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Erstes Kapitel. Ein Phantom

Groß und ernst ragt der Kofel, das Wahrzeichen und schützende Felsenbollwerk Oberammergaus, mit seinem einsamen Kreuz in den Abendhimmel empor; wie eine drohend erhobene Hand, die einem andrängenden Feind das bannende Siegeszeichen entgegenhält.

Es ist Abend und weithin über das stille Tal fällt der dunkle Schatten des gewaltigen Schirmers. Im verglimmenden Abendschein erglänzt fahl das einfache Kreuz, das seit Jahrhunderten dort oben steht, oftmals erneut, aber immer in derselben Größe, daß es weithin gesehen wird von den Scharen, die aus der Tiefe heraufpilgern, sehnsüchtig ausschauend nach dem Endziel der beschwerlichen Fahrt über die steilen und unwirtlichen Gebirge.

Es ist Freitag. Eine lange Wagenreihe wälzt sich wie eine große Schlange den Ettaler Berg herauf. Zwei hochelegante Landauer zeichnen sich von dem Troß besonders aus. Der vordere mit vier Pferden bespannt, und diese prachtvoll aufgeschirrt, eine geschlossene Krone auf dem Riemenzeug, übermütig tänzelnd in dem langsamen Zug, als wäre der Aufstieg über den Ettaler Berg für Tiere dieser Rasse ein Spaß. Im ersten Wagen, der aufgeschlagen ist, lehnt ein Herr und eine Dame, stumm, blasiert, teilnahmlos gegen die Umgebung und anscheinend auch gegeneinander; im zweiten sitzt eine Kammerfrau, ein Kammerdiener und hoch oben auf dem Bock der Reisemarschall mit der vornehmen Amtsmiene, die der Welt verkündet, daß es ein großes Haus sei, dem er die Ehre habe zu dienen, und diesem überall die teuersten Preise zu sichern! Die Gebieterin dieses stolzen Gefolges ist trotz ihrer gesenkten Wimpern und ihrer fast leblosen Miene von so eigenartiger Schönheit, daß sie auch aus dem Gewirr von Schleiern und Shawls heraus auffallen muß. Dunkelblondes, seidenweiches Haar umspinnt wie ein duftiges Gewebe ihre Stirn und breitet einen warmen Schimmer über ein Gesicht, bleich wie eine Teerose, durchgeistigt und doch von wunderbarer Weichheit und Sinnlichkeit der Formen. Und als wolle die Sonne neugierig die niedergeschlagenen Wimpern durchdringen, um die Augen zu grüßen, die dahinter verborgen, so flammt sie noch einmal aus dem zerrissenen Abendgewölk auf und wirft mit ihren Strahlen goldene fliegende Brücken von Berg zu Berg. Und jetzt hebt sich auch die geschlossene Wimper, den Strahlengruß zu erwidern und ein dunkelschimmerndes Auge von rätselhafter Farbe, die in jeder Sekunde wechselt, blickt empor und folgt, unwillkürlich angezogen, den zitternden Lichtern, die an der Felswand emporgleiten. Aber da winkt etwas aus einer halb verborgenen Höhle heraus und die Lichter verweilen einen Augenblick auf einem bleichen Gesicht: es ist ein Christus, von Holz geschnitzt, der mit der erhobenen Hand den Ankömmlingen den Willkomm bietet. Aber die, welche da ankommt, versteht seine Sprache nicht, der Gruß bleibt unerwidert.

Und weiter gleiten die Sonnenstrahlen, als wollten sie sagen: »Ist's dieser nicht, – so ist's vielleicht dieser, den du suchst?« Und jetzt – machen sie Halt! – Auf schroffer Höhe, ganz übergossen von einer Glorie von Licht, steht ein Wanderer, halb versteckt von grünem Gezweige, und blickt ruhig überlegen auf das bunte ängstliche Gewühl da unten herab. Den Hut hat er abgenommen und sich, von raschem Gehen erhitzt, die Stirn getrocknet. Lange schwarze Locken, in der Mitte gescheitelt, umwallen rechts und links ein majestätisch ernstes Gesicht mit schwarzem Bart und schwarzen, seltsam schwermütigen, weithin schauenden Augen. Das vom Wind verwehte Haar verfängt sich in einem Dornenzweig, der um die früh gefurchte Stirn schwankt. Rötlich erglänzen die scharfen Stacheln in dem grellen Abendschein, als wären sie gefärbt vom Blut des Hauptes, das traumversunken an ihrem Stamme lehnt. Die Pilgerin da unten durchzuckt es, sie richtet sich plötzlich auf, als sei sie aus einem Schlaf erwacht! Die wandernden Strahlen, die ihren Blick hinaufführten, – führen aber auch den Blick des einsamen Mannes da oben herunter – und auf der goldenen Brücke begegnen sich zwei leuchtende Augenpaare. Wie zwei Wanderer, die sich auf schmalem Stege nicht ausweichen können, so blicken sie sich an, so bleiben sie voreinander stehen. – Sie fassen sich, sie halten sich, – eines muß im andern vergehen – denn keines läßt das andere vorbei!

Da erlischt der Sonnenstrahl, die Brücke ist versunken und die Erscheinung im Waldesschatten entschwunden.

»Sahen Sie das?« fragt die Fremde ihren Begleiter, der ebenfalls an der Bergwand emporgeblickt hatte.

»Was soll ich gesehen haben?«

»Nun – den – den –« die Fremde unterbricht sich – sie weiß nicht, wie sie's bezeichnen soll, sie wollte sagen, »den Mann da oben«, das Wort ist ihr aber zu prosaisch, sie findet kein anderes und vollendet nur: »den da oben!« Der Begleiter blickt kopfschüttelnd gen Himmel.

» Den da oben? Ich glaube, Gräfin,« sagt er lächelnd, »die Luft Ammergaus fängt schon an, auf Sie zu wirken! Sie haben bereits, wie es scheint, religiöse Hallucinationen – oder sagen wir, um uns der Sprache dieses geheiligten Bodens zu bedienen, – himmlische Gesichte!«

Die Gräfin lehnt sich verstummt in ihre Ecke zurück, der alte harte Zug von vorhin verbreitet sich wieder um den eben noch so lieblich geöffneten Mund.

»Aber ich bitte Sie, was sahen Sie denn? So erzählen Sie mir es doch wenigstens, da ich nicht so glücklich bin, solcher Visionen gewürdigt zu werden,« spricht der Begleiter mit gutmütiger Ironie; »wie, oder war es zu erhaben, um einem so profanen Weltmenschen wie ich mitgeteilt zu werben?«

»Ja!« sagt sie kurz und legt die Hand über die Augen, als wolle sie den fahlen Dämmerschein von außen abschließen, um die Sichterscheinung desto heller im Innern zu sehen. Dann spricht sie kein Wort mehr.

Es wird allmählich dunkel, der keuchende Zug hat das Dorf erreicht. Jetzt wird Trab gefahren und der feierlichen Gelegenheit gemäß von den Kutschern ein gewaltiger Lärm gemacht. Furchtbar schwanken die Wagen in den ausgefahrenen Geleisen – Peitschengeknall, Rädergerassel, Geschrei entfliehender Kinder und Hühner, Hundegebell – und damit nichts fehle, um das verworrene Treiben zu vervollständigen, rast jetzt auch eine heulende Windsbraut darüber hin und jagt das zerrissene Abendgewölk zur Wetterwolke geballt vor sich her.

»Das fehlte nur – auch noch Regen!« murrt der Herr im Wagen, »soll ich schließen lassen?«

»Nein!« sagt die Gräfin und spannt den Schirm auf: »wer hätte das gedacht, vor zehn Minuten noch schien die Sonne!«

»Ja, in den Bergen geht das rasch – ich sah es übrigens kommen! – Während Sie Gott weiß was für einen biederen Holzfäller da oben als himmlische Erscheinung bewunderten, beobachtete ich das herannahende Gewitter.« Er zieht die herabgeglittenen Reisedecken über die Gräfin und sich herauf und streckt sich behaglich darunter aus: »Wie Gott will – ich halte still! Mit gefangen, mit gehangen! heißt es da – und wer ginge für Sie nicht durch Wasser und Feuer, Gräfin?« Er sucht die Hand der Dame, die er aber in dem Gewirr von Decken und Shawls nicht findet. Verstimmt beißt er sich die Lippen; er hatte erwartet, daß ihm die gesuchte Hand dankbar für so liebenswürdig bewährte Treue entgegen käme! Der Regen klatscht ihm in großen Tropfen in das Gesicht.

»Nicht einmal eine Hand für diese Höllenfahrt in das Bauernnest!« murrt er in sich hinein.

Die Wagen donnern an der hochgelegenen Kirche vorbei, die Blumen und Kreuze auf den Gräbern des stillen Friedhofs erzittern von der Erschütterung des Bodens. Im Pfarrhof ist bereits Licht angezündet, der Geistliche tritt ans Fenster und blickt ruhig auf das längst gewohnte Schauspiel: »Die armen Reisenden bei dem Wetter!«

Ein Wagen um den andern biegt da und dort in eine Straße ab, oder hält vor einem Hause.

Nur die Gräfin und ihre Begleiter sind noch immer nicht am Ziel. Indessen ist es völlig Nacht geworden. Es muß gehalten werden, um den Wagen zu schließen und die Laternen anzuzünden, denn Regen und Dunkelheit sind zu dicht, die Reisenden sind völlig durchnäßt. Ein eisiger Wind, wie er im Gebirge bei Gewittern nicht ausbleibt, zerpeitscht ihnen das Gesicht, daß sie kaum die Augen öffnen können. Der Diener ist in der Finsternis ungeschickt, das Dach aufzuschlagen, alles Handgepäck fällt übereinander und den Insassen auf den Kopf, – der Kutscher kann die Pferde kaum mehr zum Stehen bringen, sie scheuen in dem Gewimmel nach Wohnung herumirrender Leute. Er ist des Ortes unkundig und, mühsam das stampfende Viergespann in Ordnung erhaltend, fragt er in abgebrochenen Worten vom Bock herab nach dem Wege und vernimmt mit halbem Ohr in dem Getöse undeutliche Antworten. – Indessen ist das Gefolge herangekommen. Die Gräfin befiehlt dem Reise-Marschall, mit dem zweiten Wagen vorzufahren und einstweilen in dem bezeichneten Hause Quartier zu machen. Der Reise-Marschall vermißt sich, den Weg in dem kleinen Ort leicht zu finden und fährt voraus. Die Gräfin unterdrückt kaum mehr ihren Unmut.

»Eine abscheuliche Fahrt – die erhitzten Pferde den Berg herauf und jetzt dieses Wetter. – Nicht einmal die Laternen wollen brennen, der Wind löscht sie immer wieder aus! Sie hatten recht, Prinz, wir hätten einen Miet–« Sie vollendet das Wort nicht – denn das Licht der mühsam entzündeten Wagenlaternen fällt auf eine rasch vorüberschreitende Gestalt, die in der unsicheren Beleuchtung fast übernatürlich groß erscheint. Langes schwarzes Haar wallt durchnäßt im Winde unter dem breitkrempigen Hut hervor. Der Wanderer ist ohne Schirm offenbar auch vom Regen überrascht worden und eilt heim, – aber nicht ängstlich, hastig wie einer, dem es auf ein paar Tropfen Regen mehr oder weniger ankommt, sondern nur wie einer, der von niemand angesprochen sein will. – Die Gräfin kann das Gesicht nicht sehen, denn er ist schon vorüber, aber sie sieht noch die Umrisse der schlanken gebieterischen Gestalt in der dunkeln Kleidung, sie bemerkt mit raschem Blick den auffallend elastischen edeln Gang und ein unwillkürliches: »Da ist er wieder!« entschlüpft laut ihren Lippen. Einem plötzlichen Impuls folgend, ruft sie dem Diener zu: »Fragen Sie doch schnell den Herrn dort, wo das Haus des Andreas Groß ist, in das wir sollen.«

Der Diener folgt auf ein paar Schritte der enteilenden Gestalt und ruft: »Sie –!« Der Wanderer stutzt einen Augenblick, wendet halb das Haupt, dann aber, als könne er mit dem »Sie –!« nicht gemeint sein, geht er stolz, ohne sich ein zweites Mal umzusehen, weiter. Der Diener bleibt schüchtern zurück. Die Gräfin überkommt ein beschämendes Gefühl, als habe sie die Bevüe gemacht, irgend eine hochgestellte Person inkognito, durch ihren Bedienten anreden zu lassen.

»Der Herr wollte nicht hören,« entschuldigt sich dieser, verlegen zurückkommend.

»Es ist gut,« sagt die Gräfin, froh, daß die Dunkelheit ihr Erröten verbirgt. Ein Blitz zuckt herab und ein jäher Donnerschlag erschreckt die Pferde, der Kutscher mahnt.

»Fort!« ruft die Gräfin, der Lakai springt auf den Bock, man fährt weiter – ein paar Schritte, da taucht die dunkle Gestalt noch einmal neben dem Wagen auf, ruhig dahinschreitend unter dem Donner und Blitz, nur leicht den Kopf nach dem rasselnden Vierspänner umwendend.

Man saust vorbei, – die Gräfin lehnt sich still in die Polster zurück und zeigt nun kein Verlangen mehr, hinauszublicken.

»Sagen Sie mir, Gräfin Madeleine,« fragt der vorhin mit »Prinz« Angeredete plötzlich, »was haben Sie heute?«

Die Gräfin lacht. »Mein Gott, wie ernst Sie das fragen! Was soll ich denn haben?«

»Ich werde nicht klug aus Ihnen,« fährt der Prinz fort, »Sie sind kalt gegen mich und begeistern sich für irgend ein Phantasiegebild, welches Ihnen bereits den ehrenvollen Ausruf: ›Da ist er wieder‹ entlockt! Ich kann nicht umhin, darüber nachzudenken, welch unsicherer Besitz die Gunst einer Frau mit so leicht entzündlicher Phantasie ist!«

»Das ist reizend,« versucht die Gräfin zu scherzen: »Mein Prinz eifersüchtig – auf ein Phantom?!«

»Das ist es eben, wenn ein Phantom schon solche Schwankungen in der Temperatur Ihres Herzens gegen mich hervorbringen kann – wie muß es da um meine Hoffnungen stehen?«

»Bester Prinz, Sie wissen, daß ich diese Frage, welche Ew. Hoheit mir öfters zu stellen geruhen, noch nie beantworten konnte, ob mit oder ohne Phantom!«

»Ich glaube, Gräfin, ein solches ist es immer, was sich zwischen uns stellt! Sie jagen irgend einem unbekannten Ideal nach, das Sie in mir, dem Realisten, nicht finden, der Ihnen nichts zu bieten hat, als prosaische Güter – wie seine Hand, sein Fürstentum und eine Neigung, für welche ihm leider die poetischen Phrasen fehlen.«

»Sie übertreiben, Prinz, und werden bitter. Il y a un brin de vérité – ich bin immer ehrlich! – Sie sind mir, Sie wissen es, von allen meinen Bewerbern der liebste! Aber es ist richtig, daß ein Unbekannter Ihnen den Rang streitig macht! Das ist nichts anderes als ein Mensch – wie ich ihn mir denke – einen solchen gibt es aber nicht, und darum haben Sie auch nichts zu fürchten.«

»Aber, Gräfin, was für ein Ideal verlangen Sie denn eigentlich, daß man es nicht sollte erreichen können?«

»Ach, ein so einfaches und dennoch, ihr konventionellen Naturen, ihr werdet es nie verstehen: Es ist die Einfalt des verlorenen Paradieses, in das ihr nie zurückkehren könnt! Ich bin eine Natur der Ideale – ich bin überschwenglich und bedarf der Ueberschwenglichkeit; Ihr aber nennt mich eine Phantastin, wo es mir heiliger Ernst ist! Ich verlange nach einem Menschen, der an meine Ideale glaubt, ich will keinen Mann, vor dem ich sie verbergen muß, um sie nicht belächelt zu sehen und mich so im Besten, was ich bin, nicht wahr geben darf. Der, den meine Seele sucht, der müßte zugleich ein Mann und ein Kind sein – ein Mann im Charakter und ein Kind im Gemüt! Aber – wo findet sich das in unseren modernen Kreisen? Wo ist da Weichheit ohne schwächliche Sentimentalität? Wo Schwärmerei ohne phantastische Verschwommenheit, wo Herzenseinfalt ohne Beschränktheit? Wer heutzutage männlichen Charakters und starken Geistes ist, der kann sich den Anforderungen, die Wissenschaft und Politik an den Mann stellen, nicht entziehen, und das beeinträchtigt das Gemütsleben, entwickelt vorherrschend das konkrete Denken, macht realistisch und kritisch. Aber von allen, die an diesem Fehler unserer Zeit leiden, sind Sie immer noch der Beste, mein Prinz!« setzt sie lächelnd hinzu.

»Das ist ein leidiger Trost!« sagt der Prinz vor sich hin, »es ist ein eigenes Ding, solch einen unsichtbaren Nebenbuhler zu haben! – Wer steht mir dafür, daß nicht einmal eine Persönlichkeit kommt, auf die das Signalement paßt?«

»Deshalb, mein Prinz,« sagt die Gräfin ernst, »habe ich Ihnen auch mein Jawort noch nicht gegeben!«

Der Prinz seufzt tief aus und erwidert nichts. Er schaut in das tosende Regenwetter hinaus. Nach einer Weile sagt er leise: »Wenn ich Sie nicht so liebte, Gräfin Madeleine!«

»So ließen Sie sich nicht so lange von mir hinhalten, nicht wahr?« fragt die Gräfin und reicht ihm, wie um Vergebung bittend, die Hand. – Diese eine, halb unbewußte Freundlichkeit entwaffnet den erbitterten Freund. Er biegt sich über die kleine schmale Hand und zieht sie mit »Empressement« an die Lippen. »Sie muß doch mein werden!« sagt er sich zum Trost, wie alle Männer, deren Hoffnungen zweifelhaft sind, »ich werde wohl den Kampf mit einem Phantom aufnehmen können!«


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