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Neunzehntes Kapitel. Am Bett des Kindes

Schon flimmern die Sterne über dem Grieß und einzelne davon stehen wie aufgespießt auf riesigen Standarten, über den Spitzen der himmelhochragenden Fichten und weiterhin auf den scharfen Zinken der Felsenfirste. Unzählige Sternschnuppen gleiten wie liebende Blicke, die sich suchen, lautlos hin und her.

In langen gleichmäßigen Zügen atmet die Nacht. Von fünf zu fünf Minuten rauscht ihr schlummernder Hauch, weit ausholend, über die Wipfel hin.

Gespenstisch leicht und leise huscht ein Viergespann mit kleiner Kalesche auf Gummirädern über das Grieß hin. Die Pferde kennen den Weg, und das edle Blut treibt sie ohne Zuruf und Peitsche weiter, immer steiler den Berg hinein, wo allmählich die schwarzen Mauern des Jagdschlosses aus dem zitternden Sternschimmer auftauchen.

Josepha steht oben am Fenster der kleinen Wohnstube: »Ich glaube, die Frau Gräfin kommt!« Am Tisch sitzt bei der Lampe, über ein Buch gebeugt, der » Verwalter«.

Er hat es offenbar nicht gehört, denn er blickt nicht von seinem Buch auf, und es ist, als ob der düstere Schatten über seinen Augen noch dunkler würde.

»Joseph, die Gräfin kommt!« ruft Josepha laut.

»Du wirst dich wieder täuschen wie immer,« sagt er mit seiner wunderbaren Stimme, die dem einfachsten Wort eine besondere Bedeutung gibt, wie wenn eine große volltönende Glocke um geringen Anlaß geläutet wird.

»Nein, diesmal ist sie's aber wirklich!« beteuert Josepha.

»Ich glaub's nicht!«

Josepha schüttelt den Kopf: »Du mußt sie doch empfangen!«

»Sie kommt ja nicht zu mir, sie kommt ja nur zum Kinde.«

»Dann gehe ich! Ach, mein Gott, was für ein Leben!« seufzt Josepha und tritt auf die grün bemoosten Stufen der steinernen, halbverfallenen Rampe hinaus, wo der Wagen soeben vorfährt.

»Du da, Josepha?« sagt die Gräfin enttäuscht, »wo – wo ist Freyer?«

»Drinn' ist er, Erlaucht, er wollte es nicht glauben, daß Erlaucht wirklich kämen!«

Die Gräfin versteht den bitteren Sinn dieser Worte:

»Ich bin nicht gekommen, um üble Launen zu ertragen!« murmelt sie vor sich hin. »Schläft der Knabe?«

»Ja, wir haben ihn ins Wohnzimmer hereingenommen, er hustet wieder und hatte einen heißen Kopf, da wollte ich ihn lieber in ein wärmeres Zimmer tun.«

»Ist es denn drüben nicht warm?«

»Seit das Rohr herausgefallen, können wir nicht heizen; Freyer hat es eingefügt, aber es raucht beständig. Ich schrieb es Erlaucht ja schon vorigen Monat und fragte, was zu tun sei? Auch Freyer meldete vor vierzehn Tagen, daß der Ofen, bevor die Kälte eintritt, umgebaut und das Kind umlogiert werden müsse, wenn Erlaucht einverstanden wäre, aber – wir bekamen keine Antwort. Nun ist der Kleine krank, – es fing schon an, sehr kalt zu werden!«

Die Gräfin beißt sich auf die Lippen, ja, es ist wahr, das wurde ihr geschrieben – und sie hat es in ihrem Trubel von Gesellschaften und Besuchen vergessen.

Nun ist das Kind krank – durch ihre Schuld! Sie tritt ins Wohnzimmer. Freyer steht, sie erwartend, in halb trotziger, halb unterwürfiger Haltung, – halb Gebieter, halb Diener.

Diese Haltung ist unschön, wie alles, was aus falschen Stellungen hervorgeht. Es mißfällt der Gräfin und gereicht Freyer zum Schaden, wenn sie ihn auch selbst in diese falsche Stellung gebracht hat! Es läßt ihn linkisch und bäuerisch erscheinen.

Wenn wir in ein Kunstwerk mit unvorsichtiger Hand hineingepfuscht haben und erkennen, daß wir es nicht verbesserten, sondern verschlechterten, so machen wir dies nicht uns, sondern dem verpfuschten Werk zum Vorwurf, und das unschuldige Objekt muß es büßen, daß wir uns die Freude daran selbst verdorben haben. Nicht anders ist es mit dem Kunstwerk der Schöpfung – dem Menschen!

Es gibt Naturen, die nichts lassen können, wie es ist, die sich an allem durch bildnerische Versuche einen Schöpferanteil erwerben wollen, und wenn sie sich dann überzeugen, daß es besser gewesen wäre, sie hätten das Werk gelassen, wie es war, dann sehen sie in dem mißlungenen Versuch nicht die eigene Ungeschicklichkeit, sondern nur die Unbildsamkeit des Materials, dann finden sie es der daran gewendeten Mühe nicht wert – und werfen es weg.

Solch eine unbewußt grausame, künstlerisch experimentierende Natur ist die Gräfin und ihr verpfuschtes Objekt – Freyer.

Also seine Haltung gefällt ihr nicht – kann ihr nicht gefallen, und sie läßt einen Blick des Widerwillens über ihn hingleiten, der ihm nicht entgeht. Sie streift an ihm vorüber, auf das Bett ihres Sohnes zu.

Da liegt das »Christuskind«, ein Knabe von sechs bis sieben Jahren, mit seidenen Locken und mächtigen Stirnhöhlen, unter deren Schatten die geschlossenen Augen von dunkel gesäumten Lidern verhüllt sind. Ein vereinzelter Schein der verhangenen Lampe fällt auf die Stirn des kleinen »Raphael« und zeigt die weichen Brauen wie in einem unbewußten Schmerz zusammengezogen.

Das Kind ist nicht glücklich – oder nicht gesund – oder beides. Es atmet schwer im Schlaf und um die fein modellierten Nasenflügel spielt ein leises nervöses Zucken.

»Er hat offenbar abgenommen, seit ich zuletzt hier war!« sagt die Gräfin besorgt.

Freyer bleibt stumm.

»Was meinst du?« fragt die Gräfin.

»Was kann ich meinen? Du hast den Knaben so lange nicht mehr gesehen, daß du besser beurteilen kannst als ich, ob er sich verändert hat!«

»Joseph!« die schöne Frau richtet sich auf und ein Blick diesmal wahren Schmerzes trifft das bleiche verbitterte Gesicht des Gatten. »So oft ich komme, finde ich nichts als Bitterkeit und Nadelstiche, – offene und versteckte Vorwürfe! Das wird mir nachgerade zu viel! Nicht einmal heute, wo ich mein Kind krank finde, schonst du das geängstigte Herz der Mutter. Das ist mehr, als ich ertragen kann, das ist unedel und unritterlich!«

»Verzeih,« erwidert der Gatte leise, »ich kann mir nicht denken, daß eine Mutter, die ihr Kind monatelang vernachlässigt, – so zärtlicher Natur sein sollte, daß sie sich gleich um ein leichtes Unwohlsein oder um eine Abnahme in seinem Aussehen ängstigt! Ich bin ein einfältiger Mensch und kann mir solche Widersprüche nicht erklären!«

»Ja, du hast recht von deinem Standpunkt aus, – ich muß ja in deinen Augen dastehen wie ein Ungeheuer von Herzlosigkeit – tue ich es doch fast in meinen eigenen. Aber gerade weil mich der Vorwurf verdient trifft – – deshalb trifft er mich so schwer, deshalb wäre es groß und edel, ihn mir zu ersparen! O, Freyer, wo hast du deine große göttliche Liebe, die mir einst alles verzieh?«

»Da, wohin du sie verbannt hast, begraben in der Tiefe meines Herzens, wie ich begraben bin zwischen diesen einsamen Bergen, still und vergessen!«

Die Gräfin schaut ihn kopfschüttelnd an: »Joseph, du siehst, daß ich leide. Du mußt es sehen, es wäre mir eine Wohltat, in deiner Liebe auszuruhen, und du bist ungroßmütig genug, das gebeugte Haupt noch tiefer zu demütigen?«

»Ich will dich nicht demütigen. – Aber großmütig kann man doch nur gegen solche sein, die dessen bedürfen. Ich sehe in der stolzen Gräfin Wildenau nur eine Erscheinung, die Großmut üben kann, aber nicht ihrer bedarf.«

»Weil du nicht in die Tiefe meines gequälten, von Unruhen und Selbstanklagen gemarterten Herzens blickst?« Und während sie dies sagt, quellen ihr Tränen aus den Augen und unwillkürlich denkt sie des treuen, geistvollen Freundes daheim, dessen feines überlegenes Verständnis ihr heute jedes Wort ersparte und mit einem Blick die ganze Hilflosigkeit ihrer Lage durchschaute.

Aber freilich, jener ist ein Mann der großen Welt, für den der Tand und Schimmer, mit dem sie umgeben ist, keinen Nimbus mehr hat, und der deshalb weiß, wie arm und elend man trotz der äußeren Herrlichkeit sein kann.

Dieser – der Mann niederer Herkunft, kann sich in der dem Volk eigenen kindischen Auffassung vom Wert materieller Dinge nicht denken, daß man, von Pracht und Fülle umgeben, eine glänzende Rolle spielen und doch unglücklich und schonungsbedürftig sein kann.

Aber wie sie ihn auch entschuldigt, gerade das, womit sie ihn entschuldigt, setzt ihn immer tiefer vor ihr herab! – Es ist bei jedem dieser Konflikte, als erweitere sich die Kluft zwischen ihnen, statt sich zu überbrücken.

Solche Auftritte, die sie immer aufs neue an seine niedere Herkunft erinnern, schaden ihm bei ihr mehr, als sie beide im Augenblicke ahnen. Das sind nicht Aufwallungen des Zornes, die ebenso raschen Reaktionen weichen, – es sind eben gar keine Affekte, – sondern kalte Ueberlegungen von dem Standpunkt der gebildeten Frau aus, welche unheilbare Ernüchterungen zurücklassen.

In dem steten Refrain: »Du verstehst mich eben nicht!« womit die Gräfin derartige Unterredungen abbricht, liegt die ganze Hoffnungslosigkeit ihres beiderseitigen Verhältnisses.

»Es wundert dich, daß ich so selten komme!« spricht sie bitter. »Und doch bist nur du es, der daran schuld ist – ja, der mich zuletzt vom Bette meines Kindes entfernt?«

»Wirklich?« Freyer unterdrückt mühsam seinen steigenden Groll: »Auch das noch!«

»Ja, wie kannst du verlangen, daß ich gern komme, wenn es mir jedesmal so geht?

»Wie oft, wenn ich endlich im stande war, mich von der Gesellschaft mit ihren tausend Rücksichten loszumachen und mit liebedürstender Seele zu dir eilte, hast du mich zurückgestoßen durch deine ewigen Vorwürfe, die du mir eben nur machen kannst, weil du keinen Begriff von meinen Verhältnissen und den Anforderungen der großen Welt hast! So kam es schließlich, – wenn mich's hierher zu Mann und Kind trieb, – daß ich aus Angst vor unerquicklichen Austritten, die mit dein Bild trüben, fern blieb und es vorzog, mir daheim allein jenen Freyer herzuzaubern, wie ich ihn einst geliebt und stets lieben würde, wenn du nicht selbst das edle Bild zerstörtest.

»Mit jenem Freyer kose ich dann in der einsamen Kaminecke, – bei jenem hole ich mir Trost und Frieden, wenn ich diesem Freyer, dem kleinlich-empfindlichen, ewig beleidigten – ausweiche!«

Ein wehmütiges Lächeln verklärt ihre Züge, als sie auf ihn zutritt: »Siehst du, wenn ich an jenen Freyer denke, von dem ich da sprach – an jenen, wie ich ihn meine, – da geht mir das Herz über und die Augen werden mir feucht! Kennst du ihn nicht mehr, jenen Freyer? Kannst du mir nicht sagen, wo ich ihn wiederfinde, wenn ich ihn recht, recht ernstlich suche?«

Da breitet Freyer die Arme aus und deutet auf sein Herz: »Hier, hier kannst du ihn wiederfinden, wenn du willst, – komm, du über alles geliebtes Weib, komm an das Herz, das ja nur krank und empfindlich ist aus Sehnsucht nach dir!«

Und in seligem Vergessen wirft sie sich an seine Brust, ganz untergehend in einer neuen Woge der alten Illusion, ganz versinkend in seiner mächtigen Umarmung.

»O, liebes Weib!« flüstert er ihr ins Ohr, »ich weiß es ja – ich bin grämlich und ungerecht! Aber, Weib, du ahnst nicht, was für eine Hölle es ist, zu der du mich verdammst. Verbannt von dir, fern von der Heimat, meinem Erdreich entrissen und in dem deinen nicht eingewurzelt. Was ist das für ein Leben?

»Mein einfacher Verstand reicht nicht hin, um mir eine Philosophie zu machen, die mich über das Rätsel wegbrächte: ›Warum das alles?‹ Ich bin verheiratet und doch nicht verheiratet, ich bin dein Gatte, aber du bist nicht mein Weib. – Ich habe nichts verbrochen und bin doch ein Gefangener, ich bin nicht ehrlos – und doch ein Geächteter, der sich verbergen muß, um sein Weib nicht in Schande zu bringen!

»So gehen die Jahre hin und das Leben! Und dann kommst du manchmal, aber – ich möchte fast sagen, nur um mich wieder einmal kosten zu lasten, wie süß der Himmel ist, aus dem ich verbannt bin!

»O, das ist grausamer als alle Höllenpein, denn die Verdammten werden nicht von Zeit zu Zeit in den Himmel geführt, um wieder hinabgestoßen zu werden und tausendfach zu leiden. So grausam ist selbst der furchtbar strafende Gott nicht!«

Die Gräfin läßt, von der schweren Anklage niedergedrückt, die Stirn an ihres Gatten Brust ruhen.

»Sieh, mein Weib,« fährt er in mildem, gedämpftem Ton fort, und der Zauber dieses Tons erfüllt ihr Ohr und Herz mit jenem elegischen Behagen, womit wir selbst an der Leiche unserer Liebsten einem schönen Trauergesang lauschen. »In deinen Kreisen da mögen die Menschen wohl die Selbstbeherrschung haben, einen großen Schmerz zu unterdrücken. Ich weiß es ja, daß ich dich durch die beständigen Klagen nur langweilen und verstimmen kann und daß du mich schließlich lieber ganz meidest, als dich dem aussetzen!

»Ich weiß es, – aber ich kann nicht anders! Ich bin nicht zur Verstellung – Selbstbeherrschung, wie ihr's nennt – erzogen, – ich kann nicht lachen, wenn mir das Herz blutet, nicht süße Worte machen, wenn mir die Seele voll Bitterkeit ist! – Ich verstehe nicht, was für ein Zwang dich, die freie, reiche Frau, abhalten soll, zu dem Manne zu kommen, den du liebst, und ich kann es nicht glauben, daß du nicht kommen könntest, wenn es dich hertriebe, deshalb verzweifle ich oft an deiner Liebe!

»Was sollst du auch an mir lieben? Ich habe dich ja gleich gewarnt! Ich kann nicht immer mit Dornenkrone und Binsenzepter als Ecce-Homo herumgehen und du siehst nun, daß du dich in mir getäuscht, daß ich ein armer, gewöhnlicher Mensch bin, dir nicht ebenbürtig an Bildung noch an Geist! Und solange ich nicht ein wirkliches Ecce-Homo werde – und das könnte vielleicht geschehen – so lange bin ich dir nicht, was du brauchst! Aber wie arm und klein ich auch bin, – ehrlos bin ich nicht, – und wenn ich denke, daß du nur aus Mitleid dann und wann kommst, um dem Bettler die Brosamen zu bringen, die deine großen Herren mir übrig gelassen haben, – dann, ja – ich sag's dir offen, dann empört sich mein Stolz und ich möchte lieber darben als Almosen annehmen!«

»Und deshalb stoßest du das liebende Weib von dir, wenn es sich mit voller Seele aus dem glänzenden Kreis fortstiehlt, um zu dir zu eilen, bist kalt und streng und verschmähst, was die anderen vergeblich begehren! – Denn wie weit du auch von mir entfernt bist, es ist keine Stunde in meinem Leben gewesen, wo du mich nicht hättest sehen dürfen – und wie frei und unabhängig von dir ich auch dastehe, es ist keine Faser in meinem Herzen, die nicht an dir hängt! O, daß du ihn verständest, jenen tiefinnersten, heiligen Zusammenhang, der auch die freieste Seele dem Gatten, dem Vater ihres Kindes sichert! Ja, wenn ich Flügel hätte, über alle Meere und Länder zu fliegen, – es zöge mich doch immer zu dir zurück, und ich kehrte dir wieder, so sicher, wie der ›Vogel am seidenen Faden‹! – Mich kann niemand von dir trennen als du selbst. Daß du mir nicht ebenbürtig an Bildung, wie du sagst, trennt uns nicht, wärest du mir aber nicht ebenbürtig an Charakter, das würde uns trennen, denn nur die Größe zieht mich an, – dich klein zu finden, wäre der Tod unserer Liebe! Selbst das Kind wäre dann kein Band mehr zwischen uns, denn für geistige Naturen wie ich sind die Bande des Blutes nur tierische Instinkte, wenn sie nicht von einer höheren Idee getragen und verklärt sind. – Das ist die größte Gefahr unserer Liebe, daß deine kleinbürgerlichen Anschauungen dich verhindern, den Standpunkt zu gewinnen, von dem aus ein Weib wie ich beurteilt werden muß. Ich habe große Fehler, diese brauchen große Nachsicht, – und eine Ueberlegenheit, die nicht davor zurückschreckt! Beides, mein Freund, fehlt dir leider! Ich habe eine große Liebe für dich – du aber missest sie mit dem engen Maßstab deiner hausbackenen Moral, und vor diesem verschwindet sie, weil ihre Dimensionen weit darüber hinausragen! – Wo, wo, mein Freund, ist nun da die Größe, die Freiheit der Seele, die ich brauche?«

»O mein Gott, du sprichst nur zu wahr,« sagt Freyer und macht sich von ihr los. »Jedes Wort ist ein Todesurteil. Du verlangst eine Größe, die ich nicht habe und nie erlangen werde! In kleinen Begriffen bin ich aufgewachsen, ich habe nie etwas anderes gesehen, als daß Mann und Weib zusammengehören, daß Vater und Mutter miteinander ihre Kinder erziehen, pflegen und warten, daß die Liebe in dieser engen, innigen Gemeinschaft ihr höchstes Ziel erreicht. In dieser Vorstellung einer bescheidenen Häuslichkeit verkörperte sich mir alles Erdenglück, wie es Gott den christlichen Eheleuten bestimmt. Von einer Liebe, die nur so neben herläuft, neben allen andern Interessen des Lebens, und wo sie mit diesen in Konflikt kommt, aus dem Wege muß und warten, bis sie sich wieder hervortrauen darf, – von so einer Liebe hatte ich keine Vorstellung, – wenigstens nicht in der Ehe! Ja, in einer Liebschaft, da weiß man es, daß man die Liebe so heimlich als etwas, was nicht dazu gehört, mit sich herumträgt. Aber das ist ein unhaltbarer qualvoller Zustand, dem man so bald als möglich durch eine Heirat ein Ende zu machen sucht. Daß aber in der Ehe ein solcher Zustand möglich sei, – das wäre mir nie in den Sinn gekommen, und du kannst sagen, was du willst, eine – Ehe wie die unsere ist nicht viel besser als eine Liebschaft!«

Die Gräfin zuckt zusammen – das sind ihre eigenen Gedanken von heute.

»Und ich« – fährt Freyer unerbittlich fort – »bin nicht viel besser als ein Liebhaber! Wenn es dir gefällt, mir treu zu sein, so danke ich es dir, aber verlange nicht ›die Größe‹, wie du es nennst, daß ich daran glaube. Denn wer es sich wie du mit seinen ehelichen Pflichten so bequem macht, – wer sich wie du an kein Gesetz, ›das nur für arme bürgerliche Leute geschaffen sei‹, gebunden fühlt, der hält auch die Treue nur – solange es ihm beliebt.«

Die Gräfin starrt vor sich hin und sucht vergeblich nach einer Antwort.

»Das mag von eurem hohen Standpunkt recht beschränkt, recht lächerlich gesprochen sein. Du siehst, ich bleibe immer kleinbürgerlich – und unbildsam. Es ist ein Unglück für dich, daß du an mich kommen mußtest! – Warum bist du nicht in deinen vornehmen Kreisen geblieben, – deine hohen Herren hätten dich besser verstanden, als ich armer einfältiger Mensch. Das sage ich mir täglich und es ist der Wurm, der an meinem Leben nagt! Da hast du nun die ›Größe‹, die du verlangst, die einzige, die ich dir bieten kann, – die Größe der Erkenntnis unseres Elends!«

Die Gräfin nickt hoffnungslos mit dem Kopf: »Ja, es steht schlimm um uns. Ich verzweifle immer mehr an der Herstellung eines Friedens zwischen uns – denn dieser wäre nur dann möglich, wenn es mir gelänge, dir ein Verständnis für die Notwendigkeit und Unabwendbarkeit der gegenwärtigen, allerdings unnatürlichen Form unserer Ehe beizubringen. Doch du kannst und willst es nicht einsehen, daß ein Weib wie ich nicht in Armut leben kann, daß mir der Reichtum, der mich gleichwohl nicht beglückt, – unentbehrlich ist, nicht um des Geldes willen, sondern weil mit ihm Ehre, Macht und Ansehen verloren wären, du weißt es ja, wenn unsere Ehe bekannt würde, – und weil ich eher sterben, als auf jene verzichten kann. Ich bin zu hochgeboren, um mich in eine niedere Stellung zu finden. Verlangst du vom Adler, daß er sich in das Nest eines Hänflings herniedersenke und darin niste? Er würde darin sterben, denn er kann nur atmen in den Regionen, für die er geschaffen.«

»Dann hätte aber der Adler sich nie zum Hänfling herablassen sollen!« sagt Freyer dumpf.

»Ich habe geglaubt, ich fände in dir einen Gefährten – schwunghaft genug, um mir auf meine Höhen folgen zu können. Denn deines Genius Flügel rauschten mächtig über mir, als du da oben am Kreuze hingst. O Mann, wer wie du in Kreuzeshöhe geschwebt, kann der zur philiströsen Engherzigkeit der Begriffe niederer Stände herabsinken und den schäumenden Trank der Liebe von sich stoßen, weil er ihm nicht in der gewohnten hölzernen Schale alltäglicher Pflichterfüllung geboten wird? Es ist unglaublich, aber es ist so. Und zuletzt drohst du noch, ich machte ein Ecce-Homo aus dir! – Wenn du es würdest, wäre es nicht meine Schuld, sondern weil du auch im Leben nicht aufhören kannst, den Christus zu spielen!«

Die Gräfin hat mit schneidender Schärfe und Bitterkeit gesprochen, es ist, als müsse ihr das Messer, das sie gegen den Geliebten kehrte, das eigene Herz zerschneiden.

Freyer atmet schwer und kein Laut verrät den Schmerz der empfangenen Wunde. Aber als ob das Kind es im Schlaf empfände, daß die Mutter mit tödlicher Klinge den Lebensfaden zwischen dem Vater und sich zerschneiden will, zuckt es schmerzlich auf und fährt mit dem Händchen in die Luft, als wolle es das geheimnisvolle Band schützen, dessen Fasern auch durch sein Herz laufen.

»Siehst du, das Kind empfindet unser Zerwürfnis und leidet darunter!« sagt Freyer und das namenlose Weh, das in diesem Wort liegt, bricht alle Härte, allen Trotz, und die Mutter sinkt mit überquellenden Augen an dem Bette des kranken Kindes nieder, – das unter ihrem und des Vaters Zwist hinsiecht, wie die zarte Blüte unter dem Kampf der Elemente. »Mein Kind!« sagt sie mit erstickter Stimme, »wie mager sind deine Händchen geworden? Was ist denn das?«

Und sie drückt die kleinen, durchsichtigen Hände des Knaben an die Lippen, und als sie wieder aufblickt, da schauen sie zwei übermächtige, dunkle – fast erschreckende Augen aus dem bleichen Kindergesicht an. Ja, das sind die Augen des kleinen Welterlösers, der Sixtinischen Madonna, in denen sich die Ahnung des Elends einer ganzen Welt spiegelt. Es ist der Ausdruck Freyers, aber noch vergeistigter, und wie auf einer dunkeln Flut einzelne Sonnenreflexe spielen, so ist es, als wären von den phosphorisch schillernden Augen seiner Mutter grüngoldene Lichter auf die seinen übergesprungen.

Welch ein Kind! Die zarte Schönheit der Mutter, gepaart mit dem tiefen Ernst des Vaters, übergossen von Raphaelischer Schönheit und Verklärung. Und den Vater dieses Kindes konnte sie verletzen mit hartem Wort? Die wunderbare Seele Freyers, die aus den Augen des Kindes sie anschaut mit stummer Klage, – die konnte sie schmähen, weil das Weh des Erlösers ihr untilgbare Spuren eingeprägt, schmähen, am Bette dieses Knaben, dieses Pfandes einer Liebe, deren übernatürlicher Drang sich den Menschen zum Gott gemacht, um einen Augenblick in göttlicher Umarmung zu ruhen? Der Knabe sagt leise, wie im wachen Traum: »Mutter!« aber sie empfindet es selig, daß er nicht Josepha, sondern sie meint. Dann schließt er die Augen wieder und schlummert weiter.

Und am Bett des Sohnes knieend, streckt sie die Hand nach dem Vater aus und es ist, als falle wieder ein zitternder Strahl jenes Augenblicks in ihre Seele, da er einst lichtumflossen, in seiner ganzen Macht und Schöne ihr genaht!

»Und wir sollten uns nicht lieben?« sagt sie, und ein paar heiße Tränen rinnen über ihre Wangen. Da zieht Freyer sie vom Bett des Kindes auf und nimmt sie mit einem überschwenglichen Ausdruck auf seinen Schoß. »Täuble!« Mehr kann er nicht sagen, auch ihm erstickt die Stimme in Schmerz und Liebe.

Sie schlingt ihre Arme um seinen Hals, wie einst, wenn sie ihm mit solch unwiderstehlicher Büßeranmut ihre Bekenntnisse machte, daß er ihr jede Todsünde verziehen hätte. – »Joseph, verzeih mir,« spricht sie leise, um den Knaben nicht zu wecken, der das Köpfchen, wie die Blume nach der Sonne, auch im Schlummer den Eltern zugewendet hat. »Ich bin ein armes, schwaches Weib; ich leide selbst grenzenlos unter der Trennung von dir und dem Kinde, wenn du wüßtest, wie mir oft zu Mute ist – einen Stein müßt' es erbarmen! Es ist ein elender Zustand – nichts ist mein, du nicht und mein Sohn nicht und mein Vermögen nicht, – wenn ich nicht das eine um das andere opfere, und das gewinne ich nicht über mich! Ach, hab Mitleid mit meiner Schwäche! – Es ist die Art der Frauen, lieber den unerträglichsten Zustand zu ertragen, als einen gewaltsamen Entschluß zu fassen, der ihn ändern könnte! – Ich weiß es ja, es wäre das allein Richtige, wenn ich den Mut fände, der Welt zu entsagen und zu erklären: ›Ich bin verheiratet, ich verzichte, wie es das Testament meines Gatten vorschreibt, auf das Wildenausche Vermögen, ich trete als Bettlerin vom Schauplatz ab, – ich will darben und arbeiten ums tägliche Brot‹. – Siehst du, ich denke es oft, wie schön und groß das wäre, und daß man vielleicht auch so glücklich sein könnte, – glücklicher als jetzt – wenn es nur getan wäre! Aber, wenn ich den Gedanken ernstlich ins Auge fassen will, dann fühl' ich, daß ich's nicht kann!«

»Und hast mir damals in Ammergau weisgemacht, es sei nur um deines Vaters willen,« wirft Freyer ein, »daß du die Ehe nicht erklären dürfest? Dein Vater ist jetzt aber ein gelähmter, halb blödsinniger Mann, der über kurz oder lang das Zeitliche segnet, dann fällt dieser Vorwand weg.«

»Ja, als wir uns verheirateten, war er es, der mich abhielt; damals wollte ich es tun und damals wäre es noch ein leichtes gewesen. Wenn ich es aber jetzt tue, nachdem ich acht Jahre lang heimlich verheiratet bin und das Vermögen widerrechtlich behielt, stemple ich mich zur Betrügerin. Führe mich auf den Kofel und heiß' mich die tausend Fuß hinunter springen – ich kann's nicht, und wenn ich mir die ewige Seligkeit damit erkaufte! – Stürze mich hinunter – meinetwegen, – aber verlange nicht, daß ich freiwillig den Sprung tue, denn das ist unmöglich. Wenn mir Gott nicht einen Engel schickt, der mich auf seinen Schwingen hinüberträgt, so ist alles vergebens!«

Sie drückt die vor Angst glühende Wange an die seine. »Hab Mitleid mit meiner Schwäche, verzeih mir! Ach, ich weiß es, ich spreche immer von Größe – und doch besteht sie bei mir nur in der Phantasie. Das, was wirklich groß wäre, dazu bin ich zu klein.

»Da siehst du mich nun, wie mich Gott sieht! Er wird mich richten – das Vorrecht der Gattenliebe aber ist es, zu verzeihen! Willst du von diesem süßen Recht nicht Gebrauch machen? Vielleicht zeigt mir Gott einen Ausweg. Vielleicht gelingt es mir, ein Abkommen mit den Verwandten zu treffen, oder den Beistand des Königs zu gewinnen, aber zu dem allen muß ich in der Welt leben – erst recht, um mir Einfluß und Terrain für meine Pläne zu sichern! – Willst du Geduld und Nachsicht mit mir haben, bis es einmal anders wird?«

»Das wird es nie werden, so wenig, wie es in diesen acht Jahren anders wurde! – Aber ich will mit dir aushalten, armes Weib, ich will trotz allem an deine Liebe glauben, ich will versuchen, meine unzufriedene Stimmung zu unterdrücken, wenn du kommst, und dankbar hinnehmen, was du mir gewährst, ohne zu rechten und zu mäkeln. – Ich trage es, so lange es geht. Vielleicht – es reibt mich auf und dann wäre uns beiden geholfen! Ich hätte mich dir längst aus dem Wege geräumt – aber das wäre eine Sünde und dir damit nichts genützt. Denn du hast doch ein zu gutes Herz, als daß es dir nicht weh täte, und der blutige Schatten des Selbstmörders würde dich der neuen Freiheit nicht mehr froh werden lassen.«

»O mein Gott, was redest du da! Mein armer Mann, so steht es mit dir?« ruft die Gräfin, erschüttert von der Tragik dieser ruhig gesprochenen Worte. Ihr schaudert vor dem Blick, den sie in die dunkle Tiefe dieser unergründlichen Seele getan, und was ihm nach ihrer Meinung an Größe der Anschauung fehlt, das ersetzt jetzt die Größe seines Schmerzes und in diesem Augenblick interessiert er sie wieder! Jetzt wirft sie sich an seine Brust und überschüttet ihn mit Liebkosungen. Sie will ihn trösten, will ihn die Bitterkeit vergessen machen durch den Zaubertrank ihrer Liebe. Sie weiß es selbst nicht, daß sie auch jetzt – hingerissen von einer wahren Empfindung des Mitleids – nur dem dämonischen Reiz folgt, die Macht ihrer Koketterie, die sie an dem Menschen längst zur Genüge erprobt, nun an seinem Schmerz zu erproben. Aber was ihr bei dem Kulturmenschen unbedingt gelungen wäre, – das mißlingt ihr bei dem Naturmenschen. Denn er fühlt es instinktiv, daß jenes süße Aufgebot der Zärtlichkeit nicht ihm, sondern dem Kampf gegen ein ihr feindliches Element gilt, das sie bestechen oder besiegen will. Die Trauer bleibt unverändert in ihm, denn sie ist zu tief begründet, als daß der Liebesrausch eines Augenblicks sie zerstreuen könnte. Aber der arme, nach dem heißgeliebten Weib verschmachtende Mann nimmt den vergifteten Trank an, den sie ihm bietet, wie der Verdurstende in der Wüste seine brennende Lippe an die Fieberquelle legt, von der er weiß, daß er sich den Tod aus ihr trinkt.


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