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Achtes Kapitel. Freyer

Das Spiel ist aus. »Christ ist erstanden!« Er hat sein Grab gesprengt und die Wächter in den Staub geworfen mit seinem Flammenbild. Als schlichter Gärtner ist er der Büßerin erschienen, »in der Morgenfrühe«, wie er's versprochen, und endlich verklärt worden, und erhöhet über alle Welt, die Siegesfahne in der Hand! – Die Menschenwoge ergießt sich aus dem schwülen Raum ins Freie. Aber nicht laut und brausend, wie sie gekommen – nein, würdevoll und ernst, wie sich ein Trauergeleit, nach der Leichenfeier eines edlen Toten, auflöst – geräuschlos, wie sich die ebbende See nach der Sturmflut zurückzieht! – Es sind dieselben Menschen noch, und dennoch gehen sie anders, als sie kamen. –

Es sind dieselben Wagenzüge, die gestern die Fremden so lärmend brachten, aber kein Peitschengeknall und kein Gejohl ist zu hören – die Kutscher wissen genau, daß sie sich jetzt verhalten müssen, als hätten sie Verwundete im Wagen.

Und es ist auch wahr. Da ist kaum einer, dem der Speer, der den Heiland durchbohrte, nicht durch das eigene Herz gedrungen, der nicht die Wundmale des Gekreuzigten in seinen eigenen Händen und Füßen spürte! Es ist ein großer göttlicher Schmerz, den die Menschen mit von dannen nehmen, und sie hüten ihn sorgsam, sie wollen nichts davon verlieren, denn – wir lieben den Schmerz, den wir um ein geliebtes Wesen empfinden – und heute haben sie Christus lieben gelernt!

So ziehen sie heim.

Die letzten Wagen, die vor dem Eingang halten, sind die der Gräfin und ihrer Freunde. Unten warten schon die Herren des diplomatischen Corps auf die Gräfin, um sich in die Landauer zu verteilen. Diese aber lehnt noch oben am Pfeiler der Loge. Sie hat das Tuch vor den Augen und sucht vergebens der Tränen Herr zu werden. Ihr Herz pocht, daß man es sieht, ihr Atem ist kurz und rasch – sie kann sich nicht beherrschen.

Der Prinz steht vor ihr, bleich und still, seine Augen sind gerötet, auch er hat geweint.

»Versuchen Sie es, sich zu fassen!« spricht er fest; »dort in der Loge sind noch die Damen, die Herzogin scheint zu erwarten, daß Sie hinüberkommen. Eine Frau von Welt, wie Sie, darf sich nicht so gehen lassen!«

»Sich gehen lassen, nennen Sie das?« wiederholt die Gräfin, die nicht sieht, daß der Prinz selbst erschüttert ist. »Wir verstehen uns ja nie!«

In diesem Augenblick verlassen aber die Damen die Loge und kommen herüber. Sie sind jetzt die Letzten im Zuschauerraum. Die Herzogin fällt der Gräfin keines Wortes mächtig um den Hals. Aber auch die Hofdamen nahen sich unter Tränen und möchten die Gräfin umarmen, und als die Herzogin sie endlich losläßt, flüstert ihr die Baronin ins Ohr: »Vergeben Sie mir, ich habe auch Ihnen, wie so manchem unrecht getan – erst gestern noch, verzeihen Sie es mir!« Und dieselbe Bitte spricht sich in dem Blick und dem Händedruck der Excellenz aus: »Wer das gesehen, der bereut jedes lieblose Wort, das er irgendwie gesprochen. Wir wollen nie vergessen, daß wir das zusammen erlebt haben!«

»Ich danke Ihnen, ich würde Ihnen nichts nachgetragen haben, auch wenn ich das gewußt hätte, was Sie mir jetzt aus eigenem Antrieb eingestehen!« sagt die Gräfin und küßt die Damen mit heißen trockenen Lippen.

»Gehen wir?« fragt die Herzogin, »wir werden sonst noch mit eingeschlossen!«

»Ich komme sogleich nach, – ich bitte – gehen Eure Hoheit nur voraus – ich möchte mich noch einen Augenblick erholen!« stammelt die Gräfin verwirrt.

»Sie sind furchtbar angegriffen – es ist ja natürlich – wir sind es alle. Ich erwarte Sie unten und nehme Sie zu mir in meinen Wagen, wenn es Ihnen recht ist. Wir können uns dann zusammen ausweinen!«

»Sehr gnädig – Hoheit!« sagt die Gräfin fast bewußtlos.

Als die Damen die Treppe hinabsteigen, faßt sie leidenschaftlich den Arm des Prinzen. »Um Gottes willen, helfen Sie mir, daß ich nicht mit diesen muß! Ich will – ich kann nicht fort – ich bitte Sie bei allem was heilig, lassen Sie mich hier –!«

»Also richtig! Es kommt, wie ich gefürchtet,« sagt der Prinz mit einem schweren Atemzug. »Ich kann Sie nur noch bitten, um Ihrer selbst willen, nehmen Sie Rücksicht auf die Damen. Sie haben sie auf übermorgen zum Diner geladen –!«

»Das weiß ich – entschuldigen Sie mich – sagen Sie, was Sie wollen – Sie werden schon wissen – wie Sie das machen! – Wenn Sie mich je geliebt haben – so helfen Sie mir! – Fahren Sie mit den Damen – unterhalten Sie sie, daß sie mich nicht vermissen!«

»Und die großartige Ovation, die Ihnen die Herren daheim vorbereitet haben?«

»Was liegt daran!« –

»Ein Feentempel erwartet Sie zu Hause, und Sie bleiben hier? Schade um die schönen Blumen, die nun umsonst verwelken!«

»Ich kann's nicht ändern. Um Gottes willen, handeln Sie rasch – man kommt schon!« Sie zittert an allen Gliedern vor Angst, – es ist aber niemand von der Gesellschaft, der sie zu holen kommt, – ein kleiner Mann mit scharfgeschnittenem Profil steht neben ihr und ein kluges treues Auge blickt sie an: »Ich sah, daß Erlaucht noch hier sind, kann ich Ihnen vielleicht in irgend etwas behilflich sein?«

»Gott sei Dank, Ludwig Groß!« jubelt die Gräfin und nimmt seinen Arm: »Können Sie mich ungesehen nach Ihrem Hause bringen?«

»Gewiß, ich führe Sie über die Bühne, wenn Sie wollen!«

»O, dann nur rasch! Leben Sie wohl, Prinz – seien Sie groß und verzeihen Sie mir!«

Sie ist verschwunden.

Der Prinz ist zu sehr Weltmann, um auch nur einen Augenblick zu verraten, was in ihm vorgeht. Der kurze Weg über die Treppe hinunter genügt ihm, um mit sich fertig zu werden. Das Unglück ist geschehen und nicht mehr abzuwenden – aber das trifft nur ihn allein und geht niemand etwas an. Ihr Name und ihre Stellung müssen gewahrt werden.

»Sie kommen ohne die Gräfin?« ruft ihm die Herzogin entgegen.

»Ich muß die Gräfin entschuldigen, Hoheit. Die Vorstellung hat sie so angegriffen, daß sie nicht im stande ist, heute abzureisen. Ich habe sie soeben der Obhut ihres Hausherrn übergeben und ihr versprochen, sie bei den Damen nicht nur zu entschuldigen, sondern auch den Versuch zu wagen, sie zu ersetzen.«

»O die arme Gräfin!« sagt gutmütig die Herzogin. »Sollen wir nicht nach ihr sehen?«

»Hoheit, ich erlaube mir, darauf aufmerksam zu machen, daß wir keine Minute mehr zu verlieren haben, wenn wir den Zug noch erreichen wollen!«

»Ums Himmels willen! Nein, da müssen wir eilen!«

»Ja, ich glaube auch, Ruhe wird der Gräfin jetzt am besten sein!« sagt der Prinz und hilft den Damen in den Wagen.

»Nun, wir sehen sie ja Dienstag beim Diner, nicht wahr, sie wird doch morgen reisen können?«

»O, ich hoffe es sehr!« versichert der Prinz.

»Aber, Prinz Emil! Was wird denn nun aus unseren Blumen?« fragen die Herren bestürzt.

»O, die halten sich schon bis morgen!«

»Sie ahnt wohl nichts?«

»Natürlich nicht und es ist auch besser, denn wenn sie es wüßte – sie wäre gewiß trotz ihres Unwohlseins heute noch gefahren und hätte sich kränker gemacht!«

Die Herren sehen das ein, aber »es ist doch recht schade! Wenn die Blumen nur frisch bleiben!«

»Sie wird noch manche Blume welken lassen, in dieser Zeit, um die es schade ist!« denkt der Prinz bitter.

»Fahren Sie mit uns, Prinz?« fragt die Herzogin.

»Wenn Hoheit gestatten! – Gehen die Herren heute abend noch wie verabredet aufs Kasino?« ruft er beim Einsteigen.

»Ich nicht,« sagt Fürst Hohenheim, »ich gestehe ehrlich, ich bin nicht in der Stimmung!«

»Ich auch nicht,« sagt St. Genois, »das Ding hat mich so angegriffen –! Jetzt dürfte der schönste Zirkus hier sein, ich möchte nicht hinein! Der Bürgermeister von Ammergau hat doch recht, daß er nichts der Art duldet!«

»Ja, ich bitte den Leuten alles ab, was ich gestern sprach; ich bin hineingegangen, um zu lachen, und ich habe geweint!« sagt Wengenrode.

»Mir hat's auch den ganzen Humor verdorben!« bestätigt Cossigny. »Also für heute ist's nichts mehr!«

Die Herren grüßen die Damen und den Prinzen und steigen still in ihre Wagen. Der Prinz gibt dem Kutscher der Gräfin den Befehl, mit der Kammerjungfer, die sich schüchtern in die Ecke drückt, zurückzufahren, und setzt sich zu der Herzogin und ihren Damen.

So rollen die Wagen nach verschiedenen Richtungen auseinander – der eine zurück zum Großschen Hause, die anderen nach München, wo jetzt die Gärtner beschäftigt sind, das Palais Wildenau zum Empfang der glücklichen Besitzerin, die nicht kommt, zu schmücken.

Ludwig Groß führt die Gräfin über die nun verödete Bühne. Es ergreift sie wunderbar, jetzt diesen Boden zu betreten. Sie wagt kaum um sich zu blicken, aus ehrfurchtsvoller Scheu. Um sie her dehnt sich der ungeheure, dämmernde Raum. Plötzlich zuckt sie zurück wie vor einem unerwarteten Schrecknis – das Kreuz liegt vor ihr auf dem Boden! Ludwig Groß, dem feinen Beobachter, entgeht ihre Bewegung nicht und er versteht sie wohl, dergleichen Dinge sind ja den Ammergauern nicht neu. Er sagt: »Ich will einmal nachsehen, ob das Haus des Pilatus noch offen ist, vielleicht interessiert es Sie, auf den Balkon zu treten.« Und er geht weg, um sie allein zu lassen.

Die Gräfin ahnt die Rücksicht des zartfühlenden Mannes. Sie kniet nieder in der dunkeln Kulisse und wirft sich über das Kreuz hin. Sie drückt ihre heißen Lippen auf das harte Holz, das den edeln Leib getragen – auf die Wundmale, die auch ihm die Nägel geschlagen, welche des Gekreuzigten Hände zum Schein durchbohrten, auf die roten Flecken, die seine gemalten Wunden darauf hinterlassen. Ja, es ist Wahrheit geworden, das Wunder ist geschehen: » Der künstliche Bluttropfen hat auch erlösende Kraft

Und kaum hat ein Pilger im gelobten Land andächtiger das wirkliche Kreuzesholz geküßt, als es jetzt hier am falschen geschieht.

So mag einst, nach langer Meeresfahrt, Helene, die fromme Mutter Kaiser Konstantins, das schöne stolze Weib, sich hingeworfen haben, als sie endlich das Kreuz fand, das lange gesuchte, um es an ihren Busen zu drücken, in unnennbarer Freude der Erfüllung. –

Die Schritte Ludwigs nahen wieder, und die Gräfin erhebt sich aus der inbrünstigen Betrachtung. –

»Das Haus ist leider geschlossen,« sagt Ludwig; der es recht wohl im voraus gewußt hatte. Sie gehen weiter, den Garderoben zu. »Ich will doch einmal sehen, ob Freyer noch da ist!« sagt Ludwig und klopft an die erste Tür. Die Gräfin erschrickt so, daß sie sich an die Wand lehnen muß, um nicht umzusinken. »Jetzt sollte er schon kommen – der Augenblick?« Die Kniee drohen ihr zu brechen, ihr Herz schlägt zum Zerspringen – aber auf dreimaliges Klopfen keine Antwort, er ist nicht mehr da. Ludwig Groß öffnet die Tür und tritt hinein, die Garderobe ist leer. »Wollen Erlaucht herein kommen?« fragt Ludwig, »interessiert Sie's, die Garderobe zu sehen?«

Sie tritt ein. Da hängen seine Gewänder, noch dampfend vom Schweiß der schweren Arbeit.

Die Gräfin steht mit gefalteten Händen in dem schmucklosen Raum. Ihr zunächst knistert und wallt etwas Weißes, Flimmerndes – es ist das Verklärungskleid. Sie berührt es leise im Vorbeigehen mit der Hand, und es durchzuckt sie mit seligem Schauer.

Ach, und dort die Dornenkrone!

Sie nimmt das Requisit in die Hand, und Tränen quellen darauf nieder, als wäre es eine heilige Reliquie. Und dabei steht es wieder vor ihr, das traumhafte Bild, wie sie ihn zum erstenmal, da oben am Berg gesehen und ihm der Dornenzweig um die Stirn gespielt, wie eine Vorbedeutung. »Nein, meine Hände sollen dich schützen, daß kein Dorn dich mehr ritze, geliebte Stirn!« denkt sie, und ein wundervolles Lächeln ergießt sich über ihr Gesicht. – Da begegnet sie, aufblickend, dem Auge Ludwigs, das mit Rührung an ihr hing, während sie auf den Kranz niederblickte.

Sie legt die Krone wieder hin und folgt Ludwig zur nächsten Tür: Kaiphas! Eine fast naive Angst und Schüchternheit befällt sie – ein Gefühl, wie sie es als junges Mädchen hatte, da sie zum erstenmal bei Hofe vorgestellt wurde – und sie ist beinahe froh, daß auch er nicht mehr da ist und sie sich erst sammeln kann, bevor sie dem Gewaltigen gegenüber tritt! –

»Es ist zu spät, sie sind alle fort,« sagt Ludwig und gibt der Gräfin den Arm, sie die Treppe hinunter zu führen.

Vor dem Theater und auf der Straße zum Dorf stehen zahlreiche Gruppen von Leuten.

»Was machen denn die noch hier?« fragt die Gräfin.

»Ach, die warten auf Freyer! Jedesmal treibt er's so. Da hat er sich wieder auf Seitenwegen herumgeschlichen, damit er niemand sehen muß, und die armen Leute stehen und warten umsonst! – Ich hab's ihm schon so oft gesagt, er solle nicht so streng sein! Die Leute wären ja glücklich, wenn er ihnen nur ein freundliches Wort gönnte – aber er kann diese Scheu nicht überwinden. Er könne sich nicht als Christus verehren lassen, wenn die Rolle ausgespielt sei. Er dürfe das, was die Menschen für Christus empfinden sollten, nicht auf seine Person übertragen lassen –! Das ist seine Ansicht.«

»Das ist groß und heilig gedacht, aber hart für uns sterbliche Menschen, die wir uns so gern an das Sichtbare klammern. Es ist ja unmöglich, den Eindruck der Rolle nicht auch auf den Darsteller zu übertragen, noch dazu bei einer Persönlichkeit wie die Freyers!«

Ludwig Groß nickt verständnisvoll: »Ja, man hat diese Erfahrung schon von alters her gemacht. Ein irdisch Pfand bedarf der Glaube, sagt unser großer Dichter, und Freyers Darstellung ist ein solches Pfand, eine Bürgschaft, deren segensreiche Kraft gewiß jeder empfindet.«

Die Gräfin drückt Ludwig leidenschaftlich die Hand.

»Ich habe Leute gesehen,« fährt Ludwig fort, »die froh waren, wenn sie nur Freyers Gewand berühren durften, als könne es ihnen Heilung bringen, wie das wirkliche Kleid Christi! Würde Christus, wenn er diese fromme Täuschung sähe, da nicht auch ausrufen: ›Weib, dein Glaube hat dir geholfen!?‹«

Eine tiefe Röte steigt in dem Gesicht der Gräfin auf, und unaufhaltsam brechen ihr die kaum zurückgedrängten Tränen hervor. Sie stützt sich fest auf Ludwigs Arm, und er fühlt das mächtige Pochen ihres Herzens. – Es erbarmt und bewegt ihn! Er sieht es wohl, auch sie ist eine kranke Seele, die hier Heilung sucht, und wenn sie diese nicht findet, zu Grunde geht! »Sie soll dir werden, arme Frau! – Wie reich du auch bist, du bist doch arm – und wir wollen dir geben, was wir können!« denkt er bei sich selbst.

Ohne ein Wort weiter zu sprechen, pilgern die beiden nebeneinander heim. – Wie eine verlorene, wiedergefundene Heimat begrüßt die Gräfin nun das alte Haus. –

Der Vater Groß steht unter der Tür, nimmt ihr den Shawl ab und trägt ihn ihr nach ins Zimmer.

Josepha ist schon zurückgekommen und hat erzählt, die Gräfin sei unpäßlich.

»Es ist doch nicht schlimm?« fragt er besorgt.

»Nein, Herr Groß, ich bin wohl – aber ich kann nicht fort, ich muß diese Menschen kennen lernen – ich kann mich jetzt nicht von diesem Eindruck losreißen!«

Sie sinkt auf einen Stuhl, wirft sich mit dem Kopf auf den Tisch und schluchzt wie ein Kind. »Verzeihen Sie mir, Herr Groß, aber ich kann nicht anders!« spricht sie mühsam unter Tränen.

Da legt ihr der Alte väterlich die Hand auf die Schulter. »O, weinen Sie sich nur aus, das sind wir schon gewohnt, da brauchen Sie sich nicht zu genieren!« Und er zieht sich leise in die Werkstatt zurück.

Auch Ludwig ist verschwunden.

Josepha kommt herein, um zu fragen, ob sie wieder auspacken solle, die Sachen seien oben auf ihrem Zimmer.

»Ja,« sagt die Gräfin, »und die Wagen sollen nach München zurückfahren, bis ich sie wieder brauche.«

»Der Herr Prinz haben den Kammerdiener für die Frau Gräfin hier gelassen!« berichtet Josepha.

»Was soll der hier? Auch er fährt heim! Alles soll fort – ich will niemand hier, als dich!« befiehlt die Gräfin streng und verbirgt wieder das Gesicht in ihr Tuch. Josepha geht, die Befehle zu bestellen. Wo mag Ludwig Groß sein, er wäre ihr jetzt ein Bedürfnis, wo sie so allein ist mit dem übervollen Herzen! – Er hatte recht in allem, er hat es ihr gesagt, daß sie hier weinen lernen wird, er hat ihr zuerst den Geist Ammergaus verständlich gemacht. Ehre und Dank sei ihm, er hat nichts verheißen, was sich nicht erfüllt hat. Er ist echt und zuverlässig durch und durch! Aber wo bleibt er nur, ahnt der sonst so feinfühlige Mensch nicht, daß er ihr jetzt gerade eine Wohltat wäre – gerade jetzt? Oder blickt er noch tiefer und weiß, daß er nur der Ersatz wäre für einen andern, nach dem sich ihre ganze Seele sehnt? Es ist so einsam. Im Hause und auf der Straße ist es wie ausgestorben. Alles ruht nach dem schweren Tag. –

Aber jetzt verdunkelt etwas von außen das Fenster, Ludwig Groß geht vorbei, auf den Eingang zu. Er bringt jemand mit – eine hohe dunkle Gestalt, weit über das niedere Fenster emporragend, scheu, rasch dahinschreitend, von einer Menge Menschen in ehrfurchtsvoller Entfernung gefolgt. Die Gräfin ist wie gelähmt. – Kommt er mit? Kommt er herein? – Sie vermag es nicht, aufzustehen und nachzusehen – sie sitzt da mit gefalteten Händen, zitternd in demutsvoller Erwartung, wie Danae des Augenblicks harrte, wo eines Gottes Liebe im Goldregen auf sie niederflutete. – Jetzt – Schritte in der Werkstatt – es sind die Schritte von zweien –! Eine Ewigkeit brauchen sie durch den langen Raum – aber wirklich! Sie gehen auf ihr Zimmer zu – es kommt näher – es klopft! – Sie hat kaum den Atem, »herein« zu rufen. Sie will es nicht glauben – aus Angst vor der Enttäuschung. Sie sitzt noch immer regungslos am Tisch. – Ludwig Groß öffnet die Tür, um den andern vorausgehen zu lassen – und herein tritt Freyer. Er bückt sich ein wenig, um den Kopf nicht anzustoßen, aber das wäre nicht nötig gewesen, denn, welch ein Wunder! Vor den Augen der Gräfin wächst die Tür, steigt die Zimmerdecke höher und höher über ihm.

Wie eine Kuppel wölbt sich's über seinem Haupt – wo ist das kleine niedere Zimmer hin? Ein weiter hoher Raum umfängt ihn, von blendendem Glanz erfüllt. – Und Farben spielen vor ihren Augen, Gestalten schweben auf und nieder, sind es bunte Schatten oder Engel? Sie weiß es nicht, ihr Auge ist umflort – eine Sekunde lang hört sie auf zu denken – Dann ist es, als ob sie erwache aus einem tiefen Schlaf, in dem sie genachtwandelt habe – denn sie findet sich plötzlich Freyer gegenüber, er hält ihre beiden Hände in den seinen, und seine Augen ruhen in den ihren – stumm, wortlos! –

Dann ermannt sie sich, und das erste Wort, das sie spricht, gehört Ludwig: »Daß Sie mir den Mann bringen –!« sagt sie und läßt die Hände Freyers los, um dem zu danken, der ihr Sehnen so wunderbar erraten! – So groß die Gabe – so groß der Dank – und hier ist beides unermeßlich! – Sie weiß es fast nicht, wer ihr in diesem Augenblick mehr ist, der, welcher ihr dies Gnadengeschenk brachte, oder das Geschenk selbst! Aber von dieser Stunde an ist Ludwig Groß ihr Wohltäter.

»Daß Sie mir den Mann bringen –« wiederholt sie, denn sie weiß nichts weiter zu sagen, in dem einen Wort liegt alles! Hätte sie die Beredsamkeit der ganzen Welt besessen, es wäre für Ludwig nicht so viel gewesen, wie das eine Wort, und der Blick, der es begleitete. – Dann, wie ein Kind an Weihnacht, das, nachdem es gedankt, glückselig zu seinen Herrlichkeiten zurückkehrt, so wendet sie sich wieder zu Freyer.

Aber wie das Kind schüchtern vor der Ueberfülle der Gaben steht – und in der ersten Ueberraschung nicht wagt sie zu berühren, so steht sie nun schüchtern, keines Wortes mächtig vor ihm da, und nur ihr Auge redet und die Träne, die über ihre Wange rinnt. –

Er sieht ihre tiefe Erschütterung, er beugt sich gütig zu ihr herab und nimmt wieder ihre Hände in die seinen. Noch zittert – sie fühlt es – jeder Nerv in ihm, von der furchtbaren Anstrengung – und wie es nach dem Regen feucht von den Bäumen schauert, so stehen seine Augen noch in Tränen, und sein Gesicht ist schweißbedeckt.

»Wie soll ich Ihnen danken, daß Sie kommen nach dieser Anstrengung!« beginnt leise die Gräfin.

»O, Frau Gräfin,« sagt er mit unbeirrbarer Wahrhaftigkeit, »das habe ich meinem Freund Ludwig zuliebe getan – er hat darauf bestanden.«

»Also nur dem Freund zuliebe!« denkt die Gräfin und steht gesenkten Hauptes vor ihm.

Jetzt ist er der König – und sie, die Königin ihrer glänzenden Sphäre, sie ist jetzt nichts als ein armes, hoffendes, zagendes Weib!

Von ihr ab fällt in diesem Augenblick aller Tand ihrer Weltherrlichkeit – zum erstenmal in ihrem Leben steht sie einem Menschen gegenüber, wo sie die Bettlerin ist und er der Gewährende! Welch ein Gefühl! Demütigend und beseligend, beschämend und berauschend zugleich! An dem einen Wort hat sie es erkannt, – was ist für diesen Mann der Nimbus einer Reichsgräfin Wildenau mit ihrer geschlossenen Krone und ihren Millionen? – Für Joseph Freyer gibt es nur eine Aristokratie, – die des Heiligen, in dieser ist er gewohnt sich zu bewegen – und wenn er diese verläßt, um eines irdischen Weibes willen, so steigt er herab zu ihr und stünde sie nach weltlichen Begriffen noch so hoch über ihm!

Aber wie arm und klein sie sich jetzt auch ihm gegenüber fühlt, – wie auch die Fürstenkrone und der Glanz ihres Goldes in nebelgrauer Ferne verblaßt und verschwindet – eines bleibt ihr und dessen ist sie sich bewußt – ihr weiblicher Reiz, und dieser muß wirken, sei sie eine Königin oder das Kind eines Holzfällers! »Wohlan, für die irdische Krone, die du mir vom Haupt genommen, sollst du mir deine Dornenkrone geben, stolzer Mann, und ich werde doch Königin sein!« so denkt sie und die alte Stammmutter Eva rührt sich in ihr und ein berauschender Hauch weht aus dem Garten des Paradieses herüber. Aber nicht um einer gemeinen Regung der Eitelkeit und Begehrlichkeit willen, nein, sie will geliebt sein, um beglücken zu können. Das ist die Art des großen Weibes, daß es seine Macht üben will, nicht um zu empfangen, sondern um zu geben, dann aber gibt es auch ohne Maß und Ziel! – Schnell denkt der Kopf – aber noch schneller das Herz! Ehe der Kopf noch Zeit hat, den Gedanken zu fassen, ist das Herz schon damit fertig. – Nicht länger hat die Gräfin gebraucht, um das alles in sich durchzuleben, als Freyer still das Auge auf sie geheftet hielt. Jetzt plötzlich senkt er die Wimpern und sagt mit gedämpfter Stimme: » Ich glaube, Frau Gräfin, wir haben uns schon gesehen!«

»Bei meiner Ankunft, Freitag abend. Sie standen oben auf dem Berg, während ich am Fuße vorbeifuhr. Nicht wahr?«

»Ja,« haucht er kaum hörbar und es liegt etwas wie ein Einverständnis – eine süße Vertraulichkeit darin, daß er dies »Ja« – so leise spricht. Sie fühlt das, und ihre Hand umschließt mit sanftem Druck die seine fester.

Da hebt er die Wimper wieder und sieht sie ernst fragend an, und ihr ist, als fühle sie einen Puls klopfen, an der Stelle der Hand, wo das Wundenmal war – die Mahnung verfehlt ihre Wirkung nicht.

»Christus, mein Christus!« flüstert sie reuig, denn ihr ist, als hätte sie eine Sünde begangen, daß sie mit irdischem Wunsch den Gottgesandten gestreift. Er ist ja gekreuzigt, gestorben und begraben! Er wandelt nur auf Erden wie ein Geist, dem es vergönnt ist, von Zeit zu Zeit wiederzukehren und eine kurze Frist unter den Lebenden zu weilen. Wer kann einen Abgeschiedenen besitzen, wer einen Schatten ans Herz drücken? Und ein Schmerz ergreift sie, eine Wehmut, wie wenn wir von der Wiederkehr eines geliebten Verstorbenen träumen und uns ihm schluchzend an die Brust werfen, während wir uns bewußt sind, daß es nur ein Traum ist! Aber wenn es nur ein Traum, soll sie ihn nicht träumen mit ihrer ganzen Seele? Wenn sie weiß, daß er ihr nur auf Augenblicke gegönnt ist, soll sie in diese nicht die Liebe eines ganzen Lebens zusammendrängen, mit um so süßerer, um so schmerzlicherer Gewalt?

»Nach uns die Sündflut,« sagt die Liebe zum Augenblick, – und die, welche es nicht sagt, ist keine Liebe.

Aber in diesem Augenblick, die Gräfin fühlt es, liegt der Keim von etwas Unvergänglichem, und wenn er vorüber, beginnt für sie – nicht die Vernichtung – sondern die Ewigkeit. – Vor dieser hat sie sich zu verantworten, was sie mit dem Augenblick angefangen!

Ludwig Groß steht am Fenster, er will es nicht belauschen, was die stumme Sprache dieser Augen sich vertraut. Er hat es mit seinem Instinkt erkannt – hier waltet ein geheimnisvoller Zusammenhang, in den kein dritter gehört! Sie sind allein – so gut wie allein, und noch spricht keines ein Wort, nur die tränenschweren Blicke klagen sich das Leid, was er erduldet, was sie anschauend mitgelitten.

»Komm, du Armer!« hallt es in ihrem Herzen nach, und sie läßt seine eine Hand los, um die andere mit beiden Händen desto fester umschlingen zu können. Da fällt ihr ein leichtes Zucken auf: »Schmerzt Sie die Hand noch – von dem furchtbaren Nagel, der Ihnen so natürlich in das Fleisch getrieben zu sein schien!«

»O nein, das würde nicht wehe tun, der Nagel geht zwischen den Fingern durch, und der breite Kopf ist nach der Mitte der Handfläche umgebogen. Aber heute faßte mir Joseph von Arimathia beim Herausziehen des Nagels aus Versehen das Fleisch mit, so daß ich vor Schmerz die Zähne zusammenbiß!« sagt er lächelnd und zeigt ihr die Wunde: »Sehen Sie? Nun bin ich wirklich stigmatisiert!«

»Mein Gott, da ist ja ein ganzes Stück Fleisch herausgerissen, und das hielten Sie aus, ohne zu zucken?«

»Nun, das versteht sich doch von selbst!« sagt er einfach.

Ludwig sieht starr zum Fenster hinaus. Die Gräfin hat die verletzte Hand sanft nah und näher gezogen, plötzlich alles vergessend in einem unnennbaren Gefühl beugt sie sich herab und haucht, ehe er's wehren kann, einen Kuß auf das blutige Stigma.

Joseph Freyer ist zusammengezuckt, wie vom Blitz getroffen. Er hat die Hand zurückgezogen und geschlossen wie vor einer zu reichen Gabe, die er nicht annehmen dürfe. Eine heiße Röte ergießt sich über seine Stirn, seine Brust hebt und senkt sich gewaltsam, er muß sich an einem Stuhl halten, um nicht umzusinken. Aber aus seinem Auge bricht ein Strahl unbewußt auflodernder Leidenschaft, ein Strahl – verzehrend und doch lebenspendend – ein Prometheusfunke!

»Sie sind müde – verzeihen Sie, daß ich nicht längst bat, sich zu setzen!« sagt die Gräfin, sich mühsam beherrschend, und winkt Ludwig Groß herbei, um ihn nicht länger so allein stehen zu lassen.

»Nur einen Augenblick –« flüstert Freyer, gleich ihr nach Fassung ringend, und läßt sich nieder. Die Gräfin gibt ihm Zeit, sich zu sammeln. Sie sieht seine furchtbare innere Bewegung. Sie würde sich jetzt vielleicht der raschen Tat schämen, wenn sie sich nicht bewußt wäre, wie sie es meinte – denn was sie in diesem Augenblick gefühlt, war zu heilig, als daß er es hätte mißverstehen können. Und er hat es auch nicht mißverstanden, aber – sie hat ihn überwältigt.

Ludwig, der die Situation vollkommen durchschaut, stellt mit gewohntem Takt die Unbefangenheit wieder her: »Freyer ist heute besonders angegriffen, er sagte mir's erst auf dem Heimwege, daß man ihn wieder leblos vom Kreuz genommen habe.«

»Um Gottes willen, ist das öfter der Fall?« fragt die Gräfin.

»Ja, leider,« sagt Ludwig bekümmert.

»Das ist ja schrecklich. – Ihr Vater erklärte mir schon, das lange Hängen am Kreuz sei so gefährlich. Kann man denn da gar nichts tun, um es ihm zu erleichtern?«

»Das könnte man schon,« meinte Ludwig, »wenn man statt eines gerundeten Kreuzes ein flaches nehmen dürfte. Früher hat es ihn nicht so angestrengt, da hatten wir ein glattes eckiges Kreuz. Aber dann sagte uns eine archäologische Autorität, daß die Kreuze jener Zeit von halbrunden Stämmen gezimmert waren, und diese Wölbung, über die der Rücken nun ausgespannt wird, dehnt ihm die Glieder zu sehr.«

»Das glaube ich!« ruft die Gräfin entsetzt. »Weshalb wendet man denn aber auch ein solches Folterwerkzeug an?«

»Er will es ja selbst nicht anders, der historischen Richtigkeit zuliebe.«

»Und wenn Sie nun aus einer solchen Erstarrung nicht wieder erwachten?« fragt die Gräfin vorwurfsvoll.

Da hebt Freyer, sich ermannend, den Kopf: »Was könnte mir denn Schöneres geschehen, Frau Gräfin, als am Kreuz zu sterben wie mein Erlöser? Das ist alles, was ich mir wünsche!«

»Alles?« wiederholt sie, und eine schmerzliche Eifersucht befällt sie, Eifersucht auf das Kreuz, dem er sein Leben hingeben möchte! – Und sie senkt einen Blick in sein dunkles Auge, einen süßen, verlangenden – tödlichen Blick – einen vergifteten Pfeil, dessen Wirkung sie kennt. Sie gönnt ihn dem Marterpfahl nicht, dem toten, hölzernen, der nicht fühlt, der nicht liebt, der ihn nicht begehrt wie sie! Und der wirkliche Christus? Der ist zu groß, um solch ein Opfer zu verlangen – tauscht er doch zwei Seelen für die eine, denn in seinem Abbild liebt sie ja ihn! – Er hat ihr die blutig gezeichnete Hand geschickt, sie den Weg zu ihm zu führen, – er kann es nicht wollen, daß sich ihr diese Hand wieder entzieht, bevor der Weg zurückgelegt.

»Sie sind ein Märtyrer im wahren Sinne des Wortes,« sagt sie. Ihre Blicke scheinen zu forschen, ob der Pfeil von vorhin getroffen. Er aber hat seitdem die Lider gesenkt und sieht zu Boden.

»O Frau Gräfin,« sagt er ablehnend, »daß man eine halbe Stunde hindurch seine Gliedmaßen ausrenkt, macht den Märtyrer noch nicht aus. Das ist ein Schmerz, der Ehre bringt, und die Genugtuung, andern zu nützen. Aber manche, wie mein Freund Ludwig und andere meiner hiesigen Landsleute, bringen unserer Sache im geheimen Opfer an Lebensglück, die kein Publikum sieht und beklatscht, und die keinen Ruhm erringen als vor sich selbst und Gott! – Das sind Märtyrer, Frau Gräfin! – Ich bin nichts, als ein eitler, verzogener, sündiger Mensch, der genug zu tun hat, sich von dem Beifall der Welt nicht verblenden zu lassen und seiner Aufgabe würdig zu werden!«

» Zu werden!« wiederholt die Gräfin. »Nun, ich dächte, wer so spricht, der ist es schon!«

Da hebt Freyer den Blick empor, daß es der Gräfin ist, als höbe er sie mit hinauf. » Wer dürfe sagen, daß er dieser Aufgabe würdig sei? Das müßte ein Heiliger sein! – Alles, was ich hoffen kann, ist, daß Gott sich auch des unvollkommenen Werkzeugs bedient, um seine Wunder zu tun, und daß er mir den guten Willen für die Tat anrechnet – sonst müßte ich heute diese Rolle niederlegen!«

Die Gräfin ist tief bewegt.

»O Freyer, wunderbarer, gottbegnadeter Mann! Für uns sind Sie der Erlöser und gegen sich selbst sind Sie so hart!«

»Frau Gräfin, sprechen Sie nicht so! Ich darf das nicht hören! Ich will nicht zu allen meinen Sünden auch noch die fügen, daß ich meinen Herrn in seinem Gewand um das bestehle, was allein ihm zukommt! Sie ahnen nicht, wie es mich ängstigt, wenn mir die Menschen diese abgöttische Verehrung zeigen, ich möchte es ihnen immer zurufen: ›Verwechselt mich doch nicht mit ihm – ich bin's ja nicht, ich bin nichts anderes als das Holz, – oder der Marmor, aus dem ein Christusbild gemeißelt wird – und dazu ein schlechtes Holz und ein Marmor, der Flecken hat!‹ Und wenn sie mir es nicht glauben und fortfahren, die Liebe, die sie für Christus haben sollen, auf mich zu übertragen – dann hab' ich das Gefühl, daß ich zum Dieb an meinem Herrn geworden, und kein Mensch weiß, wie ich es büße!« Er springt auf. »Deshalb gehe ich auch so wenig wie möglich unter Menschen, – und wenn ich einmal inkonsequent bin, so bereue ich es, denn dann ist mein Frieden wieder für lange gestört!«

Er nimmt seinen Hut. Jetzt erscheint sein ganzes Wesen verändert, das ist jene keusche Strenge, mit der er die Händler aus dem Tempel treibt, und die Gräfin erbleicht, ins Innerste zurückgeschreckt von der starren Haltung.

»Sie gehen?« fragt sie leise mit bebender Stimme.

»Es ist Zeit, Frau Gräfin!« sagt er milde, aber mit einer unnahbaren Hoheit, die der Gräfin das Wort auf den Lippen ersterben läßt, das ihn bitten sollte, länger zu bleiben.

»Erlaucht werden morgen abreisen?«

»Frau Gräfin bleiben einige Zeit hier!« sagt Ludwig Groß und drückt leise den Arm des Freundes, wie eine Mahnung, der Gräfin nicht wehe zu tun.

»Ah so,« sagt Freyer gedankenvoll, »dann sehen wir uns vielleicht noch.«

»Ich bin Ihnen die Antwort auf das schuldig geblieben, was Sie heute sprachen – wollen Sie mir gestatten, sie Ihnen morgen zu geben?« fragt die Gräfin leise, und ein stiller Schmerz malt sich um ihren Mund.

»Morgen spiele ich wieder den Christus, Frau Gräfin, – aber es findet sich wohl in diesen Tagen einmal Gelegenheit!«

»Wie Sie wollen – leben Sie wohl!«

Freyer verneigt sich ehrerbietig, aber so fern, als denke er nicht daran, daß die Gräfin ihm die Hand geben könne.

Ludwig dagegen reicht ihr unbefangen und wie um des Freundes Fehler gut zu machen, die Rechte. Sie ergreift sie und spricht leise und rasch: »Bleiben Sie!«

»Ich will nur Freyer hinausgeleiten, dann komme ich, wenn Sie gestatten.«

»Ja!« sagt sie und entläßt Freyer mit stolzer Handbewegung. Dann aber wirft sie sich auf den Stuhl am Tisch und bricht in ein heftiges Weinen aus. Sie hat immer nur Männer um sich gehabt, die um ihre Gunst warben wie um eine königliche Gnade. Und hier – hier ist sie die Verschmähte, und von wem? Der niedere Mann, – der Plebejer! – Nein, es gibt ihr einen Stich durchs Herz, als sie ihn so nennen will, wenn er ein Plebejer ist, dann war Christus auch einer. Auch Christus stammte aus dem Volke – das Ideal der Menschheit ward in einer Krippe geboren! Sie kann ihm nur einen Stolz entgegensetzen, den des Weibes, nicht aber den der hochgeborenen Dame. Und – auch das kann sie nicht! – Wie oft hat sie ihr Herz weggeworfen, ohne Liebe! Für das Linsengericht einer Eitelkeit oder einer angenehmen Situation, wie der Prinz vorgestern sagte, hat sie das Erstgeburtsrecht der heiligsten Gefühle verkauft. – Worauf darf sie stolz sein? Daß sie zum erstenmal wahrhaft liebt? Soll sie sich an dem Manne, der dies göttliche Gefühl in ihr erweckt hat, durch Hochmut rächen, weil er es nicht mit ihr teilt? Nein, das wäre klein und undankbar. Was aber kann sie tun? Er ist ihr so überlegen in seiner wunschlosen Schlichtheit, so unantastbar! – Sie ist gefangen in seiner Größe, ihre Waffen sind machtlos gegen ihn. Wie sie sich auch umsieht nach einem Halt, an dem sie sich über ihn erheben könnte, jede Stütze ihres früheren Scheinlebens zerbricht ihr in der Hand vor der großen, ungeheuren Wahrheit dieser Erscheinung. Sie kann nichts tun, als lieben und leiden und es hinnehmen, wie er es über sie verhängt!

Es hat an die Tür geklopft, fast mechanisch ruft sie herein.

Ludwig Groß tritt leise ein und nähert sich ihr. Sie spricht kein Wort, sie streckt nur die Hand nach ihm aus, wie der Kranke nach dem Arzt. Er tritt neben sie hin. Mit der Teilnahme und dem Verständnis des Selbstleidenden ruht sein Auge auf der weinenden Frau. Sie aber überkommt in seiner Nähe eine unendliche Beruhigung. Dieser Mann läßt ihr kein Leid geschehen! So weit seine Macht reicht, so weit ist sie geborgen.

Sie sieht ihn an, wie um Hilfe flehend – und er versteht sie.

»Freyer war heute ungewöhnlich erregt,« sagt er, »ich weiß nicht, was in ihm vorging. So sah ich ihn noch nie! Als wir in den Garten traten, fiel er mir um den Hals, als wäre etwas Außerordentliches geschehen; dann stürzte er fort, als brenne ihm der Boden unter den Füßen – natürlich nach der entgegengesetzten Richtung seines Weges, denn die ganze Straße stand voll Menschen, die auf ihn warteten.«

Die Gräfin lauscht diesen Worten mit gespanntem Atem.

»War er schon so, als Sie ihn holten?« fragt sie.

»Nein, da war er wie immer, still in sich gesammelt und müde.«

»Was hat ihn denn aber plötzlich so verwandelt?«

»Ich glaube, Frau Gräfin, Ihr Wesen hat einen Eindruck auf ihn gemacht, mit dem er erst fertig werden muß. Sie haben ihn aus dem Geleise gebracht, jetzt kennt er sich nicht mehr aus.«

»Aber ich – ich habe ja so wenig gesprochen – ich begreife nicht –« sagt die Gräfin errötend.

»Es kommt nicht immer darauf an, was man sagt, sondern was man nicht sagt, Frau Gräfin. Das Unausgesprochene ist für tiefe Seelen oft mehr, als Worte!«

Die Gräfin schlägt die Augen nieder und hält still Ludwigs Hand.

»Glauben Sie, daß er –« sie braucht nicht zu vollenden, Ludwig erspart es ihr.

»Wie ich Freyer kenne – kommt er entweder nie – oder morgen wieder!«


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