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Zweiundzwanzigstes Kapitel. Fallende Sterne

»Es steht schlecht mit der neuen Obersthofmeisterin!«

»Die Gräfin Wildenau soll bereits in Ungnade sein; bei der neulichen großen Parade fuhr sie nicht im Wagen der Königin!«

»Es ist ja natürlich. Das war vorauszusehen, eine Dame, die so wenig gewöhnt ist, sich Zwang anzutun, wie die Wildenau, und eine solche Stellung!«

»Sie soll fortwährend Bévues machen. Wenn es ihr beliebt, läßt sie die Königin und den ganzen Hof warten. Neulich bei der Cour soll sie um eine Viertelstunde zu spät gekommen sein!«

»Und eine Menge Damen vergessen haben vorzustellen.«

»Man ist indigniert über sie.«

»Die Arme, sie gibt sich alle Mühe, aber es paßt einmal nicht für sie, – sie ist zu zerstreut und macht Mißgriffe, die einer Obersthofmeisterin nicht zu verzeihen sind.«

»Ja, wenn der Vetter der Königin, der Erbprinz von Metten-Barnheim, sie nicht hielte, hätte die Königin sie schon längst fallen lassen. Man sieht sie bei Hofe nur, wenn sie zu repräsentieren hat. In eine persönliche Beziehung zu Ihrer Majestät ist es ihr nicht gelungen, zu treten!«

So lauten nach wenigen Monaten schon die Urteile der Gesellschaft und mit Recht!

Es ist, als ruhe der Fluch der verlassenen Wesen, denen sie die Treue gebrochen, darauf, – sie kann machen, was sie will, sie hat kein Glück in dieser Stellung.

Wie in der Höhenluft himmelanstrebender Gipfel jede warme Strömung sich zu einer Wolke gerinnt, so auch ist es in der kühlen durchsichtigen Atmosphäre hochexponierter Stellungen, als verdichte sich der leiseste Hauch innerer Kämpfe und Leidenschaften zu Wolkenmassen, die sich verdunkelnd oft um die glänzendste Persönlichkeit zusammenballen und ihr Bild trüben. – Der erotisch-phantastische Zug, der mit der aristokratischen Geburt und Erziehung der Gräfin fortwährend kollidiert, ist eine jener Sonderströmungen, die sich ganz unbewußt und unwillkürlich in der krystallenen Klarheit jener Spitzen der Gesellschaft als etwas Fremdartiges ausscheiden mußte. – Das sind geistig-physikalische Prozesse, die sich auf Grund von unbekannten, aber sicher folgerichtigen Gesetzen vollziehen.

Dies das Geheimnis, warum die Gräfin, eine als Privatperson gefeierte und bei Hof stets gern gesehene Frau in einem offiziellen Verhältnis sich nicht halten konnte. Das leichte Gewölk, das in ihrem Privatleben nur dazu diente, sie mit einem Nimbus von Romantik zu umgeben, der die freie, unabhängige Frau doppelt interessant machte – ist mit einer, ihre Monarchin repräsentierenden Hofdame absolut unverträglich! Da muß alles klar, kühl, offiziell sein. Das Subjektive muß in den Hintergrund treten, der Ruf muß makellos, die Haltung streng repräsentativ sein. Das unpersönliche Element des Königtums, wie es sich in unserer Zeit, und besonders in den königlichen Frauen darstellt, verträgt in seiner nächsten Nähe nicht das Hervortreten der Individualität. Es fühlt sich dadurch beengt, belästigt, beleidigt, ohne sich selbst Rechenschaft zu geben, warum? Alle Leidenschaftlichkeit und starke Eigenartigkeit ist ihm instinktiv zuwider, weil ihm daraus auch im einzelnen der Brodem der gärenden Volkselemente entgegenweht, die es beherrschen und zugleich fürchten muß. – Auch aus der beständigen Aufregung der Gräfin, aus dem unsicher schweifenden Blick, ihrer Zerstreutheit, ihrem fieberhaft wechselnden, oft gedrückten und befangenen, oft wieder übermütigen Wesen spricht unbewußt die Rache der in ihrem Gatten beleidigten Volksseele – und die Königin hat in ihrer feinen Empfindung dafür eine geheime Scheu und Abneigung gegen die Gräfin, die sie nicht überwinden kann. So entstehen für die Gräfin die ersten Trübungen der Atmosphäre da oben in Thronesnähe, die Dünste gerinnen zu Wolken, – die Wolken aber werden vom Publikum gesehen, und dies beobachtet genau, – wie die Sonne der königlichen Gunst dahinter verschwindet.

Es ist viel besser, nie herausgetreten zu sein, als wieder verschwinden zu müssen. Die Gräfin war eine Größe, deren Macht unerschütterlich und unantastbar schien, solange sie selbständig für sich lebte – – jetzt sieht man, daß sie zu stürzen ist! Und nun braucht man keine Rücksicht mehr auf die bisher so Vielbeneidete zu nehmen. Man kann sich ungescheut dafür rächen, daß sie stets schönere Toiletten hatte, bessere Diners gab, mehr Bewunderer um sich versammelte – und ungestraft treiben durfte, was andern nicht verziehen wurde! – Wenn es wirklich dahin käme, daß die Gräfin ihre Entlassung nehmen müßte; wäre sie schlimmer daran als je, denn dann wäre sie erst, was sie stets am meisten fürchtete: eine gefallene Größe. – Sie hat wenig Freude in dieser Stellung, aber um so mehr Kummer.

»Eine Frau, die immer mit sich selbst beschäftigt ist, kann nicht Obersthofmeisterin sein, ich sehe es wohl ein,« sagt sie eines Tages zum Prinzen. »Wenn irgend ein Beruf Selbstverleugnung verlangt, so ist es dieser. Und Selbstverleugnung ist nie meine Sache gewesen. Das hätte ich wissen können, bevor ich die Stellung annahm. Man glaubt, bei Hofe sei das Feld, wo die Saat des Egoismus in vollen Halmen aufschieße! Es ist nicht wahr, wer da für sich selbst ernten will, der soll wegbleiben; nur die äußerste Selbstlosigkeit, die strengste Pflichterfüllung kann sich dort halten. Ich aber, mein Prinz, bin ein verzogenes, verwöhntes Geschöpf, das aus den paar Jahren, wo es unglücklich verheiratet war, nichts gelernt hat, als den Zwang hassen und den Schmerz scheuen! Was fängt man nun mit solch einem unbrauchbaren Wesen an?«

»Man liebt es!« sagt der Prinz, so ruhig, als bespräche er eine Schachpartie: »Und sorgt dafür, daß es in eine Stellung kommt, wo es nicht zu gehorchen braucht, sondern nur zu befehlen. Was zum Herrschen geboren ist, soll nicht dienen! Der Kiesel ist da, um den Pfad der Alltäglichkeit zu pflastern, – der Diamant, um zu strahlen, – wer wird ihm einen Vorwurf daraus machen, daß er zu sonst nichts nütze? Sein Wert liegt in ihm selbst, aber nur Kenner wissen ihn zu schätzen!« So tröstet der Freund sie immer wieder und bestärkt sie in ihren Neigungen. Wo aber die Menschen zu nachsichtig mit uns sind, da ist das Schicksal um so strenger, – das ist die Kompensation der moralischen Herzfehler der Gesellschaft, die Ausgleichung für die unverdiente Bevorrechtung einzelner, gegenüber dem traurigen Los Tausender.

Die Bemühungen des Freundes vermögen es nicht, der Gräfin die inneren Gewissensbisse zu nehmen, die sie foltern – denn er kennt ja nicht ihre ganze Schuld. Wenn er alles wüßte, würde sie auch ihn verlieren. – Und was sie noch außerdem erträgt, es wiegt das arme Dasein, für das sie kämpft, zehnfach auf.

Josepha sorgt dafür, von Italien aus das Mutterherz durch beängstigende Berichte aufzurütteln und zu peinigen.

Freyer ist verstummt. Seit jenem bitteren Brief, den er ihr schrieb, hat sie nichts mehr von ihm gehört. Wie ein kranker Löwe in seiner Höhle verkriecht er sich in seiner Einsamkeit, und sie wagt es nicht, ihn darin aufzusuchen, ob auch gleich eine geheime Sehnsucht sie manchmal aus dem Schlaf auffahren läßt, mit dem Namen des Gatten auf den Lippen und einer Träne im Auge. – Dazu kommt noch die Angst vor dem Vetter Wildenau, der mit seinen Absichten auf das Jagdschloß immer aufdringlicher hervortritt und seltsame anzügliche Reden führt, als sei er irgend einem geheimnisvollen Zusammenhang auf der Spur. Das Kind mit der verräterischen Aehnlichkeit ist nun freilich entfernt, aber – wenn er spioniert, – kann ihm gerade das auffallen, weil es von jenem Tage datiert, wo er die ersten Anspielungen machte! Ganze Nächte liegt sie schlaflos und sinnt über diese Rätsel nach, aber sie kann nicht finden, was ihn auf die Fährte ihres Geheimnisses gebracht. – Sie ahnt nicht, daß es das Kind selbst war, das dem neugierigen Wanderer in einem unbewachten Augenblick an der Umfassungsmauer in die Hände lief und auf schlaue Fragen verhängnisvolle Antworten gab: »Von der schönen Frau, die immer zum ›Göth‹ kommt, der den lieben Herrgott gemacht habe – in Ammergau! Und daß er die schöne Frau so lieb habe – viel lieber als Mutter Josepha!« –

Das war leicht erfragt und leicht beantwortet, aber ebenso leicht zusammengereimt. Es war dem Fragenden klar, daß hier ein Verhältnis sei, kompromettant genug, um als Handhabe gegen die Gräfin gebraucht zu werden, – wenn man den wahren Zusammenhang einmal kenne. Vetter Wildenau und seine Brüder beschlossen, von jenem Tage an das geheimnisvolle Treiben der Gräfin da oben scharf zu beobachten, – und dies war der neueste und interessanteste Sport der enterbten Linie von Wildenau!

Aber die Verfolgte hat einen mächtigen Schutz an dem Prinzen, man muß vorsichtig und langsam zu Werke gehen.

Auch bei Hofe ist es noch immer sein Einfluß, der sie hält. Die Königin hat aus Rücksicht für ihn alle erdenkliche Geduld mit der ihr unsympathischen Frau. So lebt das unglückliche Weib in beständiger Unsicherheit – Ihre Seele ist voll Bitterkeit über die Erfahrungen, die sie jetzt an den Menschen macht. Sie empfindet die Schadenfreude, die Mißachtung, mit der man ihr begegnet, seit die Sonne der königlichen Gnade sich für sie verdunkelt, wie Dolchstöße. Das macht sie immer unsicherer. Sie verliert die Fassung und weiß nicht mehr, was sie tut. – Ihr Stolz bäumt sich auf. Eine Wildenau – eine geborene Prinzessin von Prankenberg braucht das nicht zu dulden! Ihre gewohnte Liebenswürdigkeit verläßt sie und an deren Stelle setzt sie eine kalte, vornehme Verachtung, die sie sogar im Dienst beibehält und die alles noch mehr gegen sie erbittert. – Personen, die sie berücksichtigen sollte, ignoriert sie, Standesregister und Hoflisten, das Alpha und Omega einer Obersthofmeisterin, sind ihr nie gegenwärtig. Leute der ersten werden in die dritte Rangklasse degradiert und dergleichen Verstöße mehr. Klagen und Beschwerden aller Art laufen ein und bei einem Galadiner zu Ehren eines fremden fürstlichen Besuches muß sie es sich gefallen lassen, daß die Königin selbst ihr vor dem ganzen Hof das Dementi gibt, eine von ihr zurückgesetzte Persönlichkeit besonders auszuzeichnen. Das trifft die stolze Frau bis ins Leben!

Dieses Diner wird ihr zum Verhängnis. Wo sie hinblickt, triumphierende oder ironisch lächelnde Gesichter, – wo sie zu einer plaudernden Gruppe tritt, wird das Gespräch mit jener ostensiblen Plötzlichkeit abgebrochen, die gar kein Hehl daraus macht, daß man über sie gesprochen. Ja, oft begegnet ihr eine Miene, die sagen zu wollen scheint: »Was tust du eigentlich noch unter uns?«

Dazu kommt, daß der Prinz telegraphisch zu seinem kranken Vater nach Cannes berufen und nicht da ist, um sie zu schützen. Sie hatte immer gehofft, er käme bis zu dem Diner zurück, aber er kommt nicht. Sie ist ganz verlassen. Einige erbarmende Seelen, wie die gute Herzogin, die beim Passionsspiel mit ihr zusammen war, und ihre Damen oder einige wohlwollende Hoffräuleins, nehmen sich ihrer an, aber sie fühlt auch darin einen Akt des Mitleids, der sie fast noch tiefer demütigt als alle Beleidigungen. Und ihre Freunde! Die Herren ihres intimen Kreises – sie erlauben sich seit einiger Zeit einen vertraulichen Ton, der ihr sagen zu wollen scheint, du mußt es hinnehmen und es dir gefallen lassen, wie wir's dir bieten! Von der ehemaligen Devotion ist keine Rede mehr. – Sie ist auch nicht mehr schön in dem Sinne dieser Herren – eine bleiche, vergrämte Miene, mit eingefallenen, hoffnungslos ins Leere starrenden Augen, findet unter diesem Publikum keine Bewunderer mehr. Und wie ihr alle Blicke, alle Gesichter feindlich begegnen, so schaut ihr eigenes Bild aus dem Spiegel sie vorwurfsvoll an, der blendend weiße, wundervolle Nacken trägt ein müdes, frühverwelktes Haupt. »Es ist aus mit dir!« ruft ihr das Glas zu. – »Es ist aus mit dir!« lächelt es fein von den Lippen der Hofgesellschaft. – »Es ist aus mit dir, du kannst froh sein, wenn wir deine Diners noch annehmen!« haucht es sie beleidigend nahe aus dem weinduftenden Atem ihrer ehemaligen Hausfreunde an.

Ihr ist zu Mute, als müsse sich der Boden unter ihr auftun und sie und das ganze Treiben um sie her verschlingen! Das ist die Welt, für die sie das Opfer ihres Herzens und Gewissens gebracht? Das ist die Ehre, für die sie stündlich Folterqualen leidet? So schnell verflog der Preis, um den sie die ewigen Güter des Menschen geopfert? Und droben auf der winterlichen Höhe läßt sie den Gatten zu Grunde gehen, der nichts auf Erden hat, als das arme bißchen Liebe, die sie ihm bringt, – meidet ihn monatelang, weil er für sie der Vertreter jenes unbequemen Nazarenertums ist, dessen Askese die Kultur von Jahrtausenden überlebt hat! Ja! Dieses Nazarenertum, das so schmucklos und in Knechtsgestalt über die Erde geht – es ist der Freund der Geächteten, der Gedemütigten. Es fragt nicht nach Kronen und Hofgunst, nicht nach Menschenmacht und Ansehen. Und sie, die gebangt und gesündigt hat für den elenden Schein, für den Schimmer der Ehren dieses kurzen Lebens, – sie will eine Moral verachten, die in ihrem Bettlerkleide hoch über allem erhaben ist, um was die Größten und Mächtigsten zittern?! Und wieder steht es vor ihr, das Zeichen des erneuten Bundes zwischen Gott und der Welt – das Kreuz – und daran hängt der arme nackte Leib des Dulders, erstrahlend in keuscher göttlicher Schöne – und dieser Leib ist für sie herabgestiegen von dem Kreuz, daran er für die ganze Welt hing, und da sie ihn in den Armen hielt, nahm sie es ihm übel, daß er nur das Abbild dessen war, den doch kein irdischer Wunsch je erreicht, wie viel irdische Herzen auch in den Flammen der Liebe zu ihm emporlodern, so lange die Welt stehen wird. –

»Mein Christus – mein geopferter Gatte!« – ruft es in ihr, so laut, daß sie es überhört, wie die Königin sie etwas fragt. »Es ist unglaublich!« sagt jemand empört in ihrer Nähe. Da fährt sie aus ihren Gedanken auf: »Majestät –?« Die Königin hat sich bereits wieder entfernt, ohne die Antwort abzuwarten – ringsum Geflüster und Kopfschütteln, alle Blicke sind auf sie gerichtet. Ihr flimmert vor den Augen, – hat man sie gesehen, eben, am Fuß des Kreuzes, den herabgestiegenen Gott zu umfangen? Was wollte die Königin? Sie will ihr nacheilen. – Die Majestät ist verschwunden, dort schreitet sie hin durch den nächsten Saal, – aber der Weg ist so weit – sie kann es nicht erreichen, wie sie auch geht und geht, es wird immer weiter – –! Sie fühlt, daß sie ohnmächtig wird und schleppt sich in ein entlegenes Zimmer.

Es ist der Moment, wo der Hof sich zurückzieht. Es entsteht eine Verwirrung, – im Augenblick des Congés fehlt die Obersthofmeisterin! Niemand hat Zeit, sie zu suchen. Alles sammelt sich zum Cercle und eilt dann nach den Bedienten und Mänteln. Wagen um Wagen rollt davon, die Säle sind leer, die Lakaien kommen, um auszulöschen. Die Gräfin liegt allein und vergessen im letzten Saal auf dem Sofa.

»Um Gottes willen, Erlaucht sind krank?« ruft ein alter Haushofmeister und hilft der Gräfin auf, die sich langsam erhebt: »Ist schon alles aus?« fragt sie, mit geisterhaftem Blick um sich schauend: »Wo ist mein Diener?«

»Er wartet draußen noch immer auf Erlaucht,« sagt der alte Herr, bemüht, der Gräfin zu helfen: »Soll ich den Arzt holen lassen oder eine Kammerfrau?«

»Nein, danke, ich bin schon wieder wohl. Es war nur ein Schwindel,« sagt die Gräfin und schreitet langsam hinaus. »Wer fährt heute?« fragt sie ihren Diener, als er ihr den Pelz um die nackten Schultern legt.

»Martin, Ew. Erlaucht!«

»So, dann gehen Sie nach Hause und melden Sie, daß ich nicht komme, sondern auf die Güter fahre!«

»Es ist sehr kalt, Ew. Erlaucht!« warnt der Haushofmeister, der die Honneurs bis zum Wagen macht.

»Das tut nichts – ist die Biberdecke im Wagen?«

»Gewiß, Erlaucht!«

»Welche Zeit haben wir? Ist es spät?«

»O nein, erst neun Uhr, Erlaucht!«

»Dann fort!«

Martin weiß schon, wohin!

Der Haushofmeister schließt mit einer Verbeugung den Schlag und fort geht's in die stahlglitzernde Winternacht hinaus – den altgewohnten, aber lange nicht mehr eingeschlagenen Weg. – Es ist freilich eine kalte Fahrt. Der Boden ist hart gefroren und die Wagenfenster mit Eisblumen überzogen. Der Gräfin tut es wohl. In ihren Schläfen pocht es heiß, und heiß schlägt ihr Herz dem Manne entgegen, den sie um diese schnöde Welt verlassen! Noch einmal flammt die alte Glut in ihr auf, nach den schmählichen Erfahrungen der letzten Zeit. Die Stimmung jener Ammergauer Epoche tritt wieder in ihre Rechte und reuevoll eilt sie, zu suchen, was so schön war und was sie gedankenlos weggeworfen. – Das Herz voll Bitterkeit über die ihr in der Gesellschaft widerfahrene Unbill und Lieblosigkeit, taucht ihre Seele unter in dem süßen Kelch der Liebe und Poesie jener Zeit – einer Liebe, die Religion, – einer Religion, die Liebe war! »Und ihr hättet der Liebe nicht, so seid ihr ein tönend Erz und eine klingende Schelle!« Ja, für tönendes Erz und klingende Schellen hat sie warmes Herzblut vergeudet und die trauernde Volksseele, aus deren heiliger Einfalt ihre Blasiertheit sich neu verjüngen sollte, die sie aber verleugnet und verraten hat – schaut sie aus den Augen ihres fernen Sohnes weinend an.

Die Pferde laufen heute so langsam, meint sie – denn einem reuigen Herzen, das gutmachen will, ist kein Tempo schnell genug!

Er wird böse sein, sie wird einen schweren Stand haben, – aber sie wird ihn schon erweichen – sie wird ihren ganzen Zauber aufbieten, sie wird zärtlich und schön sein, schön, wie er sie nie gesehen, denn sie hat sich ihm noch nie in Toilette gezeigt, – er hat ihren weißen Hals noch nie in einem diamanten funkelnden, sammetnen Rahmen gesehen, ihre wundervollen Arme noch nie umrändert von schweren Goldspangen, die er lösen darf. Er müßte ja kein Mensch sein, wenn er sich vor so viel Glanz und Anmut nicht überwunden auf die Kniee würfe und der Herrin die Hände küßte, die ihm das alles bringt und ihre Liebe dazu!

Sie will ihm sagen, daß sie bereut, daß alles wieder ist wie damals, wo sie sich ihm bei den Brautfackeln des Waldbrands verlobt und Walkürenkraft in ihren Adern gefühlt, Walkürentraum geträumt!

Sie tut einen tiefen Atemzug und vergleicht die bleiche Hofdame von heute, die über einen Beweis von Ungnade und ein paar hämische Blicke ohnmächtig wird, mit der Walküre von damals! War es damals nur eine Täuschung, was sie so stark machte? Nein – war auch der Gott, den sie in ihm sah, Täuschung, die Liebe, die ihre Adern mit jener den Elementen trotzenden Kraft schwellte, war göttlich und hat vor jedem Standpunkt der Philosophie, der Aesthetik und der Geburt, nicht nur vor dem der Moral – der ja für sie nicht maßgebend wäre – ein Recht zu bestehen!

Warum also hat sie sich seiner geschämt? Um kleiner Vorurteile, kleiner Eitelkeiten willen: also aus Schwäche!

Nicht Freyer – sie war zu klein für diese große Liebe! – »Aber warte nur, – warte, verstoßener Mann! Heute kommt dein Weib und bringt dir eine Liebe, die deiner würdig ist – noch fühlt sie die Kraft und die Jugendglut in sich, in einer Stunde die Versäumnis von Jahren gutzumachen!«

Sie haucht mit ihrem heißen Atem die gefrorenen Scheiben an und schmilzt einen Durchblick in die Eiskruste. Schon liegt das Schloß vor ihr, die Höhe ist fast erreicht. Da – ein jäher Ruck, – ein Schrei des Kutschers, und der Wagen macht eine schräge Rückwärtsbewegung nach dem Abgrund zu. Schnell besonnen springt die Gräfin auf der andern Seite heraus! »Was ist's?«

»Da, die Pferde, am Herrn Verwalter haben sie gescheut –!« ruft der Kutscher, während Freyer mit eiserner Faust das bäumende Gespann bändigt. Die Gräfin eilt zu ihm hin. Er und der Kutscher haben die zitternden Tiere zum Stehen gebracht.

»Ich bitte um Entschuldigung, Erlaucht,« sagt Freyer, noch atemlos vom Aufhalten der Pferde, »ich trat ahnungslos aus dem Wald, da erschraken sie an der dunklen Gestalt. Ich konnte ihnen zum Glück gleich in die Zügel fallen!«

»Fahr nur leer hinauf, Martin,« befiehlt die Gräfin, »ich gehe mit Herrn Freyer zu Fuß.« Der Kutscher tut, wie ihm geheißen. Sie legt ihren Arm in den Freyers: »Es ist kein Wunder, daß die Pferde an dir scheuten, mein Gatte, so unheimlich siehst du aus! Was tatest du denn mitten in der Nacht im Wald?«

»Was ich immer tue – herumschweifen!«

»Das ist nicht recht, du sollst schlafen.«

»Schlafen?« wiederholt Freyer bitter lachend.

»Joseph, ist das mein Empfang?«

»Verzeih, – aber es kostet mich ein Lachen, wenn du von Schlafen sprichst! Da schau –« er nimmt den Hut ab: »Im Sternenschein kannst du die weißen Haare auf meinem Kopf sehen, die ich bekommen habe, seit du 's letzte Mal hier warst, mir mein Kind fortschicktest, und mich ganz zum Einsiedler machtest. Seitdem ist kein Schlaf mehr in meine Augen gekommen und mein Haar ist ergraut.« –

Die Gräfin sieht entsetzt die Veränderung, die mit ihm vorgegangen. Durch die schwarzen Locken ziehen sich silberne Streifen, die Augen tiefliegend und fieberhaft umherirrend, die ganze Gestalt verfallen, die Brust eingesunken, – ein kranker Mann! Die Gräfin erträgt seinen Anblick nicht, – er ist ihr der furchtbarste Vorwurf, sie blickt zu Boden. »Ich dachte es mir so schön aus, wie ich mich ganz leise – Martin hat ja den Hausschlüssel – hineinschleichen wollte bis an dein Lager und dein schlummerndes Haupt küssen!«

»Ich danke dir für die liebe Absicht. Aber meinst du, ich hätte schlafen können seit jenem Brief von dir, der mir die Nachricht brachte, daß ich betrogen – wieder betrogen bin, daß von allem, was du bei deinem letzten Besuch so heilig versprochen, daß das Gegenteil geschah und du eine Stellung angenommen, die dich noch mehr als früher von Mann und Kind trennt und an die Welt fesselt? Glaubst du, dazu reichen die Tage, um einen solchen Gedanken auszudenken? Nein, da muß man noch die Nacht zu Hilfe nehmen. Das weißt du auch ganz gut und es wäre mir viel lieber, du würdest ehrlich sagen: ›Ich weiß, daß ich dich zu Grunde richte, daß deine Kräfte sich in dem Kummer um mich verzehren, aber ich habe nicht den Willen, es zu ändern!‹ statt zu heucheln, und zu tun, als könntest du dir gar nicht denken, warum ich nicht ruhig schlafen sollte, und dich zu wundern, daß ich die Nacht hindurch im Forst umherirre? – Aber fürchte nichts, ich bin ganz ruhig, – ich mache dir keine Vorwürfe mehr,« – sagt er in milderem Ton, »denn ich habe abgeschlossen mit mir selbst, – mit dir, – abgeschlossen mit dem Leben! – Weine nicht, ich hab' dir versprochen, wenn du den Gatten suchst, sollst du ihn finden, – ich will nicht auch wortbrüchig werden. – Komm, leg dein Köpfchen an meine Brust, – du zitterst, frierst du? Stütz dich auf mich und laß uns besser ausschreiten, daß ich dich ins warme Stübchen bringen kann! Verflogenes Täuble, du, – wie verirrst du dich auf einmal wieder ins einsame Nest des Gatten, in kalter Nacht, in rauher Winterszeit? Was bleibst du nicht im warmen Schlag bei den andern, wo du's gut, wo du alles hast, was du begehrst! Fehlt's doch an was? Sag, was suchst du denn bei mir, nach was sehnt sich denn dein Herzchen? Hm?« Und seine Stimme sinkt wieder zu dem sinnverwirrenden Geflüster herab, welches früher schon alle ihre Pulse klopfen ließ, in süßer unbeschreiblicher Empfindung. – Das große Herz nimmt alle seine Schmerzen und Leiden auf sich und hat aufgehört, mit ihr zu rechten. Die treulose Taube findet das Nest offen, und seine milde Hand streut ihr die Brosamen seines verlorenen Glücks hin, wie der Verhungernde noch den letzten Rest mit dem Aermeren teilt.

Sie kann nicht sprechen, – überwältigt von Rührung lehnt sie sich an ihn und läßt sich den steilen Anstieg mehr tragen als führen. – Aber sie kann es nicht erwarten, noch im Gehen suchen ihre Lippen die seinen, ihre kleinen Hände fassen unter den eisstarrenden Hüllen die seinen und ein leises, von Bewegung zitterndes » Das fehlt mir!« – antwortet auf die süße Frage. Droben blitzen tausendfältig die Sterne herab – es freut sich die ganze verschwiegene, glitzernde, eisknirschende Winternacht!

Endlich ist das Schloß erreicht und das »warme« Zimmer nimmt sie auf. Es verdient zwar diesen Namen nicht so recht, denn das Feuer im Ofen ist längst ausgegangen, aber die beiden fühlen es nicht – sie wärmt die innere Glut.

»Du mußt nun freilich vorlieb nehmen, – wie ich dir's eben bieten kann, denn du weißt, ich bin ganz allein.«

» Ganz allein! –« wiederholt sie mit einem seligen Lächeln, das er beim Sternenschimmer, der zum Fenster hereinleuchtet, sehen kann. Noch ein Kuß – – eine lange stumme Umarmung.

»Jetzt laß mich aber Licht anzünden, daß ich dir den Mantel abnehmen und dir's bequem machen kann! Oder willst du heute nacht so zwischen Tür und Angel stehen bleiben?« Er ist so entzückend in seinem wehmütigen Scherzen, seinem schmerzlichen Glück!

»O, so warst du lange nicht!« stammelt sie mit hochaufatmender Brust: »Welt, jetzt lach' ich deiner!« jubelt es in ihr, denn die alte Liebe, der alte Zauber ist wieder da. Und wie er ihr wieder in seiner milden Größe und Schöne erscheint, so will auch sie sich ihm ebenbürtig, begehrenswert zeigen und sich ihm enthüllen, blendend – in ihrer ganzen Schönheit! Und während er sich abwendet, das Licht anzuzünden, läßt sie den schweren Mantel fallen und steht da in ihrer ganzen Pracht, die weichen Formen der klassischen Büste umsäumt von einem dunklen Sammetmieder, auf das sich alle Sterne des glitzernden Firmaments da draußen herabgelassen und angeheftet zu haben scheinen, um einen Augenblick an dieser Brust zu ruhen! –

Freyer dreht sich mit dem Licht in der Hand um – ein Aufblitzen, – ein leiser Schrei von seinen Lippen! Lächelnd erwartet sie einen Ausbruch des Entzückens – aber er rührt sich nicht. Wie wenn er ein Gespenst sähe, betrachtet er sie und immer finsterer wird der Blick, der sich in Millionen Strahlen der brillantengeschmückten Erscheinung baden sollte, immer starrer wird seine Haltung – eine dunkle Röte steigt in dem bleichen Gesicht auf. – »Und das soll mein Weib sein?« ringt sich's mühsam, tonlos von seinen Lippen: »Nein – das ist sie nicht!«

Sie versteht ihn nicht, sie meint, der fürstliche Anzug imponiere ihm so, daß er sich ihr nicht zu nahen wage, und sie müsse ihm durch doppelte Hingebung zeigen, daß er nicht zu gering sei für dies stolze Weib. »Es ist dein Weib, gewiß, es ist's und all dieser Prunk verhüllt ein Herz, das dein, nur dein ist!« ruft sie und wirft sich ihm an die Brust, ihn mit den weißen Armen umschlingend.

Aber mit einer heftigen Bewegung reißt et sich von ihr los und tritt einen Schritt zurück: »Nein – nein, – ich kann nicht, ich mag dich so nicht berühren!«

»Freyer,« – ruft die Gräfin entsetzt und starrt ihn an, als suche sie die Spuren des Wahnsinns in seinen Zügen: »Was soll das heißen?«

»Bist du – in Gesellschaft gewesen – in diesem Anzug?« fragt er leise, als schäme er sich für sie.

»Ja! Und habe mir vor Ungeduld, zu dir zu eilen, nicht mehr die Zeit genommen, mich umzukleiden! Ich dachte, du würdest dich freuen, mich einmal schön angetan zu sehen!«

Freyer schlägt wieder das bittere Lachen auf, das sie stets an ihm erschreckt. »Freuen soll ich mich, wenn ich sehe, daß du dich andern so zeigst –!«

»Wie denn?« fragt sie, ihn immer noch nicht verstehend.

»So nackt!« bricht er aus, sich nicht mehr beherrschend: »So entblößest du dich vor den Blicken der Herren? Und das will mein Weib sein, – ein Geschöpf so bar aller Scham?!«

»Freyer!« schreit die Gräfin auf und hält sich taumelnd die Stirn, als habe sie einen Schlag auf den Kopf bekommen: » Mir das – heute –!«

»Heute oder morgen! An jedem Tag, wo du meine Heiligtümer, die ich mit zitternder Ehrfurcht vor der Hoheit deiner Frauenschöne kaum mit dem Blick zu streifen gewagt, der Schaulust einer Menge von Menschen preisgibst, die mit demselben Vergnügen die zweideutigen Buden eines Jahrmarkts betrachten – an jedem Tage, wo du diese Brust, die das Herz birgt, das mein sein soll, zum Tummelplatz lüsterner Blicke machst, an jedem solchen Tage bist du nicht wert, daß ein ehrlicher Mann dich berührt!«

Ein dumpfer Schrei der Empörung antwortet ihm, dann ist alles eine Weile still. Endlich ringt es sich von den Lippen der Gräfin: »Das ist das Letzte!«

Freyer sucht sich zu mäßigen. Er lehnt die heiße Stirn an die beeisten Fensterscheiben mit ihrem buntflimmernden Gewirr von Krystallblumen und Sternenschimmer. Drüber herein schaut in ewiger Klarheit das gestirnte Firmament auf den armen kleinen Erdenbewohner nieder, der in seiner kindlichen Weise dem keuschen Gott opfert, dessen kalte Heimat es ist.

»So oft ich komme – ist etwas anderes, womit du mich quälst, – so tief aber wie heute hast du mich noch nie beleidigt – beschimpft!« spricht die Gräfin leise und langsam, jedes Wort erwägend. Eine furchtbare Ruhe und Kälte ist über sie gekommen.

»Ich begreife, daß es dir befremdlich sein mag, eine dekolletierte Dame zu sehen, – du hast dich ja nie in einer Welt bewegt, wo dies selbstverständlich ist und niemand etwas dabei denkt: Dem Reinen ist alles rein, und wer es nicht ist, der steht doch bei uns unter dem Gesetz der Beherrschung und des Anstands unserer Kreise! Eure Bauernmädchen freilich müssen sich verhüllen bis an den Hals, denn was und wer würde sie schützen vor den frechen Witzen und Zudringlichkeiten der Dorfburschen?!«

Freyer zuckt zusammen, er hat den Hieb empfunden.

»Daß man,« fährt sie fort, »als Festschmuck außer der Gewänderpracht auch noch einen Teil der natürlichen Schönheit, des gotterschaffenen Menschenleibes zeigt, ist ein Tribut, den auch die reinste und keuscheste Frau dem Auge gewähren darf, und nimmer ist das schamlos oder unanständig, was in den Grenzen künstlerischer Anschauung bleibt. Wehe dem, der diese Grenzen verläßt und Uebles dabei denkt, – er streicht sich selbst aus der Reihe der Gebildeten. So viel und nicht mehr warst du mir noch wert, dir zu meiner Rechtfertigung zu sagen!«

Sie wendet sich und nimmt den Mantel wieder auf, sich darein zu hüllen: »Willst du so freundlich sein und wieder anspannen lassen?«

»Du willst fort?« fragt Freyer, der indessen zur Besinnung gekommen.

»Ja.«

»Gott, Gott, was hab' ich getan!« sagt Freyer händeringend. »Ich habe dich nicht einmal sitzen heißen, dich nicht ausruhen lassen, beleidigt und gekränkt, o ich bin ein wilder, ein unseliger Mensch!«

»Du bist, wie du sein kannst!« sagt sie mit jener schneidenden Kälte, in die bei einem stolzen Weibe verschmähte Glut sich umsetzt.

»Wie eben ein ungebildeter Mensch sein kann! Nicht wahr? Das ist es, was du sagen willst!« ergänzt Freyer. »Aber sieh, darin liegt meine Entschuldigung. Ja, ich bin ein Mensch vom Lande, gewohnt, meine Früchte im Morgentau vom Baum zu brechen, ehe noch eine Hand sie berührt hat, oder mir im taufrischen Waldesdickicht aus dornigem Gestrüpp die versteckten Beeren zu pflücken, wo sie noch kein Auge erblickt; – ich kann es nicht verstehen, wie die Leute Früchte genießen mögen, die stundenlang unbedeckt im Staub des Marktes ausgestellt waren. Der Duft ist weg – die Frische, der Schmelz ist verloren, und wenn mir solch ein vielbewundertes und begehrtes Schaustück geschenkt würde – und wäre es noch so kostbar, ich möchte es nicht, – die mühsam gesuchte wilde Beere draußen im Wald, die mich aus dem Blätterdunkel mit dem funkelnden Tautropfen anlacht, freut mich mehr – tausendmal mehr! – Dies soll kein Vergleich sein, nur ein Beispiel, wie man wird, wenn man auf dem Lande lebt!«

»Und wenn du denkst, daß die so viel begehrte Frucht, um dein Beispiel weiter zu führen, nur für dich aufbewahrt worden, – freut es dich nicht, zu besitzen, was andere vergebens ersehnten?«

»Nein,« sagt er einfach, »dazu bin ich nicht neidisch genug, um andern etwas wegzunehmen, wonach es sie gelüstet; – teilen aber mag ich nicht – und so verzichte ich lieber!«

»Nun denn – darauf habe ich nichts mehr zu sagen – brechen wir das Gespräch ab!«

Beide schweigen lang wie erschöpft von einer großen Anstrengung.

»Wie steht es mit unserem – mit dem Kinde. Hast du heute Nachricht von Josepha?« fragt endlich die Gräfin.

»Ja, aber leider keine gute!«

»Wie immer!« erwidert die Gräfin schroff, »es ist ihr Prinzip, uns zu ängstigen. Solche Personen benutzen jede Gelegenheit, uns ihre Macht fühlen zu lassen. Ich kenne das.«

»Das glaube ich nicht. Ich muß da meine Verwandte in Schutz nehmen. Sie war immer rechtlich, wenn auch derb und heftig!« sagt Freyer. »Ich fürchte, sie schreibt die Wahrheit, und der Knabe ist wirklich schlechter!«

»Reise doch hin, wenn es dich ängstigt, und berichte mir, wie du es gefunden hast?« –

»Ich reise nicht auf deine Kosten, – außer im Dienst, und meine eigenen Mittel reichen dazu nicht!« erwidert Freyer kalt und streng.

»Gut, das ist im Dienst! Also – gehorche und gehe auf meine Kosten!«

Freyer sieht sie lang an: »Als Verwalter?'« fragt er in eigentümlichem Ton.

»Ich möchte einen wahrheitsgetreuen Bericht haben, – nicht tendenziös, wie es Josephas Gewohnheit,« sagt sie ablenkend: »Auf den Gütern ist ja jetzt nichts zu tun, – ich bitte den ›Verwalter‹, auch hierin meine Interessen zu vertreten. Denn wenn du das Kind wirklich schlimmer findest, so nehme ich Urlaub und reise hin!«

»Gut, ich tue, wie du befiehlst!«

»Aber nun laß anspannen, es wird sonst Morgen, bis ich heimkomme.«

»Ist es nicht für dich zu anstrengend, in derselben Nacht zurückzufahren? Soll ich nicht die Hausdirne wecken, daß sie dir dein Zimmer richtet und dich bedient!«

»Nein, ich danke!«

»Wie du willst.« sagt er ruhig und geht, den Wagen, der kaum ausgespannt, wieder anspannen zu lassen. Der Kutscher macht Schwierigkeiten wegen der Pferde, die nicht geruht hätten. Freyer bedeutet ihm aber, daß es gegen den Willen der Gräfin keine Widerrede gebe.

Die halbe Stunde, die der Kutscher noch unbedingt verlangt, bringt jedes von den Gatten auf seinem Zimmer zu. Freyer richtet auf seinem Bureau einen Faszikel von Berichten über Verwaltungssachen, Rechnungen und Abschlüsse zusammen, um ihn der Gräfin zur Durchsicht mitzugeben. Er arbeitet so ruhig, als sei alles still und erstorben in ihm. – Die Gräfin sitzt in dem schlecht beleuchteten, unbehaglichen Wohnzimmer allein und starrt auf die Stelle hin, wo damals das Bett des Knaben stand. Ihr Blut kocht vor Beschämung und Empörung und dabei ist ihr der Anblick der leeren Wand, wo der Knabe ihr nicht mehr aus seinem Bettchen die Arme entgegenstreckt, so seltsam traurig – als ob er gestorben wäre und man habe ihn schon hinausgetragen! Eine Empfindung von Schmerz ist in ihr, zu bitter, um sich durch Tränen erleichtern zu können. Auch die Tränen erstarren in einem solchen Augenblick. Sie möchte den Namen ihres Kindes laut schluchzend hinausrufen, aber es ist, als stünde ein Etwas neben ihr, das ihr mit eiserner Faust den Mund zuhielte und das Herz zusammenkrampfte, die Rache des schwer beleidigten Weibes! Dann wieder meint sie, das Kind zu sehen, wie es in einem weißen Hemdchen barfuß auf sie zuschwebt. In diesem Augenblick springt eine Tür auf, ein Luftzug rauscht durchs Zimmer, daß sie heftig zusammenschrickt – und zugleich fällt ein Stern vom Himmel, so senkrecht und nahe, als müsse er die Scheiben durchschlagen und der Gräfin an die Brust fliegen, zu seinen diamantnen, funkelnden Genossen.

Was war das? Ein Windstoß so jäh, daß er durch den geschlossenen Raum fährt, Türen aufreißt und Sterne vom Himmel herabzuschleudern scheint? Draußen aber ist alles ruhig, nur im Getäfel und Gebälk des Zimmers knistert es leise, – das Volk würde sagen: »Es hat sich was angemeldet!« Die erregte Frau denkt es mit heimlichem Grauen. War es das Sausen der ablaufenden Spule, von der eine Parze den Lebensfaden geschnitten? Wenn es der Lebensfaden ihres Kindes gewesen wäre, – wenn in dieser Stunde, – ihr Blut gerinnt zu Eis! Sie möchte aufschreien vor Angst und doch, wieder ist es der finstere Genius der Rache, der ihr Mund und Herz verschließt. Wenn es wäre – in Gottes Namen! Dann wäre auch das letzte Band zwischen ihr und Freyer zerrissen! Was will sie noch mit einem Kinde von diesem Mann? Nichts hat ein Recht zu bestehen, was sie an ihn fesselt, – ist das Kind nicht mehr, dann ist sie frei, dann ist nichts Gemeinsames mehr zwischen ihnen! Er hat heute ihr Herz gemordet – und sie mordet die letzte Empfindung, die noch darin lebt, die Liebe für ihr Kind! Es soll alles aus sein zwischen ihnen, weggetilgt von der Erde, – nie bestanden haben, auch das Kind nicht! Gott mag es nehmen! –

In jedem leidenschaftlichen, verschmähten Weibe rührt sich ein Stück Medea, deren Rachestahl den Gatten, den er nicht erreichen kann, im Herzen der Kinder trifft, gleichviel, ob ihr eigenes mit durchbohrt wird oder nicht! Denn weit größer als die Selbstverleugnung der Liebe ist die Selbstverleugnung des Hasses, diese geht bis zur Selbstvernichtung! Sie fürchtet keinen Schmerz, sie schont nicht sich, noch das eigene Fleisch und Blut, sie mordet ihr Liebstes und sich selbst, um dem andern wehe zu tun, – und wär's auch nur im Gedanken, wie hier bei dem modernen Kulturwesen, wo sich alles, was einst zur Gewalttat wurde, auf geistigem Gebiet vollzieht. –

Es ist eine fürchterliche Stunde! Aus jeder Ecke des Zimmers, wo immer sie hinblickt, leuchten ihr die zwei großen Augen des Knaben aus dem Dunkel entgegen und flehen: »Vergib dem Vater und stoß mich nicht aus deinem Herzen!« Aber umsonst, die Erbitterung ist zu groß, ihr Herz ist in diesem Augenblick nicht fähig, irgend etwas anderes zu fühlen. Es ist alles gekommen, wie es mußte: Sie hat sich in eine fremde, in eine untergeordnete Sphäre begeben und die eigene verlassen und mißachtet, dafür stößt die Gesellschaft, in die sie gehört, sie jetzt aus und in der selbsterwählten Sphäre erntet sie Undank und Mißkennung! –

Nun muß sie zu spät erkennen, was es heißt, an einen ungebildeten Menschen gefesselt zu sein fürs ganze Leben! Das Edle hat sie aufgegeben und das Gemeine erwählt! – »Gott, gerecht Strafender!« grollt es in ihr, »alle die Wohltaten der Bildung, mit denen ich umgeben war, – ich habe sie in kindischem Trotz verachtet, um mir aus Lehm ein selbstgeschaffenes Idol zu bilden, das, von meinem glühenden Hauch belebt, mir ins Gesicht schlägt und zu seinem ursprünglichen Element zurückkehrt!– Mich selbst weggeworfen an einen Mann, dem jede Bauerndirne lieber gewesen wäre als ich! – Warum, – warum o Gott, hast du mich mit deiner trügerischen Maske herabgelockt in den Schmutz? Fühlst du dich wohl in der Niedrigkeit? Ich kann mich dir dort nicht mehr gesellen! Das kann nie meine Religion werden, die mit des Menschen höchsten Gütern, Kultur und Wissenschaft, auf so schlechtem Fuß steht. Ist das göttlich, ein Herz unter der Christusmaske zu stehlen, und dann wie zum Hohne die Betrogene im Stich zu lassen, wenn sie in der scheinheiligen Schlinge gefangen und an einen beschränkten, brutalen Menschen gebunden ist? Ist das göttlich? Nein, das ist teuflisch! Schaut mich nicht so bittend an, ihr schönen Kinderaugen, auch euch glaub' ich nicht mehr! Es ist bis jetzt alles Lüge gewesen, was mich an deinen Vater gefesselt, auch du bist eine verkörperte Lüge und wirst nicht bestehen! – Es ist nicht wahr, daß die Gräfin Wildenau ihr edles Blut mit dem Blut eines gemeinen Mannes vermischt habe, daß sie einen Bastard geboren, ein unglückliches Wesen, das in keiner Sphäre heimisch werden könnte, als durch Betrug! Nein, nein, so weit kann ich mich nicht vergessen haben – es ist alles nur ein Traum – eine Passionsphantasie, und wenn ich erwache, dann ist es am Morgen jenes Augusttages in Ammergau nach dem Passionsspiel. Dann bin ich frei, kann mich mit einem edlen, ebenbürtigen Manne vermählen und ihm den legitimen Erben zur Welt bringen, dem ich, ohne zu erröten, Mutter sein darf!«

Was ist das? Täuscht sie ihr Ohr? Der Hufschlag eines Pferdes, das in Windeseile den Berg heraufstürmt! Sie eilt ans Fenster. Die Uhr schlägt Zwei. Wirklich! eine Gestalt wie der wilde Jäger fliegt schattenhaft durch die Nacht daher, auf das Schloß zu. Jetzt biegt er um die letzte Kurve und gewinnt die Anhöhe, und nun sieht sie es deutlich, es ist ihr Kurier. Was wird er bringen, – was ist geschehen – in später Nacht?

Ist denn der schwere Traum immer noch nicht aus?

Welch neuer Schlag wird sie treffen?

»Was du gewünscht – nichts anderes!« sagt der Dämon ihres Lebens.

Der Kurier hält auf schweißbedecktem Pferd vor der Rampe. Die Gräfin will ihm entgegeneilen, aber sie kann nicht vom Fleck. Sie hält sich schaudernd am Fensterkreuz, das seinen langen schwarzen Schatten hinauswirft. –

Freyer hat die Haustür geöffnet, die Gräfin hört, wie der Reiter sagt: »Frau Gräfin hier?«

»Ja!« antwortet Freyer.

»Ich habe ein Telegramm, das unterschrieben werden muß, mit bezahlter Rückantwort!«

Freyer nimmt ihm das Couvert ab: »Führen Sie Ihr Pferd in den Stall, ich besorge alles!«

Er geht ins Haus, er nähert sich der Tür, durch die das letzte Mal der Kleine seiner Mutter zu Hilfe gekommen, um sie gegen Josepha in Schutz zu nehmen. Der Gräfin ist, als müsse er wieder das Köpfchen hereinstrecken! Aber es ist nur Freyer mit der Depesche. Er hat auch zugleich Tinte und Feder zum Unterschreiben mitgebracht. Die Gräfin setzt mechanisch zuerst ihren Namen auf die Empfangsbescheinigung, als fürchte sie, es später nicht mehr tun zu können, nachdem sie gelesen! – Dann löst sie das Couvert mit zitternder Hand, das Telegramm enthält nichts als die Worte:

»Unser Engel soeben gestorben, den Namen der Mutter auf den Lippen. Bitte um Bescheid wegen Begräbnis.

Josepha.«

Ein Schrei ist durch das Zimmer gedröhnt, wie wenn eine Saite springt, – dann ist alles totenstill. Die Gräfin liegt auf den Knieen, Gesicht und Hände mit dem Telegramm auf den Tisch gestützt, hingebrochen vor dem Gott, dessen Macht sie jetzt zum erstenmal in ihrem Leben empfindet, den sie noch vor wenig Minuten gelästert und herausgefordert, – er hat sie beim Wort genommen und das Wort hat sie gerichtet. – Das Kind, das treue Kind, das mit ihrem Namen auf den Lippen starb, sie konnte noch vor wenig Minuten wünschen, daß Gott es aus der Welt nehme, – sie konnte es verraten um eines stolzen legitimen Bruders willen, der nicht existiert und nicht existieren dürfte! Sie konnte an seinen Tod denken, als etwas Notwendiges, als ihr Befreiungsmittel? Nun hat das Kind sie befreit. Zart und bescheiden, wie es war, hat es die Last seines armen kleinen Daseins, das ihr zu viel war, von ihr genommen und ist der Erde entschwunden, auf der es keine Stätte fand, – aber sein letztes Wort war der Name aller Liebe, der Name »Mutter!« Es hat nicht gefragt, »hast du für mich getan, was einer Mutter Pflicht ist?« – es fragte nicht, »hast du mich auch geliebt?« Es hat die Mutter geliebt mit jener süßen Kindesliebe, die nichts fordert – die nur gibt! –

Und sie, die geizige Mutter, sie hat gespart mit ihrer Liebe – bis das Kind verschmachtet ist – und hat es sterben lassen und ist nicht gekommen und hat ihm nicht die letzte Freude gegönnt, den letzten Kuß auf den kleinen Mund gedrückt, dem letzten Blick der suchenden Augen das Mutterantlitz gezeigt! –

Und laut auf schreit jetzt die beleidigte lang verleugnete Natur, wie das Tier nach dem toten Jungen! Aber das Tier hat doch wenigstens seine Schuldigkeit getan, hat sein Junges gesäugt und es gewärmt und bedeckt mit seinem Leib, solang es konnte. Sie aber, das höher organisierte Wesen, – denn solcher Unnatur fähig ist nur der Mensch, – sie hat ihr Kind sogenannten höheren Interessen geopfert, – sie hat Josephas Warnung nicht beachtet, ihr eigenes Herz nicht gehört. Jetzt kommt das Mitleid mit dem toten Kinde, jetzt möchte sie es in die Arme nehmen, noch einmal mit allen Namen der Liebe rufen, noch einmal das müde Köpfchen an ihrer Brust betten –! Zu spät, es ist dahingegangen wie ein lächelnder guter Genius, den sie von sich gewiesen – und nun ist sie allein und frei – aber frei, wie es der ist, der in den Abgrund stürzt, weil das Seil riß, das ihn an den Führer band! Sie hat ein Kind gehabt und hat es nicht gewußt, solang es lebte, jetzt im Tode weiß sie's. – Die Mutter freude konnte sie's nicht lehren, denn sie hat sie nie gekannt, – der Mutter schmerz lehrt sie's – und sie muß ihn auskosten bis auf die Neige! Wie sie sich auch windet und krümmt in ihrer Qual und ihre zarten Nägel in den Teppich des Fußbodens gräbt, als wolle sie das Kind aus der Erde scharren, da gibt es keinen Trost, und verzweifelnd läßt sie das Haupt sinken: »Mein Kind – du gehst und lässest mich zurück mit der nie zu tilgenden Schuld!«

»Im Himmel darfst du meine Mutter sein!« hat er einst gesagt. Auch das ist verscherzt, nicht im Himmel noch auf Erden hat sie ein Mutterrecht, denn sie hat ihr Kind nicht nur vor der Welt, sie hat es auch in dieser Stunde vor sich selbst verleugnet! –

Anders trägt Freyer die Schickung. – Für ihn ist sie keine Strafe, sondern eine Prüfung, die unabwendbare Folge unverschuldeter, unseliger Verhältnisse! Er kann sich keinen Vorwurf machen und er macht ihn auch niemand anderem. Er ist kein Neuling im Leiden, und hat einen mächtigen Trost, den sie entbehrt: die Erkenntnis der Göttlichkeit des Schmerzes, – die macht ihn stark und ruhig! – Freyer lehnt am Fenster und blickt hinauf zu den Sternen, die da oben so friedlich ihre Bahn ziehen. »Du warst mir fern, da du im fremden Lande lebtest, mein Kind, – jetzt bist du mir nah! – Mein armes Bübchen! Diese kalte Erde hatte keine Heimat für dich! Aber deinem Vater lebst du doch und dein verklärter Geist wird mir den Pfad erhellen, – den dunkeln, den ich noch wandeln muß!« – Still rinnen ihm die Tränen über die Wangen, – seinen großen heiligen Schmerz soll kein irdischer Klagelaut entweihen. – Schweigend mit gefalteten Händen kämpft er ihn hinunter, und wie einst am Kreuz spricht sein Auge mit jenen Mächten, die dem geduldig Leidenden in der Stunde des Kampfes nahe sind. – Und wie kleinlich und unerfahren er in dieser Welt ist, so groß, so überlegen ist er in der Erkenntnis der Dinge einer anderen Welt. –

»Komm, steh auf!« sagt er milde zu der fassungslosen Frau und bückt sich, sie aufzuheben. Sie folgt ihm willenlos, aber es ist nicht anders, als wenn zwei Unbekannte sich im Augenblick eines gemeinsamen Unglücks Hilfe leisten. Das Band zwischen ihnen ist heute zerrissen und der Tod des Kindes legt ein Grab zwischen sie.

»Ich fürchte, man hört dein Schluchzen bis hinunter. Willst du nicht mit mir beten?« mahnt Freyer. »Wir mögen machen, was wir wollen, wir sind in Gottes Hand und müssen es hinnehmen, wie er es schickt! Ich wollte, du könntest es fühlen, wie die Heiligen einer stillleidenden Seele beistehen. Durch Geschrei und ungebärdiges Jammern vertreiben wir sie! Gott straft uns nicht, um uns ungeduldig, sondern um uns geduldig zu machen.« Und er faltet die Hände: »Komm, laß uns beten für unser Kind!« Er betet mit leiser Stimme die üblichen, altgewohnten Sterbegebete, denn nicht immer steht dem Menschen der Ausdruck für seine Gefühle zu Gebot. So ein alter mechanisch gewordener Text kommt uns oft gerade da zu statten, wo der Aufruhr im Innern uns kein Wort mehr finden läßt, und gern rankt sich der im Sturm der Gefühle hin und her gepeitschte Gedanke um eine hergebrachte Formel, an der er sich sammelt und der er neues Leben gibt.

Die Gräfin versteht das nicht. Sie stößt sich an dem einfältigen Wortlaut, der ihr nicht durch Gewohnheit und Pietät geheiligt – sie blickt verächtlich auf einen Standpunkt herab, der für einen solchen Schmerz im Herplappern von »Albernheiten« Trost findet! – Freyer hat geendet. Er hält noch einen Augenblick die Hände auf der Brust gefaltet, dann taucht er den Finger in das Weihwasserkesselchen neben der verlassenen Lagerstätte des Kindes und macht das Kreuz über sich und die teilnahmlos in sich versunkene Frau. Sie läßt es geschehen, aber es durchzuckt sie, als habe er ihr mit einem Messer das Gesicht zerschnitten und ihre Schönheit zerstört. Es erinnert sie an jene Stunde in Ammergau, wo er ihr zum erstenmal das Zeichen des Kreuzes gemacht! Damals fühlte sie sich mit diesem Zeichen eingereiht in ein geheimnisvolles Leidensheer und dort hat auch ihr Unglück Begonnen.

»Wir müssen nun Besprechen, wo wir das Kind Begraben lassen,« sagt Freyer: »ich meine, wir lassen es hierher bringen, damit wir doch zu unseres Engels Grab können!«

»Wie du willst!« sagt sie erschöpft und trocknet die Tränen. »Am Besten, du reisest hin und Besorgst alles selbst. Dann kannst du die – Leiche mitbringen!« Und bei diesem Wort verläßt sie wieder die Fassung. Sie sieht das Kind im Sarge ausgestreckt und Josepha, die treue Dienerin, die es gepflegt, dabei, und eine namenlose Eifersucht befällt sie nachträglich auf die, welcher sie gleichgültig alle ihre Rechte abgetreten. Das Kind, das immer liebebereite – jetzt liegt es da – kalt und starr und sie gäbe ihr Leben darum, wenn es noch einmal aufstehen, seine Sternchen um ihren Hals schlingen und »Du liebe Mutter« sagen möchte! »Perle des Himmels – – ich habe dich weggeworfen für elenden Tand, und nun, da die Engel dich wieder geholt, erkenne ich deinen Wert.« Und sie reißt sich die Brillanten von der Brust: »Da, da nimm sie mit, die gleißenden Steine meines eiteln Lebens, und lege sie ihm in den Sarg – ich will sie nicht mehr sehen – ihr Strahl soll erlöschen in dem Grabe meines Kindes.«

»Das Opfer kommt zu spät!« sagt Freyer und weist die Steine zurück. Er will nicht hart sein, aber er kann auch nicht unwahr sein. – Was ist eine Handvoll Diamanten, hingeworfen in einem Augenblick der Ekstase, für die Gräfin Wildenau? Will sie sich damit loskaufen von der furchtbaren Schuld an dem toten Kinde? Die Abschlagszahlung nimmt das zerrissene Herz des Vaters nicht an! Ober soll sie das Symbol eines größeren Opfers – eines Opfers ihres bisherigen Lebens sein? Dann kommt sie zu spät, zu spät für den Toten wie für den Lebenden; jenen nützt es nichts und dieser glaubt nicht mehr daran!

Sie hat ihn verstanden und die furchtbare Anklage, die er, ohne es zu wollen, gegen sie ausstieß! – Sie steht vor ihm wie vor ihrem Richter, sie fühlt, daß Gott in dem Augenblick mit ihm ist, – sie aber ist verlassen, ihr Engel ist von ihr gewichen, kein Erbarmen ist mehr für sie, im Himmel und auf Erden – außer bei einem! Aus dem Dunkel ihres Elends leuchtet ihr der Gedanke auf. Nur einer ist, der kühlenden Balsam in ihre Wunden träufeln wird, einer, der Nachsicht und Liebe genug hat, die Gebeugte aufzurichten, die Schuldige freizusprechen – der edle, großdenkende Freund, der Prinz! Zu ihm will sie flüchten, bei ihm, dem Freundlichen, sich bergen vor dem düsteren Geist, der sie verfolgt, seit sie in jenem unseligen Ammergau den grausamen Gott beschworen, der so Unmögliches verlangt und so furchtbar straft!

»Ich bitte dich, laß den Wagen vorfahren – ich muß fort von hier, sonst erliege ich!«

Freyer sieht auf die Uhr: »Die halbe Stunde, die Martin sich ausbedungen, ist um, er muß gleich da sein.«

»Eine halbe Stunde ist es erst? Gott, Gott – ist's möglich – so viel Elend in einer halben Stunde! Mich dünkt es eine Ewigkeit, seit die Nachricht kam!«

»Wir können in einem Augenblick mehr Schmerz empfinden als in Jahrzehnten Freude!« sagt Freyer. »Das kommt wohl daher, weil jedem von der gerechten Vorsehung Freude und Schmerz zu gleichen Teilen zugemessen ist, – der Schmerz aber – in diesem kurzen Dasein durchlebt werden soll, während wir für die Freude eine Ewigkeit haben. Weh dem, der es! umgekehrt macht, der den Schmerz für die Ewigkeit aufspart und die Freude schon diesseits verbraucht. Er hat wie die törichten Jungfrauen das Oel verbrannt, bevor der Bräutigam kommt!«

Die Gräfin nickt leise. Sie begreift den tiefen Ernst in Freyers Worten.

»Aber wen Gott liebt, den züchtigt er, sagt man bei uns im Volke,« spricht er weiter, »und das deute ich mir so. daß er die, welche er retten will, zwingt, hienieden ihr Teil zu leiden, damit ihnen die Freude für das Jenseits bleibt! Solchen Begnadigten sendet er einen Engel mit dem Wermutsbecher, und wohin auch die arme Seele flieht und sich versteckt, – er findet sie doch. Immer näher und enger umkreist er sie mit seinen dunkeln Flügeln, bis sie ermattet niedersinkt und vor Durst wie der Heiland am Kreuz – den bitteren Trank, den er ihr an die Lippen hält, trinkt, als wäre es das köstlichste Labsal!«

Die Gräfin blickt mit scheuer Bewunderung zu Freyer auf. Ihr ist, als wäre er selbst der düstere Bote, von dem er spricht, als höre sie seiner Flügel Rauschen, rote er die tödlichen Kreise eng und enger um sie zieht, bis kein Entrinnen mehr. Und wie ein umzingeltes Wild ergreift sie die Flucht – Rettung suchend um jeden Preis. »Gott sei gelobt, der Wagen!« Martin fährt vor. Ein kaltes »Lebewohl, ich wünsche dir Trost und Kraft für die traurige Fahrt!« flüstert sie dem Vater noch zu, der hinreisen soll, sein totes Kind zu holen – dann steigt sie in den Wagen.

Freyer zieht die Pelzdecke um die zarte Gestalt und hüllt sie sorgfältig ein, aber kein Wort kommt mehr über seine Lippen. Was er nachher mit seinem Gott spricht, – wenn er in das verödete Haus zurückkehrt, – das wird die Gräfin Wildenau einst zu verantworten haben!


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