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Sechstes Kapitel. Am Vorabend des Spiels

Im Schlafzimmer der Gräfin sitzt Josepha und näht an ihrem neuen Anzug. Sie ist ruhig und still, und die Freude am Putz, die das Weib bis zum Tode nicht verläßt – denn die ärmste Bauernfrau, falls sie noch bei Besinnung ist, wenn der Pfarrer mit den Sterbesakramenten kommt, setzt eine bessere Haube auf – macht sich auch bei ihr geltend. Die Gräfin sieht es mit Vergnügen: »Bist du bald fertig, Josepha?«

»Bis in einer Stund', Erlaucht!«

»Gut, bis dahin bin ich zurück, dann wollen wir das Kleid anprobieren, nicht wahr?«

»O Frau Gräfin, es ist eine rechte Sünd', daß ich so ein schönes Gewand anziehen soll, 's sieht mich ja doch niemand!«

»Hier nicht, wenn du es nicht willst, aber morgen abend kommen wir nach München und dort wirst du ein neues Leben beginnen, dort ruht kein Brandmal auf deiner Stirn!«

Josepha küßt die Hand der Gräfin und ein paar große Tränen rollen auf das Kleid nieder, mit dem sie einen neuen Menschen anziehen soll. Dann rüstet sie die Gräfin zum Ausgehen und macht es geschickt und rasch. Die Gräfin sieht sie lange nachdenklich an. »Du gleichst gewiß etwas deinem Verwandten, dem Christus, nicht?«

»Die Leute sagen's!«

»Er verkehrt wohl sehr viel mit Damen?«

»Sie laufen ihm alle nach, vornehm und gering, aber er macht sich nichts draus. Und nicht nur die Fremden, auch die Mädeln im Dorf, die sind ganz rabbiat! Er könnt' jede haben, die er nur wollt', 's ist grad, als ob er's den Frauenzimmern antät'!«

»Ich höre ja, er soll eine Liebe für eine hochgestellte Dame haben und deshalb so zurückgezogen leben?«

»So?« sagt Josepha unbefangen, »dadervon weiß ich nix, ich glaub's auch nicht, freilich mir tät er's nicht anvertrauen, wenn er so was hätt'! Ach, aber man spricht ja so viel über ihn, der Neid ist gar zu groß! Und überhaupt wegen dem zurückgezogenen Leben, da braucht's keine vornehme Dame! Er will mit keinem mehr verkehren hier, seit sie mich nicht mehr beim Spiel mittun lassen und so viel über mich geredet haben! Das, wenn er's auch nicht sagt, das frißt ihm am Herzen. Ach, daran bin ich schuld und niemand anders!«

Die Gräfin küßt wie in einem plötzlichen Impuls das Mädchen auf die Stirn: »Adieu, sei brav, weine nicht, freue dich deines neugeschenkten Lebens; ich komme bald zurück.«

Im Hinausgehen spricht sie noch mit den Großschen Töchtern und empfiehlt Josepha ihrer besonderen Obhut.

»Die Herren sind entzückt und lassen sich Ihnen dankbarst zu Füßen legen,« ruft der zurückkehrende Prinz der Gräfin zu.

»Also sie kommen alle?« spricht sie und nimmt seinen Arm.

»Alle, da war kein Zweifel!« versichert der Prinz. Er bemerkt aber wieder jene unruhige Zerstreutheit von vorhin. Als sie so miteinander die Straße hinabschreiten, sind ihre Augen überall und nirgends.

»Sie sucht wieder!« sagt sich der Prinz.

» Écoutez, je suis amoureuse de ce Jésus-Christ!« ruft ihnen die Herzogin entgegen, als sie sich dem Hause des Schmiedes nahen. Die Herzogin sitzt im Garten, welcher aus einem respektablen Düngerhaufen, einem »Saletl«, wie man hier ein durchsichtiges Gartenhäuschen nennt, und drei Obstbäumen besteht, zwischen denen Seile mit Wäsche gespannt sind. Am Haus ist eine bäurisch gemalte, lebensgroße Muttergottes mit den üblichen Blumenstöcken angebracht, die ein sonderbares Gesicht zu der ihrem Sohne bargebrachten Huldigung macht, wenigstens kommt es der Gräfin so vor!

» Vous l'avez vu, duchesse? Je commence à être jalouse!« sagt die Gräfin mit einem Lachen, das wahr sein soll, aber ein wenig outriert ist.

Die Besucher treten in die Hütte; nach den Begrüßungsfeierlichkeiten erzählt die Herzogin, daß sie mit den Damen in der Zeichnungsschule gewesen und dort sei ihnen der Christus in die Hände gelaufen. Der Direktor der Zeichenschule, der sie herumgeführt (der Sohn des Wirtes der Gräfin), habe ihn den Damen vorgestellt, und er habe wohl oder übel einige Worte mit ihnen reden müssen, dann sei er aber unaufhaltsam entflohen. Die Damen sind »einfach weg!« Dieser Anstand, diese Würde, höflich und doch so zurückhaltend, bescheiden und doch stolz, und diese Augen!

Der Prinz sitzt auf Kohlen.

Drüben hämmert der Schmied und beschlägt einen krummen Schimmel, dem kein Eisen mehr halten will. Das Gesicht des Mannes trieft von rußigem Schweiß, aber wenn er es nach der Seite zukehrt, wo die Damen sitzen, überrascht das klassische Profil und das sanfte träumerische Auge.

»Die schönen Haare und Augen,« unterbricht der Prinz die Herzogin etwas brüsk, »scheinen Spezialität der Ammergauer zu sein. Sehen Sie dort den Schmied, waschen Sie ihm den Ruß ab und wir haben einen prachtvollen Antoniuskopf.«

»Ja, nicht wahr? Es ist auch ein charmanter Mensch,« sagt die Herzogin, »rufen wir ihn einmal her.«

Der Schmied wird herbeigewinkt und mit den Hemdärmeln den Schmutz vom Gesicht wischend, naht er bescheiden. Der Prinz beobachtet mit ehrlicher Bewunderung den Gang und die Haltung des Mannes, das feingeschnittene, durchgeistigte Gesicht, die schlanke, zarte Gestalt, an der nichts die harte Arbeit verrät, als die nervigen Sehnen und Muskeln des Armes.

»Ich muß um Entschuldigung bitten,« sagt er in anständigem Hochdeutsch, denn die Ammergauer sprechen nur unter sich Dialekt; »ich bin eben gerade im Arbeitskittel und kann mich kaum sehen lassen!«

»Sie haben ein reizendes Organ. Singen Sie Baryton?«

»Ja, Euer Hoheit, aber ich komme selten dazu, und die Stimme leidet gar sehr bei meinem Geschäft, auch werden die Finger steif zum Klavierspielen, so daß ich mich nicht begleiten kann.«

»Sie spielen Klavier?«

»Ja gewiß, Hoheit!«

»Mein Gott, wo haben Sie denn das gelernt?«

»Hier im Dorf, Euer Hoheit! Wir Ammergauer lernen fast jeder ein Instrument, wo sollten wir denn sonst ein Orchester für den Passion hernehmen?«

» Je vous en prie!« sagt die Herzogin zur Gräfin, » un forgeur qui joue du piano, des paysans qui forment un orchestre! Sie haben wohl auch einen Kirchenchor?«

»Gewiß, Frau Herzogin!«

»Und was führen Sie denn da für Messen auf?«

»O so ziemlich alles, was es Schönes gibt, teils aus der alten cäcilianischen Kirchenmusik, dann aber auch von den späteren Meistern, von Händel, Bach, bis auf die neueste Zeit. Neulich habe ich das Ave Maria von Gounod in der Kirche gesungen, und diesen Winter wollen wir einen Oelberg von Kempter aufführen.«

» Est-il possible!« sagt die Herzogin, » c'est unique! Da sind Sie eigentlich also allesamt Künstler und sollten gar kein so rauhes Gewerbe treiben!«

»Ja, aber Frau Herzogin, man muß doch leben! Weib und Kind wollen ernährt sein. Und dann können ja auch nicht alle Schnitzer werden, es muß doch auch Schmiede geben. Wenn nur der Mensch nicht rauh ist, das Handwerk schändet nicht.«

»Aber haben Sie denn neben Ihren Geschäften zu solchen künstlerischen Bestrebungen Zeit?«

»O ja, das macht man so am Feierabend, nach dem Nachtessen. Da kommen wir um halb sieben Uhr zusammen und dann wird musiziert oft bis nachts zwölf, ein Uhr.«

»Mein Gott, wie müde müssen Sie da sein, nach des Tages Arbeit und Mühe noch studieren bis in die Nacht hinein.«

»O, das macht nichts, das ist unsere Erholung und unser Glück. Die Kunst ist ja das einzige, was den Menschen über seine Alltagssorgen erhebt! Ich möchte nicht leben, wenn ich das nicht hätte, und so denkt jeder von uns!«

Die Damen sehen sich an.

»Aber mein Gott, wann schlafen Sie denn? Sie müssen doch morgens früh heraus.«

»O, wir Ammergauer sind ein aufgeregtes Volk, wir brauchen wenig Schlaf. Um ein Uhr ins Bett und um fünf Uhr heraus, das ist uns genug!«

»Nun, dann müssen Sie sich aber wenigstens gut nähren, sonst halten Sie's ja nicht aus.«

»O ja, wir nähren uns schon gut, wir essen jeden Sonntag Fleisch,« sagt der Mann mit Befriedigung.

» C'est touchant!« ruft die Herzogin aus. » Einmal in der Woche Fleisch! Und die übrige Zeit?«

»O, da essen wir etwas von Mehl. Meine Frau kocht sehr gut, sie war Köchin bei Graf P.,« fügt er mit großem Stolz hinzu und wirft einen zärtlichen Blick nach der kleinen, runden Gestalt hinüber, die, ein Kind auf dem Arm, unter der Haustür steht. Er hätte sie gar gerne den Fremden gezeigt, diese vortreffliche Ehehälfte, aber die Damen scheinen sich weniger für sie zu interessieren.

»Und was genießen Sie denn abends?«

»O, um sechs Uhr trinken wir Kaffee und dann im Wirtshaus, wenn wir zusammen kommen, noch ein paar Glas Bier!«

»Und so haben es alle Ammergauer?«

»Alle! Da will keiner was anderes!«

»Auch Ihr Christus?«

»O der, der lebt noch schlechter als wir, der ist unverheiratet und hat niemand, der für ihn sorgt.«

» Quelle vie, chère comtesse, quelle vie!«

»Aber Sie haben doch ein Klavier in Ihrem Hause. Wenn Sie so vermögend sind, daß Sie sich ein solches Instrument anschaffen können, dann dürfen Sie sich doch auch besser nähren!« meint die Excellenz.

Der Schmied lächelt: »Wenn wir uns besser nährten, hätten wir eben kein Klavier anschaffen können. Das haben wir uns am Munde abgespart.«

»Das ist der echte Ammergauer,« sagt die Gräfin ernst; »schafft sich ein Klavier an und hungert dafür. Alles ist bei diesen Leuten auf das Geistige und Ideale gerichtet, diesem bringen sie jedes persönliche Opfer. Ich habe noch keine solchen Menschen gesehen!«

»Auch ich nicht, es scheint, daß das Passionsspiel ihnen allen eine ganz besondere Weihe gibt!« sagt die Herzogin.

Die Gräfin steht auf, sie ist so zerstreut, daß sie gehen will, ohne an ihre Einladung zu denken. Aber der Prinz sagt laut und nachdrücklich: »Gräfin, Sie vergessen ja, daß Sie die Damen einladen wollten!«

»Ja so, ach, mein Gott, fast hätte ich es vergessen.« Der Schmied zieht sich bescheiden zurück und geht wieder an seine Arbeit, denn der Gaul will nicht mehr gut tun und bald durchzieht der Duft von verbranntem Horn und Haar die Luft.

Indessen macht die Gräfin ihre Einladung, welche mit großem Enthusiasmus aufgenommen wird. Ein stattlicher, athletischer Mann in einer Bluse geht, eine Kiste auf der Schulter, an den Damen vorbei. Die Last ist furchtbar schwer, denn selbst der mächtige, festgefügte Körper schwankt darunter und das schöne, königliche Haupt des Mannes ist zur Erde gebückt.

»Da sehen Sie, Gräfin, das ist Thomas Rendner, der römische Statthalter! Wir kennen jetzt schon bald das ganze Personal. In dem Saletchen hier sitzt man wie die Spinne im Netz, keine Fliege kann unbemerkt vorbei.«

»Mein Gott, das ist Pilatus!« sagt die Gräfin und blickt ihm mit Teilnahme nach. »Armer Mann, heute keuchend unter einer drückenden Last, morgen mit Diadem und Purpurmantel geschmückt, um am dritten Tage diese aufs neue mit dem staubigen Kittel des Schaffners zu vertauschen und das Joch wieder auf sich zu nehmen. Welche Kontraste, und dabei nicht das Gleichgewicht und den Gleichmut verlieren! Wahrlich, ich finde, man kann hier außerhalb des Passionsspiels so viel lernen, wie in diesem selbst.«

»Ja, wenn man es mit Ihren tiefen, sinnigen Augen betrachtet, meine liebe Gräfin!« sagt die Herzogin und küßt die Gräfin verständnisvoll auf die Stirn. »Wenn wir übermorgen bei Ihnen sind, plaudern wir mehr davon!«

Die Damen trennen sich. Die Gräfin geht schweigend am Arm des Prinzen durch die Menschenmasse, welche sich jetzt am Vorabend des Spiels in den engen Straßen drängt. Es ist ein Gewühl und Getös, daß einem Hören und Sehen vergeht. Die Gräfin beängstigt das wirre Treiben, sie klammert sich fest an den Arm des Prinzen.

»Mein Himmel, hat das Christentum noch solche Anziehungskraft!« murmelt sie unwillkürlich, während sie sich mühsam durchwindet.

Von der Ettaler Straße her erzittert die Erde, ein Donner von Wagen rollt heran. Der letzte Abendzug ist angekommen und nun ergießt sich eine Sturmflut von Menschen und Fuhrwerken über das ohnehin fast erdrückte Dorf. Die Pferde halb zu Tode gehetzt, nur noch in einzelnen jähen Galoppsprüngen die schweren Landauer hinter sich her zerrend, die meist mit sechs, acht Personen überfüllt sind. Schwankende hohe Leiterwagen mit zwanzig, dreißig Menschen, wie sie eben in der Hast, mitzukommen, übereinander hinaufgeklettert und oft halb auf dem Trittbrett und Räderkasten angeklammert hängen geblieben sind: betrunken, aufgeregt von der Hetze der tollen Fahrt und der Angst, zurückzubleiben, – tobend und sich überschreiend, wie eine Schar losgelassener Höllengeister, die kommen, das heilige Spiel zu stören, nicht wie andächtige Pilger, die es sehen wollen, stürmt die erhitzte Meute herein. » Sauve qui peut!« heißt es da, der Prinz rettet die Gräfin auf einen kleinen Mauersockel an der Seite. Dazu rückt noch die Feuerwehr zur Nachtwache für das Theater aus. Denn es heißt, ein paar Nachbargemeinden hätten gedroht, aus Neid auf die Ammergauer das Spiel zu verderben und das Passionstheater anzuzünden. Jetzt fahren Spritzen und Fremdenwagen, alles durcheinander und ineinander hinein. Die Ammergauer selbst, erschreckt und empört ob der grauenhaften Drohung, sind außer Fassung, man hört sie leidenschaftlich erregt diskutieren, heftige Kommandorufe und fieberhaftes Drängen. Denn da gilt es rasch und energisch zu handeln, das Schicksal von ganz Ammergau steht auf dem Spiel.

Jetzt läuten die Glocken, zugleich beginnen die fünfundzwanzig Kanonenschläge, mit denen das morgende Fest eingeweiht wird, und die Musik zieht durch die Straßen.

Die Luft erzittert von dem mächtigen Getöse all der durcheinanderwogenden Schallwellen. Es fängt an zu dunkeln, der Gräfin schwindelt, sie glaubt zu ersticken in dem Tumult. Dort unten sind ein paar Pferde gestürzt, nun gibt es eine Unterbrechung in der Wagenreihe und diese benützt der Prinz, um die Gräfin durchzusteuern. Halb ohnmächtig kommt sie endlich heim! Ihr Inneres ist bis auf den Grund aufgewühlt. Was ist das für eine Macht, die solche Wirkungen übt? Ist das die kleine, stille Lehre, die ihr so doktrinär und verstandeskühl am Büchertisch und von der Kanzel doziert und schon als Kind verleidet worden durch einen unverständlichen Schulkatechismus? Ist das die Lehre, die ihr schon von ihrer Kindheit an nichts weiter war, als ein langweiliger toter Buchstabe, welchem man, weil er nun einmal zur Staatsreligion erhoben, von Zeit zu Zeit einen ebenso offiziellen Gang in die Kirche schuldig ist, wie man auch an bestimmten Tagen den Ministern und hohen Staatsbeamten Karten abwerfen muß?

Vom Dorfe weht der Wind noch immer das Brausen des Völkerschwarms, das Geläute der Glocken und den Donner der Geschütze herüber, einzelne Jubelaccorde der Musik zwischendurch. Sie hat wohl ähnliches erlebt bei großen Siegesnachrichten im vergangenen Krieg, aber das waren Tatsachen! Zum erstenmal in ihrem Leben kommt es ihr, ob denn das Christentum eine Tatsache sei? Und wenn es keine ist, wenn es auch nur eine Idee wäre, welche Kraft wohnt ihr inne, die nach fast zwei Jahrtausenden eine solche Wirkung hervorbringt?

Warum kommen diese Menschen alle und warum kommt sie selbst? Die Menschheit hat Heimweh, sie besinnt sich nicht einmal mehr nach was; es ist nur ein dumpfes Gefühl, aber es zieht sie instinktiv dahin, wo sie eine Spur wittert, eine Spur dessen, was sie verlor und ewig sucht! So, sie weiß es jetzt, so empfindet die ganze Völkerschar, die heute hier zusammenströmt, sie fühlt es, sie ist in diesem Augenblick ein Mikrokosmus der müden, verirrten, ihr Heil suchenden Menschheit.

Und wie wir das Bild eines teuern Verstorbenen, nachdem wir es längst vergessen, wenn uns alles getäuscht und betrogen, hervorsuchen und weinend an die Lippen drücken, so klammert sie sich an das Bild des Erlösers! Jetzt, nachdem alles ihr gelogen, kein System Stich gehalten, das ihr prahlerisch den Sieg über Not und Tod verheißen, nachdem ein Surrogat das andere verdrängt, ohne das Fehlende zu ersetzen, nachdem sich alle die gepriesenen Heilsmittel der Philosophie wie des Materialismus nur als Palliative herausstellten, die momentan das Uebel erträglich machen, aber nicht heilen, jetzt auf einmal sucht die kranke, betrogene Menschheit das Abbild des verlorenen Freundes hervor, den sie so lange vergessen. Aber ein toter Freund kann aus dem Bilde nicht mehr auferstehen und ein gemaltes Herz nicht mehr schlagen. Kann Christus wieder auferstehen in dem Abbild? Kann sein Wort wieder lebendig werden in dem fremden Mund? Und der künstliche Blutstropfe, der von der Stirne des nachgebildeten Messias rinnt, hat er wieder erlösende Kraft?

Das ist das Wunder, das die Völker herbeizieht von nah und fern, das muß es sein, und morgen soll es sich ihr offenbaren!

»Gräfin Madeleine, was träumen Sie?« fragt der Prinz nach einer Weile, während sie unter der wilden Reblaube am Haus, den Kopf in die Hand gestützt, vor sich hin starrt. Sie blickt auf und sieht ihn an, als habe sie seine Gegenwart ganz vergessen gehabt. »Ich weiß nicht, wie mir ist, der Aufruhr da drunten im Dorf hat mich mächtig bewegt! Ich habe das Gefühl, nur gewaltige Dinge können solch einen Sturm vor sich her schicken, und mir ist, als kündige er mir ein großes Ereignis an!«

»Mein Gott, welche Ueberschwenglichkeit, liebe Gräfin! Ich glaube, Sie tragen zu allen Ihren reichen Gottesgaben auch noch die gefährliche Gabe der Dichtung in sich! Ich bewundere und verehre Sie dafür; – aber liebste Gräfin, ich kann in diesem Sturm nichts erblicken, als einen Beweis, daß die Neugier die größte und weitverbreitetste Eigenschaft der menschlichen Natur ist, und daß diese Massen nichts weiter wollen, als ihre Neugier befriedigen! Die Sache ist jetzt einmal en vogue und damit ist alles erklärt!«

»Prinz, ich bedaure Sie für das, was Sie eben sprachen!« sagt die Gräfin und steht auf. Ihr Gesicht hat wieder jenen kalten, abgestorbenen Ausdruck wie am Tage ihrer Ankunft.

»Aber, liebste Freundin, sagen Sie doch um Gottes willen, sind Sie und ich denn aus einem anderen Grunde gekommen als aus Neugier?«

»Sie, nein! Ich, ja!«

» Chère amie, ne dites pas cela. Sie, die femme savante, die uns allen überlegen ist an Gelehrsamkeit, Sie, die Jüngerin Schopenhauers, die stolze Philosophin, die Bekennerin des Nirvâna!«

»Ja ich, Prinz!« ruft die Gräfin, »die Philosophin, die noch keine Stunde glücklich, keinen Augenblick befriedigt war! Was ist denn dies Nirvâna? Ein steinernes Götzenbild, das die unfruchtbare Spekulation unserer Zeit aus dem Wust archäologischer Nachgrabungen hervorgezogen hat, und das uns aus leeren Augen so lange anstiert, bis wir in eine geistige Hypnose verfallen, die wir für Frieden halten!« Ein Zug herber Ironie legt sich um ihren Mund: »Ich bin just hierher gekommen, um einmal Pessimismus und Christentum miteinander zu konfrontieren. Ich denke es mir sehr originell, wenn das steinerne Götzenbild Nirvâna, die Hände im Schoß, mit dem Schweigen des ewigen Todes auf den Lippen, zusieht, wie das schweiß- und bluttriefende Opfer sein Kreuz selbst zur Richtstatt trägt und die Arbeit unverdrossen da wieder aufnimmt, wo Buddha erlahmte: an der Grenze des Nichtseins! Ich will einmal sehen, wie sich die beiden einander gegenüber ausnehmen, und war's nichts weiter, als eine vergleichende Religionsstudie!«

»Liebste Gräfin, Sie sind unwiderstehlich in Ihrem reizenden Spott! Aber ich kann mich logisch nicht als überwunden bekennen!« sagt der Prinz.

Die Gräfin lächelt: »Natürlich, wann täte das je ein Mann einer Frau gegenüber, wo sich's um geistige Dinge handelt?! Eine blonde Locke, eine verführerisch geschweifte Oberlippe, ein paar blaue, in Tränen schimmernde Augen machen euch, Herren der Schöpfung, zum Düpe der gewöhnlichsten Kokette, oder gar zum willenlosen Spielzeug der plattesten Borniertheit, das wissen wir Frauen alle! Aber wenn wir eure trockene Logik angreifen, da seid ihr unüberwindlich wie Antäus, solange er auf der Erde stand! Auch euch könnte nur besiegen, wer die Kraft hätte, euch von dem Boden aufzuheben, auf dem ihr steht.«

»Die Kraft hätten Sie, Gräfin! Aber nicht durch Ihre Argumente, sondern durch Ihre Augen. Sie wissen, daß ein liebender Blick dieser Augen mich nicht nur vom Boden, sondern in den Himmel zu heben vermag, und dann könnten Sie mit mir anfangen, was Sie wollten!«

»Prinz, den liebenden Blick haben Sie sich verscherzt! Er hätte vielleicht Ihre Zustimmung belohnt, nimmer aber würde er sie erkaufen, ich verschmähe bestochene Richter, denn ich bin meiner Sache sicher!«

»Gräfin, verzeihen Sie mir das offene Wort: es ist schade, daß Sie so viel Geist haben.«

»Warum?«

»Weil dieser Geist Sie auf sophistische Abwege führt, Ihrem Hang zum Mysticismus eine scheinbar logische Begründung gibt und Sie dadurch immer mehr in dieser gefährlichen Richtung bestärkt: Ein einfacher, nüchterner Verstand würde Sie davor bewahren

»Nun, Prinz,« – die Gräfin sieht ihn mitleidig, geringschätzig an – »vor diesem Verstand bewahre mich Gott, sowie vor jedem, der den Versuch macht, ihn mir zu ersetzen! Gestatten Sie mir für heute, mich zurückzuziehen, ich möchte noch eine Stunde den braven Leuten hier widmen und meine von dem Erlebten ermüdeten Nerven ausruhen lassen! Gute Nacht, mon prince!«

Der Prinz erbleicht. »Gute Nacht, Gräfin, vielleicht sind Sie morgen bei dem Katz- und Mausspielen etwas humaner, für heute werde ich mit einer blutenden Wunde heimgeschickt.« Er grüßt mit zusammengepreßten Lippen und verläßt den Garten. Die Gräfin sieht ihm nach: »Diesmal ist er bitter. Ich kann ihm nicht helfen, er hat es verdient! O törichter Mann, der sich für so gescheit hält! Glaubst du, daß dies glühende Herz nicht nach anderen Offenbarungen verlangt, als nach denen der reinen Vernunft? Glaubst du, daß die Argumentik aller philosophischen Systeme der Menschheit ihm zu bieten vermag, wonach es dürstet? Ob ich es je finde? Gott mag es wissen! Aber sicher ist, daß ich es bei dir nicht mehr suchen werde.«

Aus der Kammer über dem Zimmer der Gräfin dringen klagende Laute, leises Weinen herab. Das ist Josepha. Die Gräfin geht durch die kleine Falltür zu ihr hinauf. Da liegt die Büßerin vor dem Bett auf den Knieen und hat den Kopf in die Kissen gewühlt, um den Donner der Geschütze und das Geläute der Glocken nicht hören zu müssen, das die Mitwirkenden zusammenruft zum heiligen Spiel, von dem sie allein verbannt ist, die Sünderin, die Verworfene!

Maria Magdalena hatte auch gesündigt und gefehlt, aber sie hatte doch um den Herrn sein dürfen. Sie durfte seinen göttlichen Leib berühren und mit ihren Haaren seine Füße trocknen! Sie aber darf diesen Dienst nicht einmal mehr seinem Abbild erweisen! Und sie greift sich in den Wald von wundervollen seidenweichen Locken, die gelöst über ihre Schultern fallen. Wozu hat sie nun das schöne Haar? Sie möchte es am liebsten abschneiden und in die Ammer werfen, oder, und das wäre das beste, in die Erde vergraben, in die Erde, auf der das Passionstheater steht! Und mit raschem Griff hat sie eine Schere neben dem Bett erfaßt und in dem Augenblick, wo die Gräfin den Fuß über die Schwelle setzt, geht ein schneidendes Geräusch durch die Luft und das schönste rote Haar, das je ein Mädchenhaupt gekrönt, gleitet wie eine erlöschende Feuerflamme an ihr nieder. »Josepha!« ruft die Gräfin, »was tust du? Gott, wie schade um das prachtvolle Haar!«

»Was soll ich noch damit?« schluchzt Josepha. »Es darf ja doch nicht mehr mitspielen! Wenn die Vorstellung vorbei ist, dann schleiche ich mich, ehe wir abreisen, ins Theater und vergrab's unter dem Podium, wo das Kreuz steht, in die Erde, man kann darunter hinein. Dort will ich's lassen, dort soll's ihm bleiben, da ich ihm nicht mehr damit dienen darf!« Sie sinkt der Gräfin in die Arme und verbirgt das tränenüberströmte Gesicht an ihrer Brust: Ach, nicht einmal unter dem Volk darf sie mehr mitspielen, sie allein ist verbannt vom Stamm des Kreuzes, und sie weiß es doch – der wirkliche Heiland würde sie zu seinen Füßen geduldet haben, so gut wie Maria Magdalena.

»Tröste dich, Josepha, dein Gefühl täuscht dich nicht. Der wirkliche Christus würde dich nicht so grausam gestraft haben. Aber die Menschen sind ja immer strenger als Gott. Woher sollten sie auch göttliche Großmut nehmen, sie sind ja so klein! Sie sind wie ein Knecht, der für seinen Herrn hochmütig und geizig ist, weil er seinen Willen nicht versteht, und den Armen von der Tür weist, den der Herr freundlich aufgenommen und erquickt hätte.« Sie küßt das Mädchen auf die Stirn: »Sei ruhig, Josepha, heb deine Haare auf, du sollst sie morgen abend in die Erde senken, die dir so teuer ist. Ich verspreche dir, ich werde an dich denken, wenn die andere Magdalena kommt; dein Schatten soll sich zwischen sie und mich stellen, so daß ich nichts sehe als dich! Kann dir das ein kleiner Trost sein?«

Josepha blickt zum erstenmal der Gräfin lächelnd ins Auge. »Ja, das war ein Trost! O, Sie sind so gut, Sie erbarmen sich meiner, wo mich alles verwirft und verdammt.«

»Mein Gott, Josepha! Wenn man so urteilen wollte, wer von uns wäre dann berechtigt, den ersten Stein auf dich zu werfen?« Die Gräfin spricht es mit tiefem Ernst und verläßt gedankenvoll das Zimmer.


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