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Neuntes Kapitel. Zeichen und Wunder

Die große Anzahl von Fremden, die gestern keine Billets mehr bekamen, haben eine zweite Vorstellung notwendig gemacht. Die Gräfin hat ihr nicht beigewohnt. Für sie ist es kein Schauspiel, sondern ein Erlebnis gewesen – eine Wiederholung würde es zum Schauspiel machen. Sie hat sich den Tag über verborgen gehalten wie eine Gefangene, um nicht wieder Bekannten in die Hände zu fallen. Jetzt verkündet fernes Wagengerassel das Ende der Vorstellung. Es ist ein wonnevoller Herbstabend. Die Familie Groß kommt heimkehrend ans Fenster und wundert sich, die Frau Gräfin noch im Zimmer zu finden. Aus der Werkstatt tönt leises Schluchzen. Die übrigen Fremden des Hauses kommen aus der Vorstellung zurück und zahlen wie jeder ihren Tribut an Tränen. Ein Amerikaner war heute zum zweitenmal darin. Er sitzt weinend in einem Winkel auf der Ofenbank und sagt, es sei noch ergreifender gewesen als gestern. Der alte Groß bestätigt es: Joseph Freyer habe gespielt wie noch nie!

Die Gräfin hört es drin im Zimmer und es berührt sie eigentümlich. Warum hat er gerade heute gespielt wie noch nie?

Es klopft leise an die Tür.

Ein Glutstrom schießt der Gräfin ins Gesicht – sollte er –? Er könnte von der anderen Seite durch den Garten gekommen sein, um den Leuten auszuweichen. »Herein!« ruft sie.

Es ist Josepha, ein Telegramm in der Hand. »Der Bote wartet, ob er Antwort mitnehmen soll.«

Die Gräfin öffnet es und liest. Es ist vom Prinzen: »Bitte um Antwort, ob ich Diner absagen soll.«

»Es ist gut. Ich werde die Antwort hinschicken.«

Josepha geht.

»Wenn nur Ludwig da wäre!« denkt die Gräfin. »Er wartet gewiß auf Freyer, um ihn wieder wie gestern mitzubringen.«

Das Herz klopft ihr atemraubend. Eine Viertelstunde um die andere vergeht. Endlich kommt Ludwig – aber allein.

Die Gräfin sitzt am offenen Fenster und Ludwig macht bei ihr Halt.

»Nun, wie war's heute?«

»Großartig,« sagt Ludwig. »So habe ich Freyer noch nie gesehen. Heute war er vollendet, geradezu überirdisch! Es ist schade, daß Sie nicht dort waren.«

»Fragte er nach mir?«

»Ja, ich erklärte ihm, daß Sie es nicht zum zweitenmal sehen wollten – und aus welchem Grunde. Da nickte er und sagte: ›Das freut mich von der Dame!‹«

»Also – wir verstehen uns!« Die Gräfin holt tief Atem. »Schlugen Sie ihm vor, mit herauszukommen?«

»Nein, das glaubte ich der Frau Gräfin nicht tun zu dürfen – jetzt muß er aus freiem Antrieb kommen, sonst würden sich Frau Gräfin etwas vergeben.«

»Sie haben recht – ich danke Ihnen!« sagt die Gräfin bleich und beißt sich auf die Lippen. »Glauben Sie, daß – er noch kommt?«

»Leider nein – er ging direkt nach Hause.«

»Wollen Sie mir einen Gefallen tun?«

»Gewiß, Frau Gräfin.«

»Besorgen Sie mir ein Telegramm. Ich habe morgen ein Diner zu Hause und möchte telegraphieren, daß ich komme.«

»Frau Gräfin wollen nicht mehr hier bleiben?«

»Nein!« sagt sie mit einem Tone, scharf und schneidend wie ein Messer, das man sich selbst ins Herz stößt. »Kommen Sie herein, bitte!«

Ludwig folgt dem Befehl, und sie schreibt mit der Haltung einer Königin, die ein Todesurteil unterschreibt:

»Erbprinz von Metten-Barnheim, München. Komme morgen fünf Uhr. Diner kann stattfinden. Madeleine.«

»Hier, wenn Sie so gut sein wollen,« sagt sie und gibt Ludwig das Blatt.

Dieser sieht sie ernst an, als wolle er sagen: »Wenn's dich nur nicht reut!« Aber er kleidet die Frage in ein bescheidenes: »Soll ich das gleich besorgen?«

»Ja, bitte!« sagt sie und es liegt etwas so Kaltes in ihrem ganzen Wesen, daß Ludwig erschrickt.

»Ist das echte Herzenswärme, die so rasch gefrieren kann?« fragt er sich. Die Gräfin fühlt den stummen Tadel und die Enttäuschung in dem Wesen Ludwigs. Und sie fühlt, daß er recht hat. Sie ruft ihn zurück, da er sich der Tür nähert. »Geben Sie her,« sagt sie und nimmt ihm das Telegramm ab, »ich will mir's doch noch überlegen.« Dann blickt sie in das Auge des edlen Menschen, das sich nun wieder für sie erhellt. »Sie verstehen mich besser als ich selbst!« sagt sie ernst und reicht ihm die Hand.

»Ich danke Ihnen für das Wort – es macht mich stolz, Frau Gräfin!« sagt Ludwig mit glücklichem Ausdruck und legt das Telegramm auf den Tisch. »Jetzt will ich, Erlaucht, aber nicht stören, damit Sie überlegen können, was Sie tun wollen.«

Ludwig hat das Zimmer verlassen. Es dämmert. Die Gräfin sitzt am Tisch und hat die kleine Hand auf dem Telegramm geballt liegen.

»Die Ammergauer üben, ohne es zu wissen, einen moralischen Zwang aus, der unwiderstehlich ist. Es ist eine Macht der Wahrheit in diesen Menschen, daß man sich nicht einmal selbst belügen kann in ihrer Gegenwart!« sagt sie halb trotzig und halb bewunderungsvoll. Was nun tun? Ihr ferneres Hierbleiben und das Absagen des Diners ist ein Bruch mit der ganzen Gesellschaft. Wer aber dankt ihr hier ein solches Opfer? Wer fragt hier nach der Gräfin Wildenau? Sie ist eine von den Tausenden, die kommen und gehen, und eine große Erinnerung mitnehmen, ohne einem dieser Menschen eine solche zu hinterlassen. Welche Verantwortung bürdet sie ihnen auf, wenn sie diesem Eindruck eine Tragweite gibt, die jene weder beabsichtigt, noch geahnt haben. Man muß den Menschen keine Opfer aufdringen, nach denen sie nicht begehren!

Sie stützt unmutig den Arm auf den Tisch. Und doch – jetzt, in dieser Stimmung, in das prosaische, oberflächliche Treiben zurück, nachdem sie gestern von Angesicht zu Angesicht die Gottheit zu schauen gemeint? Kann sie es noch? Hätte der stumme Vorwurf in Ludwigs Blick dann nicht recht? Sie legt sinnend das schöne Gesicht in die Hände.

Sie hatte es nicht bemerkt, daß jemand an die Tür pochte, ein Wagen fuhr in der Entfernung vorüber und vor dem Gerassel hörte man nichts. Aus demselben Grunde öffnet auch der, welcher geklopft, leise die Tür, weil er glaubt, das »Herein« nicht vernommen zu haben. Die Gräfin hebt auf das Geräusch den Kopf. – Freyer steht vor ihr.

»Sie kommen – Sie kommen doch!« ruft sie und springt auf, seine Hand zu fassen, damit er ihr nicht wieder entschwinde, der süße, der selige Traum!

»Verzeihen Sie, wenn ich störe,« spricht er leise und schüchtern, »ich – ich wäre nicht gekommen – doch es litt mich nicht zu Hause, ich war heute so erregt! Als es dunkel wurde, trieb es mich hier in der Nähe herum – ich war, ich hatte –«

»Sie hatten das Bedürfnis der Aussprache mit einer verständnisvollen Seele, und das trieb Sie in meine Nähe, nicht wahr?«

»Ja, Frau Gräfin! Aber ich würde es dennoch nicht gewagt haben, herein zu kommen, wenn nicht –«

»Nun?«

»Ludwig begegnete mir und sagte, Erlaucht wollten fort.« –

»Ah – und das tat Ihnen leid?«

»Ich wollte Ihnen wenigstens noch adieu sagen und Ihnen danken für alles, was Sie an meiner unglücklichen Verwandten, der Josepha, tun!« sagt er ausweichend. »Ich habe es leider gestern versäumt, ich war so befangen!«

»Sie sind nicht wahr gegen mich, Herr Freyer!« sagt die Gräfin und winkt ihm, sich zu setzen. »Dieser Dank kommt Ihnen nicht von Herzen, denn es ist Ihnen ganz gleichgültig, was ich für Josepha tue. Es war nur der Vorwand, zu mir zu kommen – weil Sie sich das, was Sie wirklich hertreibt, nicht eingestehen wollen. Hab' ich nicht recht?«

»Frau Gräfin,« sagt Freyer in höchster Verwirrung und will aufstehen.

Sie legt sanft die Hand auf die seine und hält ihn zurück. »Bleiben Sie! Sie denken so streng in allem – wie denken Sie über die Wahrheit?«

Freyer schlägt die Augen nieder.

»Ist das wahr, wenn Sie sagen, Sie kämen, um mir für Josepha zu danken? Zieht Sie nicht das Gefühl her, daß von all den tausend Seelen, die im Laufe des Sommers an Ihnen vorüberzogen, vielleicht doch keine ist, die Sie und Ihre Aufgabe so verstehen dürfte wie ich?«

Freyer faltet die Hände auf den Knieen und neigt schweigend das Haupt.

»Und haben Sie vielleicht nicht an mich gedacht, wie ich an Sie, alle die Tage her, seit sich damals am Berge unsere Augen begegneten, als habe uns eine höhere Macht einander gezeigt?«

Freyer schweigt, aber wie der übervolle Becher bei der geringsten Bewegung überläuft, so quellen ihm wieder die Tränen aus den Augen.

»Weshalb haben Sie mich so angesehen, von da oben herunter, und in dem Blick Ihre ganze Seele mit einer Welt von Schmerz und Lust über mich ergossen, wie ein Blütenbaum den Vorübergehenden mit seinem Blütenregen überschüttet? Doch sicher nicht um eines erträglichen Frauenantlitzes willen, sondern deshalb, weil Sie fühlten, daß ich den Christus in Ihnen ahnte, und daß er es war, um dessentwillen ich kam. Ihr Blick sollte mir sagen: ›Ich bin's, den du suchst!‹ und ich glaubte Ihnen. Und als sich endlich die Verheißung erfüllt und der lang ersehnte Erlöser in Ihrer Gestalt vor mir stand, war es da Zufall, daß sein Seherauge mich unter den Tausenden von Köpfen herausfand, als er sagte: ›In vielen Herzen wird es bald Tag werden?‹ Hatten Sie mich nicht gesucht, wie man einem Fremden nachforscht, dem man ein auf der Fahrt gegebenes Versprechen einzulösen hat?«

Freyer erhebt jetzt die dunklen Augen groß und voll zu ihr, aber er spricht nicht.

»Und ist es wahr, daß Sie gestern nur gekommen sind, weil Ludwig es wollte, Sie, der trotz aller Bitten, Damen, welchen die Welt zu Füßen liegt, stundenlang auf seiner Treppe warten läßt? Sind Sie nicht gekommen, weil Sie ahnten, daß ich diejenige sein könnte, mit der Sie seit jener Begegnung ein unerklärlicher seelischer Zusammenhang verknüpfte?«

Freyer legt die Hand über die Augen, als wolle er nicht noch mehr daraus lesen lassen.

»Seien Sie wahr, Herr Freyer, es ist Ihrer und meiner unwürdig, uns eine konventionelle Komödie vorzuspielen. Ich muß deren in meinem Leben so viele mitmachen, daß ich endlich einmal Mensch mit Menschen sein möchte. Sagen Sie einfach, hab' ich richtig geurteilt – ja oder nein?«

»Ja!« flüstert Freyer, ohne aufzusehen.

Sie zieht ihm sanft die Hand von den Augen. »Und heute – heute endlich – kommen Sie nur aus Dankbarkeit für Ihr Mündel?« neckt sie im Uebermut einer wachsenden seligen Gewißheit.

Da faßt er die Hand, mit der sie die seine herabzog, und zieht sie erglühend an seine Lippen, dann, wie erschrocken, daß er sich so weit hinreißen ließ, streicht er die schwarzen Locken zurück, als hätten ihm diese die Sinne verwirrt, und schiebt seinen Stuhl weiter von ihr weg, um sich nicht noch einmal in Versuchung zu bringen. Sie läßt es geschehen, sie weiß jetzt, er ist doch in ihrer Gewalt – wie er auch kämpft, der Pfeil hat getroffen! – Aber groß und mächtig sind die Schwierigkeiten, die sie zu überwinden hat. Eine Koketterie würde an ihnen zu Schanden, nur die sittliche Kraft eines echten Gefühls kann mit ihnen in die Schranken treten, und dieser ist sie sich in nie gekannter Seligkeit bewußt. Noch einmal prüft sie sich und der rasche Blick schweift von der dornengeritzten Stirn der wunderbaren Gestalt vor ihr, hinab in die Tiefen ihrer Seele, sie liebt ihn wahrhaft, es ist kein Spiel, das sie mit ihm treibt, sie will sich heiligen in seiner Liebe, wie Maria Magdalena! – Aber sie ist die Magdalena im ersten Stadium. Wäre Christus ein Mensch gewesen und erreichbar wie dieser, was hätte da wohl der Büßerin Herz für Wandlungen erlitten, bis es zur wahren Läuterung durchgeglüht gewesen wäre?

»Herr Freyer,« beginnt die Gräfin leise und leidenschaftlich, »Sie sagten gestern, es ängstige Sie, wenn Menschen Ihnen abgöttische Verehrung zeigten, und Sie meinten, damit Ihrem Herrn etwas zu nehmen! Herr Freyer, können wir irgend einem Menschen auf Erden etwas geben, ohne es Gott zu geben?«

Freyer horcht hoch auf.

»Gibt es eine Seele, die Gott nicht gehört, die nicht von ihm ausgegangen, ein Teil seiner Kraft ist? und was einem Teile vom andern zufließt, – strömt es nicht im ewigen Kreislauf zum Schöpfer zurück? Wir können nichts nehmen, was nicht von Gott kommt, und nichts geben, was nicht zu ihm zurückkehrt. Kennen Sie das Prinzip der Erhaltung der Kraft?«

»Nein,« sagt Freyer, beschämt, etwas nicht zu wissen, was er gefragt wird.

»Nun, das ist mit wenig Worten erklärt. Die Wissenschaft hat nachgewiesen, daß im All nichts verloren gehen kann, daß selbst eine scheinbar nutzlos vergeudete Kraft sich nur in eine andere umsetzt. So kann in Gott nichts verloren gehen – auch wenn es nicht direkt auf ihn Bezug hat – denn er ist das geistige All! Freilich, nicht jedes Gefühl erzeugt ein Werk Gottes, wie nicht jede Anstrengung in der Natur ein Produkt hervorbringt. Aber wie hier die angewendete Kraft nicht verloren ist, weil sie andere, wenn auch sekundäre Wirkungen erzeugt, so ist auch in Gott kein Gefühl der Liebe und der Begeisterung verloren, gelte es ihm auch nur in zweiter Reihe!«

»Sehr wahr!«

»Nun, also, wenn dem so ist, – wie kann ein Mensch zum Dieb an diesem Gott werden, der uns umfängt wie das All, aus welchem wir uns gestalten, in das wir uns wieder auflösen, in dem unsere Kräfte sich unverloren umsetzen in steter Wechselwirkung?«

Freyer stützt in tiefem Sinnen den Kopf in die Hand.

»Und wenn nun gar ein Gefühl so tief in der Religion wurzelt, sich so direkt auf Gott bezieht wie das, was die Menschen Ihnen, als seinem Darsteller, entgegenbringen – was können Sie sich dann noch für Skrupel machen?«

»So habe ich noch niemand sprechen gehört! Verzeihen Sie meiner Kleinmütigkeit und Unwissenheit! – Ich bin ein armer, einfältiger Mensch – nicht wahr, Sie haben Nachsicht mit mir?«

»Freyer!« sagt die Gräfin gerührt und reicht ihm trotz der größeren Entfernung die Hand.

»Sehen Sie, ich hatte keine Gelegenheit, eine höhere Schule zu besuchen, ich war so arm! Mit zwölf Jahren habe ich meine Eltern verloren und nur den notdürftigsten Unterricht gehabt. Alles, was ich weiß, habe ich erst später durch Lesen nachgeholt, und das ist natürlich lückenhaft und unzulänglich geblieben. Auf unseren Bergen, an unseren rauschenden Wassern, unter wilden Haselstauden, deren Früchte oft meine einzige Nahrung waren, bin ich aufgewachsen, die Weidepferde mit ihren Fohlen hab' ich gehütet. Draußen an der Gregoriikapelle, wo die Leine über die Felsen stürzt, da hab' ich meine Tiere auf den unabsehbaren Wiesen sich tummeln lassen, hab' mich in ein Feld von Genzianen geworfen und, auf dem Rücken liegend, in den blauen Himmel hineingestarrt und gemeint, er müsse sich doch einmal auftun, sie müsse sich ja endlich durchdringen lassen, die durchsichtige Schicht – wie's der Vogel meint, wenn er sich an der Glasscheibe den Kopf einrennt. – So hab' ich gelernt, Gott nachdenken! Und wenn mir's im Kopf und Herzen schwirren wollte, als sei ich zu etwas Besserem bestimmt, wenn mich ein Sehnen überkam, das mein einfältiges Grübeln nicht stillen konnte, dann fing ich mir eines meiner jungen Pferde an der Mähne ein, schwang mich auf seinen nackten Rücken und fegte mit ihm dahin über den weiten Plan, da fühlte ich mich als König!«

Er breitet die Arme aus, und jetzt, auf einmal, ist es ein anderes Gesicht, – ein lachendes, übermütiges, freudestrahlendes, – wie sich die Schweden ihren Neck denken, den guten freundlichen Nix, in dem noch etwas vom mythischen Blute des nordischen Frühlingsgottes, Freyers Namensbruder, steckt. »Frau Gräfin – das war Poesie! Wer mir diese Zeit wiedergäbe, diese kindliche Unwissenheit, diese selige Hoffnung, diese Freiheit der Unschuld!«

Und jetzt wieder, wie die Bilder im Kaleidoskop, verwandelt sich sein Ausdruck, und eine düstere Melancholie breitet ihre Schleier über seine Stirn. »Vorbei, – ach, das ist alles vorbei! Meine leichtfüßigen Fohlen sind müde, schwere Tiere geworden, die am Lastwagen ziehen, und ich – ich schleppe nicht minder schwer an der Last des Lebens.«

»Wie können Sie das sagen, in dem Augenblick, wo Sie, selbst ein Wunder, der Menschheit die Wunder Gottes offenbaren? Ist das nicht undankbar?«

»O nein, Frau Gräfin, ich bin dankbar! Aber so trenne ich mich nicht von meiner Rolle, daß ich glücklich sein könnte, während ich das Leiden meines Erlösers darstelle! Glauben Sie, ich habe nur die Worte auswendig gelernt? Oder glauben Sie, ich hätte mich in die Rolle des Erlösers hineindenken können, ohne seinen Schmerz zu meinem eigenen zu machen? Mit seiner Gestalt habe ich auch sein Kreuz auf mich genommen! Seitdem ist all meine Jugend dahin, und durch mein ganzes Leben geht ein schmerzlicher Zug!«

»Aber dann sind Sie ja sein echter Nachfolger, – dann tun Sie ja, was Simon von Kyrene tat! – Und Sie glauben, nicht einmal den kleinsten Teil des Dankes annehmen zu dürfen, den die Menschen dem Gekreuzigten schulden? Sie sollten nur seine Leiden, nicht auch seine Freuden teilen, die Freuden, welche ihm die Liebe und der Glaube der erschütterten und bekehrten Gemüter bereitet? Wahrlich, wenn Sie so engherzig gegen sich selbst denken, dann verstehen Sie weder sich selbst, noch die Liebe Gottes, die Sie vor Millionen auserwählt und begnadigt hat, der Welt die vergessene Heilsbotschaft zu erneuern.«

»Gott, Gott – erhalte mir die Demut – das ist zu viel!«

Freyer springt aus und hält sich die Stirn, als wolle er eine unsichtbare Krone abwehren, die sich darauf niederläßt.

Auch die Gräfin erhebt sich und tritt vor ihn hin: »Sehen Sie, Freyer, den Schmerz, den Sie um Christi willen tragen, den teile ich mit Ihnen! Er ist das Mysterium, in dem unsere Seelen sich gefunden. Der Schmerz ist ewig, Freyer, und was in ihm geboren, das ist das Unvergängliche! Was empfinden wir, wenn wir vor einem gemalten oder marmornen Bilde des Gekreuzigten stehen? Mitleid, schmerzlichstes Mitleid! Ich habe es nie glauben wollen – aber seit gestern weiß ich es, daß es für das gläubige Gemüt eine Wohltat ist, das tote Abbild liebend zu umfangen und die künstlichen Wundmale mit brünstiger Lippe zu berühren. Wie aber muß uns werden, wenn dies Abbild lebt, fühlt und leidet. Wenn es zu uns spricht mit herzbewegender Stimme? Wenn wir es unter den Streichen der Henker zucken und bluten sehen, – wenn ihm der Angstschweiß von der Stirn und die Träne wirklich vom Auge rinnt? – Wie, ich frage Sie, wie soll uns da werden? Denken Sie sich einmal hinein in den, der das sieht, – und dann urteilen Sie, ob das nicht überwältigend ist? Und wenn dem Glauben der steinerne Christus Wunder wirkt – warum soll es nicht um so mehr der lebende? Die fromme Täuschung ist um so viel größer, und der Glaube macht ja selig!«

Und sie faltet ihre Hände auf seiner Brust: »Komm, Gnadenbild, beuge dich herab! Laß mich das geliebte Haupt umfangen und auf die gemarterte Stirn den Sühnekuß der ganzen büßenden Menschheit drücken!« Und sie nimmt seinen Kopf in ihre beiden Hände und haucht einen heißen, zitternden Kuß auf die sanft sich neigende Stirn. »Jetzt gehe hin und klage dich an, du hättest diesen Kuß deinem Herrn gestohlen! Er wird dich lächelnd fragen: ›Weißt du, wen sie geküßt hat, – ob dich oder mich?‹ Und die Antwort wird dir erspart bleiben, denn wenn du den Blick zu ihm erhebst, wirst du den Kuß auf seiner Stirn finden!«

Sie schweigt, überwältigt von der Heiligkeit des Augenblicks. Es gibt Momente, wo unsere eigenen Worte auf uns zurückwirken wie eine fremde Macht, weil etwas aus ihnen gesprochen, was so tief verborgen in uns war, daß wir es selbst nicht kannten. So ist es jetzt der Gräfin. – Freyer steht mit gefalteten Händen still wie in der Kirche.

Es ist, als spräche jetzt noch ein Dritter mit ihnen – ein Unsichtbarer, und sie müßten den Atem anhalten, um ihn verstehen zu können.

Es ist spät geworden. Hoch über dem niederen Fenster schwebt die abnehmende Mondesscheibe und erhellt mit freundlichem Strahl den kleinen Raum. Die Gräfin nickt leise empor: »Es hat sich erfüllt!« – Dann fügt sie ihre Hände in die Freyers: »Zum erstenmal seit meiner Kindheit lege ich meine Seele in eines Menschen Hand! Zum erstenmal seit meiner Kindheit streife ich ab allen Hochmut des denkenden Verstandes, denn eine höhere Erkenntnis schwebt über meinem Haupte und senkt sich auf mich nieder, mit wonnevoller Gewißheit! – Ist's Liebe, ist's Glaube? Sei's das eine oder das andere – in beidem ist Gott! – Und – sagt die Philosophie: ›Ich denke, darum bin ich‹, so spreche ich: ›Ich liebe, darum glaub' ich!‹«

Sie neigt demütig das Haupt: »Und so bitte ich dich! Segne mich, du Gottbegnadeter, mit dem Segen, der über dich ausgegossen und von dir ausströmt!«

Da hebt Freyer das Auge gen Himmel, als wollte er ihn von da oben für sie holen, den Segen, nach dem sie verlangt, und so mächtig ist der aufwärtslodernde Blick, daß ihr fast davor graut wie vor etwas Uebermenschlichem! Dann macht er das Zeichen des Kreuzes über sie: »Im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes!«

Und es durchschauert sie ahnungsvoll, als habe der Finger Gottes sie gezeichnet zu irgend einer geheimnisvollen Bestimmung und als sei sie mit dieser Rune eingereiht in die bleiche Schar der Schmerzgeweihten der Gottheit.

Und sie faßt in süßer Hingebung die Hand, die ihr soeben das düstere Merkmal auf Stirn und Brust gedrückt: »In Gottes Namen, wenn nur du mir nahe bist!« – Ihr Haupt sinkt an seine Brust. – Da klopft es an die Tür, der Gräfin schwindelt, daß sie sich an Freyer halten muß.

Josepha fragt schüchtern, ob Erlaucht kein Licht befehlen?

Licht! War es denn dunkel?

»Es ist gut,« sagt sie wie abwesend.

Josepha bringt das Licht und möchte wissen, wann Erlaucht zu Abend speisen wollen? Freyer nimmt seinen Hut, um zu gehen.

»Ich esse nichts mehr!« sagt die Gräfin kurz und ungeduldig, und Josepha entfernt sich erschrocken.

Die Gräfin schlägt beide Hände vors Gesicht, wie ein vom Himmel Gestürzter.

»Ah – daß es außer uns auf der Welt noch Menschen geben muß!« Sie seufzt tief auf, als müsse sie erst zu Atem kommen nach dem furchtbaren Sturz. Freyer tritt mit dem Hut in der Hand auf sie zu, ruhig und gesammelt. – Was soeben die büßende Seele dem Abbild des Erlösers vertraut, davon weiß Joseph Freyer der Gräfin Wildenau gegenüber nichts. –

»Erlaucht gestatten, daß ich mich empfehle,« sagt er milde, aber fremd.

Die Gräfin versteht die zarte Bescheidenheit in diesem Benehmen: »Lehrten Sie Ihre blauen Genzianen diesen Takt? Es scheint, daß einsame Weideplätze, flüsternde Haselstauden und rauschende Gebirgswasser für den, der ihre geheimnisvolle Sprache versteht, bessere Herzensbildner sind, als manche unserer Hochschulen.«

Freyer schweigt einen Augenblick, dann spricht er zu Boden sehend: »Darf ich fragen, wann Erlaucht morgen abreisen?«

»Hm – soll ich abreisen, Freyer?«

»Frau Gräfin –«

»Hier liegt ein Telegramm, welches mich für morgen zu Hause anmeldet. Freyer, sagen Sie's, soll ich es abschicken?«

»Wie kann ich das sagen –« stammelt Freyer verwirrt.

»Ich will wissen, ob Sie – Sie, Freyer, mich noch da behalten möchten?«

»Aber, mein Gott, Frau Gräfin, – es steht mir doch nicht zu, einen solchen Wunsch zu äußern –? Es wird mich natürlich sehr freuen, wenn Erlaucht hier bleiben, – aber, wie könnte ich Sie zu irgend etwas bestimmen wollen.«

»Phrasen!« sagt die Gräfin enttäuscht und gekränkt. »Also, wenn es Ihnen so gleichgültig ist, ob ich bleibe oder gehe – so schicke ich das Telegramm ab!« Und sie tritt zum Tisch, um noch etwas beizufügen.

Da steht er auf einmal dicht neben ihr, mit bittendem, überströmendem Blick – und legt die Hand auf das Blatt:

»Nein – nicht abschicken!«

»Nicht?« fragt die Gräfin in seliger Spannung: »Nicht abschicken – was denn?«

Er setzt ein paarmal an, als könne er es nicht sagen, – endlich aber ringt sich's doch aus dem verschlossenen Herzen los – und ein unbeschreibliches Lächeln umspielt seine Lippen: »Bleiben!« –

»Ah!« Ein leiser Jubelton aus der Brust der Gräfin, und das Telegramm liegt zerrissen auf dem Tisch. Dann mit zitternder Hand schreibt sie ein anderes, das sie ihn gleich mitzunehmen bittet, einfach des Inhalts: »Bin krank – kann nicht kommen.«

Er steht daneben und sie reicht es ihm zum Lesen.

»Ist das wahr?« fragt er, nachdem er hineingeblickt, mit schüchtern neckendem Vorwurf: »Sind Sie krank?«

»Ja!« sagt sie schmelzend und legt, wie in einem holden Schmerz, die Hand auf ihr Herz: »Ich bin es!« –

Da zieht er ihre beiden Hände zu sich empor und fragt leise mit einem Ton, daß es die Gräfin mit süßen Schauern durchrieselt: »Ja – wie heilen wir denn diese Krankheit?«

Sie fühlt seinen Atem heiß über ihre Locken wehen – sie wagt sich nicht zu regen.

Da, mit gewaltsamem Entschluß reißt er sich los: »Gute Nacht, Frau Gräfin!«

Im nächsten Moment eilt er draußen am Fenster vorbei. –

Ludwig, erstaunt über des Freundes rasches Fortstürmen, kommt herein.

»Frau Gräfin, was ist geschehen?«

»Zeichen und Wunder sind geschehen,« sagt sie und breitet wie verklärt die Arme aus.


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