blick, sein erstes Wort, während sie, die Gattin, wie eine Verdammte von ferne steht! Und diese Qual hat sie ihn leiden lassen jahrelang – ohne Erbarmen. »Gott, du bist gerecht und deine Wage wiegt genau!« Aber der Allweise hat nicht nur Strafe – er hat auch Gnade.

»Wo sie ist?« wiederholt Anastasia laut und freudig seine Worte: »Im Chordurchgang willst du sie gesehen haben? O, da hast du dich gewiß geirrt!« fügt sie auf einen Wink des Arztes bei.

»Ja, du hast recht, wie käme sie auch hierher – es ist ja unmöglich!«

Die Gräfin will vortreten, aber der Arzt hält sie gebieterisch zurück.

Der Bürgermeister nähert sich ihm leise: »Mein lieber Freyer. – Was könnte ich Ihnen denn tun, hätten Sie keinen Wunsch?«

»Keinen als zu sterben! Gern hätt' ich die Vorstellungen noch zu Ende gespielt, – um euretwillen, – aber mir wird wohl sein!«

Der Zeichenlehrer bringt die Sachen, die der Arzt bestellte.

Dieser tritt mit einem Glas Champagner zu ihm: »So, Herr Freyer, das trinken Sie, das wird Ihnen gut tun, und dann essen Sie einen Bissen.«

Aber der Kranke berührt das Glas nicht: »O nein, ich nehme nichts mehr!«

»Warum nicht? Sie müssen etwas genießen, sonst sind Sie verloren!« sagt der Arzt.

»Ich kann nicht!«

»Freilich können Sie!«

»Nun, so will ich nicht!«

»Freyer,« fleht der Zeichenlehrer: »Sei nicht eigensinnig – was fällt dir ein!« Und er bietet ihm abermals vergebens den stärkenden Trank.

»Wenn ich das trinke, bleibe ich dann leben?« fragt Freyer.

»Ja, gewiß!«

»O, dann trink' ich es nicht!«

Der Bürgermeister tritt nun zu ihm: »Freyer, auch nicht, wenn ich Sie bitte?«

»O, quält mich nicht, – zwingt mich nicht mehr zum Leben!« fleht Freyer mit herzzerreißendem Ausdruck. »Wenn ihr wüßtet, was ich gelitten habe – ihr gönntet mir die Erlösung, da Gott sie mir schickt! Ich hab' euch geschworen, treu meiner Pflicht zu sein bis in den Tod, – nicht wahr, Mesner, auf Daisenbergers Grab? Ich hab's gehalten, bis ich nicht mehr konnte – jetzt – laßt mich ruhig sterben!«

»O Freund!« sagt der Mesner, »sollen wir dich verlieren?« Der große starke Mann weint wie ein Kind: »Lebe für uns, wenn nicht für dich!«

»Nein, Mesner, wenn Gott mich ruft, so darf ich nicht zögern, – denn ich habe noch eine andere Pflicht. – Für euch hab' ich gelebt – für eine andere muß ich sterben

»Aber, Herr Freyer!« sagt der Pfarrer freundlich: »Wenn nun der andern gar nicht damit gedient wäre, daß Sie sterben?«

Freyer sieht ihn an, als verstehe er nicht.

»Wenn nun die andere, von der Sie reden – gekommen wäre, – Sie zu pflegen und bei Ihnen zu bleiben?« fährt der Pfarrer fort.

Freyer richtet sich ein wenig auf – wie ein Morgenrot dämmert ein seliges Begreifen in seinem Gesicht auf. –

»Wenn Sie doch nicht falsch gesehen hätten?« ergänzt nun sanft der Bürgermeister.

»Träume ich nicht – wär's wahr – wär's möglich?«

»Wenn Sie sich nicht aufregen und ganz ruhig sein wollen!« sagt der Arzt, »dann bring' ich Ihnen – Ihre Frau!«

»Meine – Frau? Ihr macht mich wahnsinnig! Ich habe keine Frau!«

»Nicht – du hast keine Frau?« ruft es jetzt wie aus der Tiefe eines Meeres von Schmerz und Liebe herauf und vor ihm nieder sinkt das unglückliche Weib, das den eigenen Gatten gezwungen, sie zu verleugnen. –

Ein Schrei. – »Täuble!« und sein Haupt sinkt an ihre Brust.

Lautlose Stille herrscht im Gemach. Unwillkürlich faltet jeder die Hände im heimlichen Gebet. Niemand weiß, ob dieser Augenblick Leben oder Tod gebiert? –

Er muß aber Leben bringen, – denn der Christusspieler darf nicht auf dem Kreuzweg sterben, und Maria Magdalena muß noch bis zum Fuße des Kreuzes hinanklimmen, – das letzte, steilste Stück, – auf daß ihr Geschick sich erfülle.

Leise flüstern die Gatten. Die Umstehenden ziehen sich bescheiden zurück.

»Und du willst sterben! Nicht genug, daß du aus meinem Leben gewichen bist wie ein Schatten, – du willst auch aus der Welt gehen?« schluchzt sie leise. »Und du glaubst, daß ich dann Ruhe fände im Himmel und auf Erden?«

»O liebe Seele, mir wird wohl sein. Laß mich nur sterben – ich habe ja darum gebetet die ganze Zeit! Gott hat es gnädig gefügt. Wenn ich aus der Welt bin, wirst du Witwe und darfst dich einem andern vermählen, ohne eine Sünde zu begehen!«

»O Gott – Joseph! Ich will keinem andern gehören – ich liebe ja nichts als dich!«

Er lächelt trübe: »Du liebst mich jetzt, weil ich sterbe, – hätte ich gelebt, du würdest fortschreiten auf dem Wege der Sünde – und verloren sein. Nein, mein Kind, ich muß sterben, damit du an meinem kleinen Opfer das große Sühnopfer Christi verstehen lernest. Ich muß mich hingeben für dich, wie Christus sich hingab für die Sünde der Menschheit!«

»O, das braucht's nicht. Gott hat den Willen für die Tat genommen und er hat als solche gewirkt. Dein großes geduldiges Leiden hat mich überwunden. Du brauchst nicht zu sterben. Ich hielt dich für das, was du nicht warst, für einen Gott – und das, was du warst, erkannte ich nicht! – Jetzt erkenne ich's. Vergib meiner Torheit. Du brauchst nichts zu sein, um mich zu retten, als ein Mensch – ein echter, großer, liebenswerter Mensch, wie du's bist, – dann bedarf es keines Gottes mehr!«

»Glaubst du?« Freyer sieht sie mit einem überirdischen Blick an: »Du meinst, das könne dir genügen – ein Mensch?! Nein, mein Kind, das wäre dieselbe Täuschung wie ehedem. Die Flamme, die in dir lodert, verzehrt sich nicht am Irdischen. Du brauchst einen Gott und dein großes Herz ruht nicht, bis es ihn gefunden. Deshalb sei getrost: Der falsche Christus sinkt dahin und der wahre wird dir aus seinem Grabe auferstehen!«

»Nein, tu mir das nicht an, stirb nicht, laß mich's nicht an dem Toten, laß mich's an dem Lebenden sühnen, was ich verbrach! Ach, sei nicht hart – strafe mich nicht so grausam. Du schweigst? Du wirst immer blässer! Ach, du gehst und läßt mich allein auf halbem Wege stehen, daß ich nicht vor noch zurück finde! Joseph, ich habe mit dem Herzog gebrochen, habe alles von mir geworfen, was uns trennte, – ich bin eine arme hilflose Frau geworden, und du willst mich verlassen – jetzt, wo ich mein ganzes Sein auf dich gestellt – wo ich nichts mehr bin als dein Weib!«

Da richtet sich Freyer auf.

»Gebt mir Wein – jetzt will ich leben!« Eine allgemeine freudige Bewegung entsteht unter den Freunden und die Gräfin reicht ihm den schäumenden Kelch und stützt ihm mit einer Hand den Kopf, daß er trinken kann. Dann gibt sie ihm einen Bissen Nahrung und richtet ihm eine bequemere Lage ein. – »Komm, laß dein Weib dich pflegen!« sagt sie so weich und schmelzend, daß es alle Umstehenden mit Rührung ergreift. Dann legt sie ihm einen kühlenden Umschlag auf die Stirn. »Ach, das tut wohl!« sagt er, aber sein Auge hängt unverwandt an dem ihren und er scheint etwas anderes zu meinen als das äußere Mittel, doch auch dieses verfehlt seine Wirkung nicht. Er atmet allmählich gleichmäßiger. Nach und nach fallen ihm die Augen zu, die Schwäche macht sich geltend, aber er schlummert süß und ruhig.

Der Arzt entfernt sich, um die Fremden draußen mit tröstlichem Bescheid zu beruhigen. Nur die Freunde und der Pfarrer bleiben zurück. Da erhebt sich die Gräfin vom Lager des Schlafenden und hebt die Arme gen Himmel: »Leih ihn mir, Barmherziger! Ich habe mein Recht auf ihn verscherzt – ich sag's angesichts aller dieser Zeugen – aber sei barmherzig und leih ihn mir nur so lange, bis ich gesühnt, was ich an ihm verbrach, – damit ich nicht dahin gehen muß in die Verdammnis ewiger Reue!« – Sie spricht es leise, um ihn nicht zu wecken, aber doch so, daß es die Umstehenden hören können. Ihre Hände sind krampfhaft gefaltet, ihr Auge ist starr emporgerichtet, als wolle es sich in das Auge Gottes hineinbohren, – ihr ganzes Wesen ist Energie der Verzweiflung, die mit der Ewigkeit um den Augenblick ringt.

»Gott – Gott, laß ihn mir! Halte sie noch zurück, die strafende Hand – gib Frist, Allmächtiger, sieh erst, wie ich büße, – sieh erst, ob ich nicht durch Gnade zu retten bin? Freunde, Freunde, betet mit mir!«

Und sie faßt wie um Hilfe flehend die Hände der Umstehenden, ihre Kraft verläßt sie. Sie gleitet zitternd an Ludwig nieder und ihre Stirn mit kaltem Schweiß bedeckt, lehnt am Arm des Freundes.

Die Umstehenden entblößen die Häupter und beten halblaut. Der Busen des geängstigten Weibes ringt in Todesqual und fast erstickt von den unterdrückten Tränen, stammelt sie nur noch halb bewußtlos »Erbarme dich unser!« –

Der Arzt hat indessen alles Nötige angeordnet und erwartet das Erwachen des Patienten, um ihn nach Hause zu schaffen.

Die leisen Gebete sind verstummt, und die Freunde haben sich still um das Lager niedergelassen. Die Gräfin kniet wieder bei dem Kranken und hält ihn sanft umschlungen. Sie läßt ihn nicht mehr aus den Armen, sie muß die Augenblicke nützen, denn wer weiß, wie lange sie ihn noch hat. – Die Tränen sind jetzt zurückgedämmt, aus Sorge, ihn zu stören, aber im Herzen fließen sie fort. Ihre Lippen ruhen auf seiner Hand, ohne sich zu regen, in einem einzigen ununterbrochenen Kuß – diese Hand, die sie einst so machtvoll gestützt und geführt, wie hager und blaß ist sie jetzt, wie kraftlos liegt sie auf der Decke, als könne sie sich nie mehr heben, die ihre zu fassen mit liebendem Druck. – Kann der Kuß eines ganzen Lebens das gut machen? Und wider Willen fallen abermals ein paar heiße Tränen auf ihn nieder.

»Weibi, du weinst?«

Diese Stimme! Sie hebt den Kopf, aber sie kann ihm nicht ins Auge sehen, – es schaut sie ja so lieb an, so süß! Darf sie, die Verdammte, die Süßigkeit dieses Blickes kosten? Nein, nimmer! Und ohne die Wimper zu ihm aufzuschlagen, birgt sie die schuldgebeugte Stirn in unaussprechlicher Zärtlichkeit an seiner Brust. Da hebt sich auch die schwache Hand und streichelt ihr leicht die Wange, so leicht sie berührend, wie ein herabfallendes, welkes Blatt:

»Weibi, nicht weinen!« bittet er mit der Stimme eines tröstenden Engels: »Ruhig sein. – Gott ist ja gut, er wird auch uns gnädig sein!«

O, Posaune des Weltgerichts, was ist dein Schall und all dein Dröhnen für den Sünder gegen das sanfte Wort verzeihender Liebe, aus wunder Brust! –

Die Gräfin sinkt überwältigt zusammen unter dem milden, dem gnadenvollen Gericht! –

Vor dem Theater hat sich eine lebendige Gasse gebildet. Er werde heimgebracht, heißt es, und die Menschen stehen dicht, Kopf an Kopf, um ihn zu erwarten. Endlich geht eine Bewegung durch die Reihen. Er kommt! Lebt er noch? Ja, man sagt, er lebe noch!

Langsamen, behutsamen Schrittes tragen sie die Bahre, auf der er liegt, bleich und regungslos wie ein Toter. Der Bürgermeister und Ludwig haben mit angefaßt. Neben ihm geht der Pfarrer und auf der anderen Seite, sein Haupt mit der Hand stützend, die Gräfin. Sie hält sich selbst kaum aufrecht, aber sie verwendet kein Auge von ihm.

Wie auf dem Wege nach Golgatha empfängt lautloses Schluchzen den Zug. »O lieber Gott, der Arme! Ach, nur einen Blick, nur eine Hand,« bitten die Leute, »haltet nur einen Augenblick!«

Und wie aus einem Impuls machen die Träger Halt und mit klopfendem Herzen treten die Leute heran und berühren ehrfürchtig, bescheiden die herabhängenden Tücher oder winken ihm zu mit überströmenden Augen und dem Blick voll unaussprechlichen Wehs.

Da zieht die Gräfin in einem schönen Gefühl der Humanität sanft seine Hand aus den Hüllen hervor und hält sie den Trauernden hin, die so treu seiner geharrt, daß sie sie küssen können. Und sie empfangen es wie ein Almosen, wie der Schmachtende einen Labetrunk – und jeder, der nahen kann, tut einen durstigen, seligen Zug, aus dem dargereichten Becher der Liebe. Dankbar segnende Blicke folgen der Gräfin und sie fühlt diesen Segen und es überkommt sie die Freude der Heiligen, wenn Gott ihrem Tun die Gnadenwirkung verleiht. Sie ist jetzt eine Bettlerin, und doch ist sie noch nie so reich gewesen, solche Almosen zu spenden: »Ja, küßt ihm nur die Hand – er verdient es!« flüstert sie und ihr Blick leuchtet über ihn hin in einer Liebe, die nicht von dieser Welt ist und die doch sie und die Welt und alles, was da atmet, zusammenschmilzt zu einer einzigen großen brüderlichen Gemeinde!

Und er lächelt sie an – und jetzt erträgt sie den süßen zärtlichen Blick, denn ihr ist, als könne einst eine Zeit kommen, wo sie ihn wieder verdiente! –

Endlich ist das hübsche stille Haus erreicht, das sie heute vorsorglich für ihn und sich gemietet. Bis hierher ist ihm die trauernde Liebe gefolgt. Der Zug ist so angewachsen, daß die Träger mit der Bahre kaum ins Haus können. »Leb wohl – du Armer, Gott sei mit dir!« ruft es ihm aus aller Mund nach, als er hineingetragen wird und die Tür sich hinter ihm schließt.

Das geräumige Zimmer des Erdgeschosses nimmt den Kranken auf. Die Hausfrau hat in aller Eile das Bett hergerichtet. Darein wird er gelagert. Und als sich zum erstenmal dem müden, geplagten Körper weiche Kissen schmiegen, von sorglicher Hand geordnet, als sich vor allen Leuten sein Weib über ihn beugt und sein Haupt auf ihrem Arm ruht – da blickt er glückselig im Kreise um und kann nichts denken und nichts sagen, als: »O Gott, wie geht mir's gut!« Die Umstehenden übermannt es. Sie wenden sich ab, um ihre Bewegung zu verbergen.

Die Gräfin legt ihr Haupt neben ihm auf sein Kissen und wehrt den Tränen nicht mehr. Ihre Lippen flüstern an seinem Ohr: »Engel, du bescheidener, verzeihender, liebevoller Engel!« Sie verstummt – sie muß sie noch zurückdämmen, die volle Sprache ihres Herzens, denn der Schrei ihrer Reue könnte den schwachen Kranken stören. Aber er fühlt es dennoch, was sie bewegt, er hat ja immer in ihrer Seele gelesen, solange sie ihn noch geliebt – erst wie das Fremde alles zwischen sie trat, verstand er sie nicht mehr. Jetzt ist nichts Fremdes mehr zwischen ihnen und jetzt fühlt er, was sie in Reue um ihn leiden muß, und ihn jammert ihrer Qual, er denkt nur an sie und wie er sie trösten könne. – Das aber ist es eben, was sie zermalmt, was sie mehr erschüttert als alle Vorwürfe, die er ihr zu machen ein Recht hätte, denn je größer und edler sein Wesen sich ihr offenbart, desto größer wird ihre Schuld! –

Die Freunde wollen der Gräfin abwechselnd die Nacht wachen helfen und ziehen sich jetzt zurück. Der Arzt erklärt, es sei keine momentane Gefahr mehr, und geht, um weitere Medikamente zu holen. Als sie alle draußen sind, kniet sie an dem Bett nieder: »Nun bin ich dein!« spricht sie leise: »Ich frage nicht, ob du mir verzeihest, denn ich sehe, daß du es schon getan, – ich frage nur, ob du das verurteilte, schuldbeladene Weib wieder aufnimmst an dein Herz? Mit dem, was ich heute tat, hab' ich das Los der Dürftigkeit gewählt. Ich kann dir nichts mehr bieten an irdischen Gütern, ich kann dir nur ein ärmliches Heim gründen, für dich arbeiten, dich pflegen und durch die Liebe und Treue eines ganzen Lebens sühnen, was ich verbrach! Willst du damit vorlieb nehmen?«

Da zieht Freyer sie mit seiner schwachen Kraft an sich, tränen des unaussprechlichsten Glücks rieseln ihm über die Wange: »Ich danke dir, Gott, heute erst hast du sie mir geschenkt! Komm, mein Weib – leg dein Geschick vertrauend in Gottes Hand und dein liebes Herz an das meine, und alles wird gut werden. Gott wird ja gnädig sein und mich noch ein paar Jahre leben lassen, daß ich für dich arbeiten kann, nicht du für mich, – O seliges Wort, arbeiten für mein Weib, das macht mich gesund. Und jetzt, solang wir allein sind, den ersten heiligen Kuß wahrer Gattenliebe!«

Er will den Kopf erheben, sie aber drückt ihn mit sanfter Gewalt in die Kissen zurück: »Nein, du mußt ganz ruhig sein! Denke einmal wieder, du seist ein Marmorbild – wie damals – und laß dich küssen. Bleib kalt und laß sie über dich ergehen, die ganze heiße Inbrunst des reuigen, liebenden Herzens!« Und sie beugt sich herab und berührt den bleichen Mund mit zitternden Lippen sanft, fast schüchtern, – durchbebt von bräutlichem Schauer. –

»O, das war wieder der Kuß eines Engels!« haucht er vor sich hin und faltet seine Hände über dem demütig herabgesunkenen Haupt des büßenden Weibes. –


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