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Neunundzwanzigstes Kapitel. Im verödeten Haus

Die Nacht ist vorüber, der Tag scheint durch die verschlossenen Gardinen herein, – die Gräfin Wildenau sitzt noch an derselben Stelle, wie in der Stunde, da Freyer sie verließ. Ja, »still und geräuschlos wie ein Schatten« ist er dahingegangen – vielleicht aus ihrem Leben entschwunden, – wie er es gesagt! Sie weiß es nicht, was sie empfindet, sie möchte die Erstarrung durch Tränen lösen, aber sie darf ja nicht weinen, – warum sollte sie auch? Es ging ja alles nach Wunsch. Freilich, sie war scharf gewesen, zu scharf und hart, und Worte waren gefallen von beiden Seiten, die keins dem andern mehr verzeihen kann! Aber daß es nicht ohne Sturm verliefe, war ja vorauszusehen – warum schnürt es ihr die Brust zusammen, als wäre jetzt erst ein Unglück geschehen, und zwar das größte – größer als alles, was ihr geschehen konnte?! Nein – Tränen! Was sollte denn der Herzog denken? Das wäre ja ein Unrecht an ihm. Und es ist auch gar nicht wahr, daß sie noch etwas empfindet; sie empfindet überhaupt nichts mehr, – weder für den Entschwundenen noch für den Herzog! Die Ehre allein – die Ehre ist das einzige, was noch gerettet werden muß! Aber, – daß er so plötzlich verstummte, als sie ihm von der Verlobung mit dem Herzog sprach – daß er so dahinging, ohne Abschied – ohne ein Wort! Er verachtet sie – sie war es ihm nicht mehr wert. – Das war's, was ihn auf einmal so ruhig machte. Eine vernichtende Größe und Würde lag in dieser Ruhe nach den Ausbrüchen wilder Verzweiflung. In diesen war ein Kampf – in jener – ein Sieg, – und sie ist die Besiegte, ihr bleibt die Beschämung, die Gewissensangst und ein seltsames, unerklärliches Weh –!

So sitzt sie und sinnt die ganze Nacht, und immer ist ihr's, als sähe sie, was sie doch nicht gesehen, den letzten Blick, den er auf sie gerichtet, und dann – wie er still durchs Zimmer schritt, das muß sie denken fort und fort! Es ist, als wäre die Zeit stehen geblieben in jener Minute und sie müsse nun die ganze Nacht hindurch nichts als den einen Augenblick erleben! – –

Da klopft es leise an die Tür, die Kammerfrau tritt herein mit verwachtem Gesicht. »Ich wollte nur fragen,« sagt sie hinfällig und müde, »ob ich mich noch etwas zu Bett legen darf. Ich habe die ganze Nacht gewartet, daß Erlaucht klingeln würden –«

»Mein Gott, haben Sie auf mich gewartet?« sagt die Gräfin, sich mühsam und steif vom Sofa erhebend. »Ich wußte gar nicht, daß es schon so spät sei! Was ist denn die Uhr?«

»Bald sechs Uhr früh. – Aber um Gottes willen, Erlaucht sind ja ganz erstarrt und bleich! Gestatten Erlaucht nicht, daß ich Sie zu Bett bringe?«

»Ja, gute Nannie, führen Sie mich in mein Schlafzimmer, ich kann gar nicht recht gehen, die Füße sind mir wie abgestorben.«

»Da müssen Erlaucht sich gleich legen und zu erwärmen suchen. Erlaucht sind ja eiskalt!«

Und die Zofe führt, aufrichtig erschrocken über die Hilflosigkeit der sonst so stolzen Gebieterin, die gebrochene Gestalt in ihr Schlafgemach.

Willenlos läßt sich die Gräfin entkleiden. Sie sitzt wie gelähmt auf dem Bettrand und wartet, bis ihr die Kammerfrau die kleinen, marmorweißen, leblosen Füße hineinhebt.

»O, ich danke Ihnen,« sagt sie in einem so weichen Ton, wie noch nie, als ihr die Frau aus freiem Antrieb die Sohlen reibt. Ihr Haupt ist sogleich regungslos in die Kissen mit den großen gestickten Monogrammen und der Fürstenkrone darüber gesunken. Als die Füße endlich etwas erwarmen, scheint sie zu schlafen, und die Kammerfrau verläßt leise das Zimmer. Aber die Gräfin schläft nicht, sie ist nur erschöpft und während der Körper ruht, sieht sie beständig das eine Bild und fühlt das eine Weh!

Die Kammerfrau hat sich vorgenommen, die Leidende nicht zu wecken und sie recht ausschlafen zu lassen.

Endlich spät am Morgen erbarmt sich ein unruhiger Schlummer der müden Seele, aus dem sie erst aufschrickt, als die Sonne schon hoch am Himmel steht. – Ihr ist, als habe sie, während sie schlief, etwas versäumt – etwas »Unwiederbringliches!« – Es ist ein eigen Ding, wenn unser Verstand etwas für ein Glück ansieht, was unser Herz als ein Unglück empfindet. Der Verstand leugnet den Schmerz, den das Gefühl dann als unberechtigt in die tiefste Brust verschließen muß. So wird es fast ein körperlicher Schmerz, der sich bei der nächsten besten Gelegenheit in ganz unmotivierten Anfällen von Melancholie und nervöser Depression äußert. Denn der Körper leidet oft mehr unter dem Schmerz als der Geist, der sich für alles einen Lügentrost zurecht machen kann. Im Unbewußten allein sind wir wahr und im natürlichen Zusammenhang von Körper und Seele verrät es sich. –

Als die Gräfin die Augen öffnet, ist es ihr, als wäre sie noch an allen Gliedern gelähmt. – Sie deutet es auf die furchtbaren Eindrücke von gestern abend, die jede, auch noch so starke Natur niedergeworfen hätten! Daß etwas in ihr ist, was sich angesichts des wachsamen Verstandes nicht hervorwagen darf, darüber gibt sie sich keine Rechenschaft, wie sollte sie auch, – sie wäre ja verloren, wenn sie es täte, sie wäre eine Verräterin an ihrem Verlobten – und jemand will sie doch einmal treu bleiben, nachdem ihr ganzes Leben eine einzige Untreue war, zuerst an dem Prinzen, dann an Freyer. Jetzt nach all dem Furchtbaren, was sie erlebt, drängt es sie auf die Bahn der Sittlichkeit, jetzt endlich will sie ein treues, gewissenhaftes Weib werden und in strenger Pflichterfüllung abbüßen, was sie gesündigt. Jetzt, wo sich's noch so schön fügt, daß sie eine passende, standesgemäße Partie macht, jetzt, einem edeln, ebenbürtigen Manne gegenüber, kann sie ihre guten Vorsätze, ihren moralischen Aufschwung betätigen, und sie will es auch. – Sie vergißt nur eines, – daß die Voraussetzung falsch ist, daß man nur da gut machen kann, wo man gesündigt.

Sie klingelt der Kammerfrau und steht auf, es geht zwar langsam und mit großer Anstrengung – aber es geht. – Als sie angekleidet ist und das Frühstück serviert werden soll, schreibt sie auf einen Zettel:

»Der Kammerdiener Franz ist wegen gröblicher Mißhandlung des Verwalters Freyer entlassen und hat nicht mehr vor mir zu erscheinen. Der Intendant soll die Lohnangelegenheit regeln.

Gfn. Wildenau.«

Ein anderer Diener bringt nun das Frühstück und gleich darauf einen Brief auf silbernem Brett.

Als die Gräfin den Brief nimmt, zittert ihr die Hand – es ist eines der sogenannten Dienstcouverts Freyers, aber nicht seine Hand.

»Wartet jemand auf Antwort?« fragt sie tonlos.

»Nein, Ew. Erlaucht, es wurde von einem Grießer Holzknecht abgegeben.«

Die Gräfin öffnet das Schreiben, – es ist von der Magd auf dem Jagdschloß und enthält nichts als die Nachricht: »Der Herr Verwalter sei plötzlich fort und das Gesinde wisse nicht, was es tun solle?«

Die Gräfin sitzt einen Augenblick unbeweglich, unfähig, ein Wort zu sprechen. Um sie her dreht sich alles im Kreise, sie sieht nur noch, wie durch einen Schleier, den Diener, der leise das Frühstück abräumt.

»Der alte Martin soll anspannen!« bringt sie nur mit heiserer Stimme heraus. – –

Wie ihr die Minuten vergangen, bis sie in den Wagen steigt, – wie sie es möglich machte, der Kammerfrau die ruhige Miene der Gutsherrin, »die einmal nach dem Rechten sehen muß!« – zu zeigen, sie weiß es nicht. Sie sitzt jetzt im Wagen mit zusammengepreßten Lippen und verhaltenem Atem, um vor sich selber ruhig zu scheinen! Was wird sie finden dort oben? Zwei Gräber der Vergangenheit und eine leere Stätte einstigen Glücks. Ihr ist zu Mute, als streife ein dunkler Fittich das Wagenfenster, als flöge der Engel mit dem Wermutsbecher, von dem Freyer einst gesprochen, nebenher!

Ihr graut vor dem verödeten Haus, vor den Geistern der Einsamkeit und des Schmerzes, die der Entschwundene darin zurückgelassen haben mag. Wenn ein Haus ausgestorben ist, muß es der letzte Ueberlebende abschließen, das ist stets ein trauriges Geschäft. Aber wenn er die Liebe selbst daraus vertrieben hat, dann wird er nur zagenden Fußes die verlassene Schwelle überschreiten, denn überall schaut ihn aus den stillen Räumen das Gespenst der eigenen Tat an. – So kommt sie zu dem ersehnten und doch so gefürchteten Ziel.

Es ist Abend geworden und schon lagern sich die Bergschatten um das Haus, aus dessen Fenstern kein liebendes Auge sie mehr grüßt. – Der Wagen fährt vor. Niemand kommt ihr entgegen – alles ist tot und still! – Das Herz schnürt sich ihr zusammen, als sie aussteigt.

»Martin – fahre nach dem Stall und sieh, ob du die Magd findest,« sagt sie leise, als fürchte sie irgend ein Schrecknis aufzuscheuchen mit dem Ton ihrer Stimme. Martin spricht kein Wort, sein gutmütig freundliches Gesicht ist ungewöhnlich ernst. Er fährt fort, um das Haus herum, wo die Stallungen liegen. –

Die Gräfin steht allein vor der verschlossenen Tür. Der Abendwind streicht durch die Bäume und schüttelt die Zweige der Tannen. Ein paar abgebrochene Aeste nicken und winken wie mit verstümmelten Armen ihr zu, es sind die Zweige, von denen Freyer die Reiser gepflückt für des Kindes Sarg. Damals starrten sie von Eis, jetzt entquillt ihnen der Saft, gelöst vom Frühlingsregen, der mählich niederrieselt. Ob sie's versteht, was die Zweige ihr sagen wollen? Ob ihre Wange feucht ist vom Regen oder von Tränen? Sie weiß es nicht. Sie fühlt sich nur unsagbar verlassen. – Ausgeschlossen aus dem eigenen Hause steht sie da auf den bemoosten Stufen, und keine Stimme antwortet ihrem Ruf! –

Drüben über den Wipfeln ragt ein schiefes Kreuz hervor, das steht auf dem Turm der alten Kapelle, wo sie beide ruhen, Josepha und das Kind. Ein Raubvogel schwingt sich darüber hin und fällt in der Nähe in das Dickicht ein, das wollige Gefieder vor dem Regen zu bergen. Der hat dort sein heimisches Nest. –

Jetzt ist alles wieder still, – wie ausgestorben, nur die Wolke, die über dem Wald steht, ergießt ihren Inhalt leise rauschend auf die dämmernde Frühlingserde herab. – Endlich nahen sich Schritte. Es ist das Mädchen mit den Schlüsseln.

»Ich bitt' halt um Verzeihung – ich hab' Frau Gräfin nimmer so spät erwartet, ich war im Stall!« entschuldigt sie sich und schließt das Haus auf. Dann aber gibt sie der Gräfin geheimnisvoll den Schlüsselbund. »Schaut's, der da mit dem Zettel, das ist dem Herrn Verwalter sein Zimmerschlüssel, ich hab' ihm versprechen müssen, daß ich ihn keinem Menschen geb', als der Frau Gräfin, wenn's einmal 'rauf kämen!«

»Bring Licht – es wird schon dunkel!« befiehlt die Gräfin und tritt in das Wohnzimmer.

»Ich bitt' halt um Entschuldigung,« sagt die Magd. »Da ist alles noch wie beim Begräbnis vom Kleinen und der Josepha. Der Herr hat nicht erlaubt, daß man was wegtut.« Und das Mädchen geht, Licht zu holen. Da liegen noch die vertrockneten Tannenzweige herum, da steht das Kruzifix mit den niedergebrannten Totenkerzen. »Das war seine einzige Gesellschaft seit Wochen! Armer, Verlassener –!« ruft es im Herzen der Gräfin und ein Schauder überläuft sie, als sie auf dem Sofa ein schwarzes Bahrtuch sieht, das von dem Leichenbegängnis Josephas her liegen geblieben. Es war ihr in dem Augenblick, als sei es Josepha selbst, die da läge, als müsse sich die schwarze Gestalt erheben bei ihrem Eintritt und drohend auf sie zukommen! – Ein Wirbel von Entsetzen erfaßt sie und sie eilt hinaus, dem Mädchen entgegen, das mit Licht kommt. – Das Zimmer des Verwalters ist eine Treppe hoch, neben ihren Gemächern. Sie geht unsichern Schrittes hinauf. Das Mädchen läßt sie unten; für das, was sie da erwartet, kann sie keine Zeugen brauchen. –

Sie steckt mit bebender Hand den Schlüssel ins Schloß und öffnet. – Unselige Pflicht! Wohin sie kommt in dem Trauerhaus, ist sie im Bann der eigenen Schuld. – Wo sie einen der leeren Räume betritt, da ist es, als stiebten flüsternde, klagende Geister auseinander und verkröchen sich in die Ecken, um von dort aus zu lauern, – bis der Moment kommt, wo sie daraus hervorbrechen können als rächende Schar. –

Bei ihrem Eintritt setzt sich krachend die Bewegung durch alle Platten des alten Parketts fort, daß es in Wahrheit ist, als gingen unsichtbare Sohlen darüber hin. Einen Augenblick bleibt sie mit angehaltenem Atem stehen – sie hat diese Wirkung des eigenen Trittes noch nie beobachtet, sie war ja noch nie allein hier. Neben dem Zimmer des Gatten ist ihr Schlafzimmer – die Tür steht offen, – er muß noch vor dem Fortgehen darin gewesen sein, um Abschied zu nehmen. Sie geht zögernd hin und wirft einen scheuen Blick hinein. In dem Halbdunkel stehen die Betten mit dem Fußende gegen sie, inmitten des Zimmers, wie zwei Särge. Ihr ist, sie sähe sich als Leiche darin liegen – die Leiche der einstigen Gräfin Wildenau, der Gemahlin Freyers! Diese, die jetzt dasteht, ist eine andere, – und ist ihre Mörderin! – Aber sie trauert um jene und fühlt noch ihre Schmerzen und ihren Todeskampf. Sie macht mit raschem Griff die Tür zu und riegelt ab, – als könne die Tote da drin herauskommen und sie zur Rechenschaft ziehen. –

Sie setzt ihren schweren Gang zum Schreibpult Freyers fort, denn das ist doch stets der Tabernakel, wo eine vereinsamte Seele ihre Geheimnisse niederlegt. Und siehe, da – ein großes Couvert auf der Tischplatte mit der Aufschrift: »An Frau Gräfin Wildenau. Eigenhändig zu eröffnen!«

Sie stellt das Licht auf den Tisch und setzt sich, um zu lesen. Jetzt fürchtet sie sich nicht mehr vor den Gespenstern ihrer Tat, – jetzt ist er bei ihr und wie er auch gestern grollte in der Raserei des Schmerzes, – er wird sie schützen!

Sie öffnet das Couvert. Zwei Dokumente fallen ihr in die Hände: es sind ihre Trauscheine! Ein zweites Blatt liegt dabei von Freyers Hand. – Das Licht brennt unruhig und raucht, oder sind ihre Augen umflort! Heute sieht sie die Schreibfehler nicht mehr, heute sieht sie zwischen den kindischen Schriftzügen nur eine große, stille trauernde Seele, wie sie gestern abend aus zwei dunkeln Augen sie angeschaut, – mit dem letzten Blick! Sie faltet über dem Blatt die Hände und stützt das Haupt darauf wie eine büßende Magdalena mit dem Evangelium. – Es ist auch für sie ein Evangelium – des Schmerzes und der Liebe! Es lautet:

»Gnädigste Gräfin!

Ich sage Ihnen hiermit ein herzliches Lebewohl und lege Ihnen die Trauscheine bei, damit Sie keine Angst haben, ich könne Ihnen damit Ungelegenheiten bereiten. –

Auch alles andere, was ich Ihrer Güte verdanke, stelle ich Ihnen zurück, indem ich davon keinen Gebrauch mehr machen kann. Es tut mir herzlich leid, daß Sie sich in mir getäuscht haben, – ich sagte es Ihnen ja gleich, daß ich der nicht bin, den ich vorstelle, sondern nur ein armer, schlichter Mensch, aber Sie haben es mir nicht glauben wollen und haben es doch mit mir versucht. Das war ein großes Unglück für Sie und mich! – Denn auch Sie können durch die Sünde, die Sie an mir begehen wollen, nimmermehr froh werden. Ich werde zum lieben Gott beten, daß er Sie von mir befreie – auf eine Weise, die es Ihnen erspart, diese schwere Schuld auf sich zu laden, – aber ich habe vorher noch eine Tat der Buße zu tun, gegen meine Heimat, der ich untreu geworden bin, auf daß sie mir noch in diesem Leben verzeihe. Ich höre, daß nächsten Sommer das Passionsspiel nicht sein kann, weil sie in Ammergau keinen Christus haben – das wäre schrecklich für meine arme Gemeinde! Ich will sehen, daß ich ihnen aus der Verlegenheit helfe, wenn sie mich noch aufnehmen und mich nicht auch verstoßen, wie es dem Abtrünnigen gehört. (Hier war die Schrift von Tränen verwischt.) Warten Sie nur so lange, um Ihres Seelenheiles willen, bis ich die Vorstellungen zu Ende gespielt und meine Pflicht gegen die Gemeinde getan habe. – Dann wird mir Gott gnädig sein, daß ich es für uns alle recht mache! Es grüßt Sie zum letztenmal

Ihr dankschuldiger
Joseph Freyer.

Nachschrift: Wenn es Ihnen möglich ist, so verzeihen Sie mir auch alles, womit ich Sie gestern beleidigt habe.«

Da steht es, in kärglich ungeschulten Worten, das Martyrium einer Seele, welche die Schule des Leidens bis zur höchsten Vollendung durchlaufen hat! Die beredteste, stilgewandteste Schilderung seiner Empfindungen hätte das Herz der Gräfin nicht so zu rühren vermocht, wie dieser schlichte unbeholfene Ausdruck, – sie kann es selbst nicht verstehen, warum? Es ist die Hilflosigkeit des Naturmenschen, die ihrer Großmut anvertraut war, was aus diesen Zeilen spricht mit einem unbewußten Vorwurf, der tiefer trifft als alle Klagen. Und sie hat auf diesen Vorwurf nichts zu erwidern – nichts als den Tränenstrom, der jetzt unaufhaltsam aus ihren Augen bricht. – Sie legt den Kopf auf das Blatt und weint, – weint sich endlich aus! –

Lange verharrt sie so. Es ist ein wehmütiger Friede um sie her, nichts regt sich, draußen wie drinnen, die Geister scheinen versöhnt durch das, was sie jetzt mitangesehen. Drinnen im Nebengemach ist die tote Gräfin Wildenau leise aufgestanden, sie liegt nicht mehr dort. Sie ist entschwunden! Weit, weit über die Berge fliegt sie hin – suchend, – dem verlorenen Gatten nach, dem armen, reinen, schuldlosen Mann, der entsagt hat für sie – entsagt allem, was Menschenglück und Menschenwunsch ist, und nur um eins noch bangt, um ihre Rettung vor dem, was er in seiner kindlich religiösen Anschauung als schwere, nie abzubüßende Sünde betrachten muß! – Sie fliegt dahin durch ein weites Tor in der Luft – es ist der Regenbogen, der sich aus den Tränen der Liebe erbaut hat, die seit Jahrtausenden getrennte Menschenherzen vergossen. – Aber nur die Augen derer sehen das schimmernde Prisma, die unendliche Sehnsucht hinaushebt über alle Erdenschranken dem Geliebten nach, dem für ewig entrückten! So war einst der Regenbogen zu schauen, der sich über ihrem Haupte wölbte, als sie mit dem königlichen Sohn der Berge da oben stand, über dem verglimmenden Wald, durch den er sie getragen, den Flammen gebietend. Diese haben ihn verschont – aber sie hatte kein Mitleid – diese haben sich ihm zu Füßen geschmiegt wie feurige Löwen ihrem Bändiger – aber das Weib, für das er sie bekämpft, hat ihn mit Füßen getreten! Und doch stand über ihnen der Regenbogen, das Zeichen des Friedens und der Versöhnung, und unter diesem hatte sie den Schwur getan, den sie jetzt brechen zu dürfen meint –! Aber die tote Gräfin Wildenau sieht ihn wieder, den schimmernden Bogen, und schwebt durch ihn hindurch, dem Gatten nach – denn diese weiß nichts mehr von Erdendingen, diese weiß nur noch von der alten, lange verleugneten, alles besiegenden Liebe! –

Da hebt die Uhr aus, die auf dem Schreibtisch steht, die büßende Träumerin fährt zusammen. Es schlägt Neun. Die Uhr geht noch – die hat er noch aufgezogen. Es war ein Geschenk von ihr. Er hat ja alles dagelassen, was sie ihm gab, schreibt er? Das wäre fürchterlich: er wird doch nicht fort sein ohne alle Mittel? – Der Schlüssel zum Schreibtisch steckt, sie zieht die Fächer auf. Da liegen all seine Papiere, Bücher, die übrigen Wirtschaftsgelder und Abrechnungen, alles in gewissenhaftester Ordnung und daneben – o, daß sie es sehen muß – ein kleines Beutelchen mit seinen Ersparnissen an barem Geld und ein Sparkassenbuch, das sie selbst ihm einmal scherzhaft aufgedrungen. Das Büchlein ist mit einem Papier umwunden, auf dem die Worte stehen: »Zur Erhaltung der Gräber meiner Lieben in der Kapelle der Frau Gräfin Wildenau! –«

»O du großes edles Herz, das ich nie verstanden!« schluchzt die schuldbeladene Frau und legt das Büchlein wieder an seinen Platz. –

Aber es läßt sie nicht ruhen, weiter, weiter muß sie forschen, sie muß wissen, ob er denn ganz als Bettler von ihr schied? An einer breiten Wand neben dem Schreibtisch steht ein kostbarer alter Schrank mit reicher Ornamentik, den sie ihm geschenkt, der viele Geschlechter der Prankenbergs kommen und vergehen sah. Sie öffnet mühsam das schwere Schloß – da hängen alle seine Kleider, wie er sie von ihr bekommen oder sich von seinem Gehalt angeschafft, nichts fehlt als das armselige Röcklein, der Hut und der Stock, womit er Ammergau verlassen, an der Seite der Besitzerin eines Vermögens, das nach Millionen zählt! – Arm, wie er gekommen, ist er wieder von dannen gezogen.

Sie sinkt in die Kniee und vergräbt das Antlitz vor Scham und Schmerz in die gerungenen Hände.

»Freyer, Freyer, so wollt' ich's nicht – so nicht!« Jetzt bricht es hervor, das langverhaltene Weh, das sie sich selbst angetan, ohne es sich einzugestehen. Hier kann sie es hinausschreien, hier hört es ja niemand. »O, daß du so von mir gehen mußtest – so unversöhnt, ohne Abschied, zerrissenen Herzens, – nicht einmal vor Mangel geschützt! Und ich hab' dich ziehen lassen und hab' dir kein gutes Wort mehr gegeben – nicht deinen letzten Blick erwidert –! War es denn möglich, konnte ich das übers Herz bringen?«

Der alte Prankenbergsche Löwe im Wappen des Schranks mag schon manche Trauernde die Hüllen mustern gesehen haben, deren Besitzer längst unter der Erde ruhten – aber wohl keine von all den Frauen des untergehenden Geschlechts, die so bitterlich über den Inhalt des Schranks weinte, – wie diese Letzte ihres Namens.

Die Kerze ist tief im Leuchter heruntergebrannt, zu den gardinenlosen Fenstern schaut aus zerrissenem Gewölk ein Stern herein. Weit drüben über dem Wald zuckt hier und dort das erste Wetterleuchten dieses Frühjahrs auf. –

Sie erhebt sich und steht eine Weile mitten im Zimmer – sich besinnend. Was soll sie noch hier? Sie hat nichts mehr zu suchen in dem leeren Haus. – Die tote Wildenau schläft wieder im Nebenzimmer und die lebende gehört nicht mehr sich selbst. Ist es denn wahr, kann es denn sein, daß sie ihn verstoßen hat, den friedlichen Bewohner dieses Hauses? Verstoßen für immer aus dem bescheidenen Heim, das sie ihm gegründet? »Gatte, Vater meines Kindes, wo bist du?« – Keine Antwort! Er hört sie nicht mehr! Er ist emporgestiegen aus der Erniedrigung, die sie ihm bereitete, er hat das Knechtsgewand abgestreift und ging hin, sie und alles verschmähend, – ein armer, aber ein freier Mann! –

Sie aber muß zurück in die Sklaverei der eigenen Schuld und der Alltäglichkeit, indes er wie ein entschwindender Stern ihr immer ferner und ferner rückt. – Sie fühlt, daß ihre Kräfte sie verlassen, sie muß fort, sonst bleibt sie an der Unglücksstätte liegen – allein ohne Hilfe und Pflege! –

Sie rafft die Trauscheine und den Brief Freyers zusammen. Sie sieht sich nicht mehr im Zimmer um – der Spuk ihres geängstigten Gewissens rührt sich von neuem. Sie nimmt die fast verlöschende Kerze und eilt hinab. Hinter ihr krachen wieder die Stufen, als ginge noch jemand mit ihr die Treppe hinunter. Sie hat den Wagen auf Neun bestellt, er muß längst warten. An der Tür des Wohnzimmers zögert ihr Fuß – aber sie geht vorüber – es ist ihr nicht möglich, es noch einmal zu betreten, – sie ruft – doch die Magd ist einstweilen wieder an ihre Stallarbeit gegangen – aus allen Gängen und Ecken hallt ihr nur die eigene zitternde Stimme zurück. So tritt sie hinaus. Seitwärts des Hauses hält der Wagen. Der Regen hat aufgehört, der Wald schlummert, und alles Getier, das ihn bei Tag belebt, mit ihm.

Die Gräfin schließt das Haus ab. »Nun spinnt es ein und verwachst ineinander!« sagt sie zu den Dornen und Tannen, die dichtgedrängt umherstehen. »Breitet eure Aeste aus und umschlingt es mit undurchdringlicher Hecke, daß niemand es wieder finde: Das Dornröschen, das hier schläft – darf nichts mehr wecken!« –


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