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Siebenunddreissigstes Kapitel. Das Mass ist voll

Seit jenem Tage zeigt die Gräfin ein ganz ungewohntes Interesse an Zeitungslektüre. Die erste Frage, wenn sie morgens erwacht, ist – nach den Journalen. Aber die Kammerfrau bemerkt es wohl, daß sie immer nur die Seiten aufgeschlagen hat, wo Berichte aus Oberammergau stehen.

»Erlaucht scheinen sich sehr für das Passionsspiel zu interessieren!« erlaubt sich die Frau zu sagen.

Die Gräfin errötet und erwidert ein kurz abweisendes »Ja!«, so daß die Zofe erschrickt über ihre vorwitzige Tat.

Aber das ist unverkennbar – daß die Herrin jedesmal, wenn sie solche Berichte gelesen, bleich und abgehärmt aussieht. –

Und in Wahrheit! Es ist, als trinke das unglückliche Weib Tropfen für Tropfen einen Wermutsbecher aus, wenn sie die Schilderungen der diesjährigen Aufführungen liest. Freyers Name ist es, von dem die ganze Welt widerhallt. Und nicht nur die Tagesliteratur beschäftigt sich mit ihm, – sogar ernste Männer, Aesthetiker von hohem Rang, finden seine Leistung so interessant, daß sie Broschüren darüber schreiben und sie zum Gegenstand kunstwissenschaftlicher Abhandlungen machen. – Die Gräfin liest sie alle. Freyer wird bezeichnet als der Typus, in welchem sich Kunst, Natur und Religion die Hände reichen zur höchsten Harmonie!

»Wie er selbst über den Gesetzen theatralischer Schablone steht, so hebt er uns weit hinaus über das, was wir unter Bühnenwirkung verstehen, gleichsam in eine andere, höhere Sphäre. – Er spielt nicht, – er ist Christus! Das mächtige Auge, die ganze durchgeistigte Gestalt und ein undefinierbarer Zauber edelsten Schmerzes, der über ihn ausgegossen, das sind Dinge, die man nicht machen kann, das ist kein Spiel, das ist Wahrheit. Wir glauben ihm, was er sagt, weil wir fühlen, daß die Seele dieses Mannes nicht dieser Welt angehört, daß ihr eigenes individuelles Leben aufgegangen ist in der Seele seiner Rolle. Weil er nicht als Joseph Freyer, weil er nur noch als Christus denkt, fühlt und lebt – daher der ans Ueberirdische grenzende Eindruck.«

Diese Worte liest sie eben und sie zerschneiden ihr das Herz. Ja, wenn fremde Menschen – Kritiker, – Männer! so etwas sagen, – da hätte sie sich wahrlich nicht zu schämen gebraucht! Wer wollte es ihr zum Vorwurf machen, wenn sie – ein schwaches, überschwengliches Weib, sich diesem Zauber hingab? Gewiß niemand, – eher wäre es ihr zu verdenken, daß sie diesen Zauber nicht festzuhalten vermochte, daß sie mit profaner Hand das Wunder zerstörte, das sich ihr genaht und sie begnadet hatte vor den Tausenden, die es in andachtsvoller Ehrfurcht anstaunen!

Sie lehnt den Kopf in die Hand und schaut trübe zu dem Fenster hinaus, an dem sie sitzt. Nun sind es sechs Wochen, seit sie da oben spielen. Es ist schon Juni. Die Gärten der gegenüberliegenden Palais stehen im vollsten Sommerschmuck und die Vögel singen in den Bäumen und locken sie hinaus. – Ihr Auge folgt so einer kleinen flatternden Schwalbe der Richtung nach den Bergen zu. Hoch hebt sich das Tierchen und schwirrt mit den anderen dahin. »O Bergesluft und blaue Gentianen, – Erdenparadies!« seufzt sie. Was tut sie noch hier in der heißen Stadt, während alles auf die Berge flüchtet, und sie sieht keinen Menschen, sie meidet jede Gesellschaft, und der Herzog ist verreist. – Längst wäre auch sie fort. Aber wohin? Nach Oberammergau kann sie nicht und wo anders hin mag sie nicht, – es ist, als habe die ganze Welt seinen Ort, wo man sein könnte, als dieses Dorf mit seinen kleinen bunten Häusern und niederen Fenstern, – als gäbe es in der ganzen Welt keine Berge und keine Höhenluft als in Ammergau! – Ein paar heiße Tränen rinnen über ihre Wangen. Wohl gibt es Höhenluft, wohl gibt es Berge, gewaltigere, schönere als dort, aber nirgends gibt es die Fähigkeit, die Herrlichkeit der Natur so zu genießen, wie in Ammergau! Wie es auch überall eine Kirche, überall eine Religion gibt, aber nirgends eine so religiöse Stimmung wie dort! –

»O, mein verlorenes Paradies, meine Seele grüßt dich mit all den Schmerzen der vertriebenen Stammmutter meines Geschlechts und meiner Sünde!« seufzt sie.

Und doch, – was war Evas Schuld gegen die ihre? Eva hat wenigstens mit dem Manne, den sie verlockte, die Schuld der Liebe in Liebe und Treue gebüßt. Sie hat bei ihm ausgeharrt im Exil, hat ihm in Schmerzen Kinder geboren und sie ihm großgezogen, hat Mühe und Not mit ihm geteilt und im Schweiß ihres Angesichts mit ihm gearbeitet ums tägliche Brot. – Darum konnte ihr auch Gott verzeihen und dem Geschlecht, das ihrem Fall entsprungen, den Boten der Versöhnung schicken. Eva war doch Weib und Mutter – sie aber, was war sie? Nicht einmal das! Sie hat den Gatten verlassen und in Pracht und Herrlichkeit gelebt, während er einsam trauerte, – sie hat ihm nur ein einziges Kind geschenkt, und diesem einen war sie nicht Mutter und endlich hat sie ihn hinausgestoßen in Armut und Trübsal und ist im Reichtum und Müßiggang geblieben, während er im Schweiß seines Angesichts sein Brot erwirbt. Nein, die Stammmutter der Sünde war eine Märtyrin gegen sie, eine Märtyrin der Natur, die sie verleugnet, und darum ist sie jetzt ausgeschlossen von dem Bunde des Friedens und Erbarmens, den Evas Buße erwirkte.

Es klopft an die Tür. Sie fährt auf aus ihrem Sinnen. Der Kammerdiener bringt die Meldung, daß die Wärter Seiner Durchlaucht nach Frau Gräfin schickten; sie glaubten, es ginge zu Ende.

»Ich komme sogleich,« antwortet sie.

Der Fürst wohnt in der Nähe des Palais Wildenau, in wenig Minuten ist sie dort.

Als sie hinkommt, ist der Kranke klarer als seit Monaten. Wässerige Ausschwitzungen im Gehirn, die das Bewußtsein getrübt, haben sich vorübergehend aufgesaugt, und er kann sich wieder ein wenig besinnen. Er streckt der Tochter zum erstenmal die Hand entgegen: »Bist du da, mein Kind?«

Das erschüttert sie eigentümlich und sie kniet bei ihm nieder: »Ja, Vater!«

Er streicht ihr mit gutmütig blödem Ausdruck über die Locken: »Geht dir's gut?«

»So leidlich, Papa! Ich danke dir!«

»Und bist glücklich?«

Die Gräfin, die in ihrem Leben keine väterliche Regung an ihm wahrgenommen, ist tief bewegt von dieser ersten Freundlichkeit im Augenblick des Scheidens. Sie sucht nach einer Antwort, um nicht zu lügen und ihm doch eine tröstliche Auskunft zu geben, wie sie sein schwaches Bewußtsein verstehen kann. Aber er hat die Frage schon wieder vergessen.

»Bist du verheiratet?« fragt er weiter, als sei er lange fortgewesen und sähe heute die Tochter zum erstenmal wieder.

Die Wärter ziehen sich ins Nebenzimmer zurück.

Vater und Tochter sind allein. Indessen scheint sein Gedächtnis einen Faden verfolgt zu haben.

»Wo ist dein Mann?«

»Welcher?« fragt die Gräfin bis ins Innerste erschüttert: »Wildenau?«

»Nein, nein – der – der andere – er soll auch kommen!« Und er greift mit der tastenden Hand hinaus, als erwarte er, daß jemand sie fasse: »Auch – adieu sagen –!«

»Vater,« schluchzt die Gräfin und legt ihm die suchende Hand sanft auf die Decke zurück: »Er kann dir nicht adieu sagen, er ist nicht da!«

»Warum nicht? Hätte ihn gern noch gesehen –! Schwiegersohn – Enkel – nichts da?«

»Vater – armer Vater!« mehr kann die Gräfin nicht sagen. Sie legt den Kopf auf den Bettrand des Vaters und weint bitterlich.

»Hm, hm!« murmelt der Kranke und aus seinen farblos stieren Augen richtet sich plötzlich ein heller Blick auf die Tochter: »Mein Kind – weinen?« Eine kleine Weile besinnt er sich, dann scheint ihm wieder etwas klar zu werden.

»Ja so! Es darf's niemand wissen! O Schwachheiten. – Sag ihm doch, ich lass' ihn recht sehr bitten, – er möchte mir verzeihen! Vorurteile, alte –! Tut mir recht leid. Kannst du nicht hinschicken?«

»O Papa – ich würde ihn dir wohl gern holen lassen – aber es ist zu spät – – – er ist verreist!«

»So! Nun, dann seh' ich ihn nicht mehr. Es geht zu Ende mit mir.« –

Die Gräfin kann nicht sprechen. Sie drückt die Lippen auf die erkaltende Hand des Vaters.

»Es ist kein Schade, – verlierst nichts an mir, sei froh! Habe dir viel Geld verbraucht, – hast nichts an mir gehabt! Maitressen, Spiel, Diners, was ist das alles –!« Er macht eine Gebärde des Ekels: »Was hat man nun davon!«

Ein Frösteln überfliegt ihn und der Atem geht kurz und geräuschvoll: »Bin neugierig, wie's da oben aussieht!« – Er sinnt eine Weile nach: »Wenn du einen vernünftigen Pfarrer wüßtest, könntest ihn mir kommen lassen, so einer weiß doch manchmal was.«

»Gewiß, Vater!« Die Gräfin eilt ins Nebenzimmer und gibt Befehl, den Geistlichen mit den Sterbesakramenten zu holen.

»Du wirst auch gleich beichten und kommunizieren wollen: – nicht wahr, Papa?«

»Nun ja – daß man den alten Quark nicht mit hinüber nimmt, wenn man den großen Weg antritt. Man nimmt auch keine schmutzige Wäsche auf eine Reise mit. Viel auf dem Gewissen, Magdalena, mein Kind – am meisten gegen dich! Trag's deinem alten, törichten Vater nicht nach.«

»Nein, mein Vater, bei dem Andenken dieser Stunde schwöre ich dir's!«

»Und dein Mann –« er schüttelt den Kopf – »hm, hm! Daß er nicht da ist! – Schade!«

Dann spricht er nicht mehr und liegt ruhig und in sich gekehrt, bis der Geistliche kommt.

Madeleine zieht sich, solange die Beichte dauert, zurück. Was heute, in dieser Stunde in ihr vorging, darüber kann sie sich selbst noch keine Rechenschaft geben. Sie weiß nur, daß ihr das Verlangen des Vaters nach dem verachteten, verleugneten Schwiegersohn im Augenblick des Todes der schwerste Vorwurf ist, der sie noch traf!

Die heilige Handlung ist beendet und der Geistliche hat das Haus verlassen.

Der Kranke liegt freundlich und friedlich da, wie nie im Leben. Sie setzt sich an sein Bett und nimmt seine Hand, er erwidert dankbar ihren sanften Druck.

»Wie ist dir, lieber Vater?« fragt sie leise.

»Ganz erträglich, liebes Kind.«

»Bist du mit deinem Gott versöhnt?«

»Ich hoff' es, mein Kind! Sofern er mir altem Sünder gnädig sein mag.« Noch einen großen, vertrauensvollen Blick richtet er empor – dann verfällt er in eine lange, schwere Agonie. Aber die Hand seiner Tochter hält er fest in der seinen, und sie bleibt die ganze Nacht an seinem Bette, ohne sich zu rühren, standhaft und treu, – die erste Pflichterfüllung ihres Lebens. –

Bis zum andern Mittag währte der Kampf, ehe die Tochter dem Vater die Augen zudrücken konnte. Jetzt waren noch eine Menge dringender Obliegenheiten und Geschäfte zu erledigen, die sie bis zum Abend im Trauerhause aufhielten, wobei ihr der Herzog, der sorgende Freund, recht fehlte, und zum Erliegen müde kommt sie endlich um neun Uhr in ihr Palais heim.

Da überreicht ihr der Portier eine Karte: »Der Herr war heute schon zweimal da und wünschte Erlaucht in einer dringenden Angelegenheit zu sprechen. Er wollte zwar heute abend mit dem letzten Zuge wieder fort, – entschloß sich aber doch, zu bleiben, um Erlaucht noch zu treffen. Nach neun Uhr will er es noch einmal versuchen –!«

Die Gräfin tritt mit der Karte an die Gasflamme und liest: »Ludwig Groß, Zeichnungslehrer«. Sie läßt fast die Karte fallen, so zittert ihr die Hand. »Wenn der Herr kommt, ist er heraufzuführen!« Sie muß sich am Treppengeländer halten beim Hinaufgehen, ihr schwindelt. Kaum ist sie in ihrem Boudoir angelangt, da hört sie auch schon die untere Hausglocke – dann Schritte, eine wohlbekannte Stimme – es klopft – wie vor zehn Jahren im Großschen Hause – aber den, welchen er ihr damals zugeführt, bringt nichts mehr wieder!

Sie ruft nicht herein, denn die Stimme versagt ihr, sie öffnet selbst die Tür. – Ludwig Groß steht vor ihr. Beide sehen sich einander lange stumm an. Beide ringen nach Fassung und nach Worten, und aus beider Wangen ist alles Blut gewichen. Sie streckt ihm die Hand hin – aber er scheint es nicht zu sehen.

Die Gräfin deutet auf einen Stuhl: »Nehmen Sie Platz!« sagt sie tonlos und läßt sich ihm gegenüber in dem Diwan nieder.

»Ich will nicht lange stören, Erlaucht!« erwidert Ludwig und setzt sich auffallend weit von ihr weg.

»Wenn Sie störten, würde ich Sie nicht empfangen haben.«

Ludwig fühlt die Zurechtweisung in diesen Worten für das Feindselige seiner Haltung, aber er kann nicht helfen! –

»Frau Gräfin erinnern sich vielleicht eines gewissen Freyer?«

»Herr Groß, diese Frage ist eine Beleidigung, aber ich gebe zu, daß Sie von Ihrem Standpunkt aus ein Recht dazu haben. Jedenfalls trug Ihnen das nicht Freyer auf.«

»Nein, Frau Gräfin, denn er weiß nicht, daß ich hier bin – wüßte er es, er würde es verhindert haben. Ich bitte um Ihre Verzeihung, wenn ich etwas Ungeschicktes mache! – Ich weiß wohl, es ist mißlich, sich in Verhältnisse zu mischen, die man nicht kennt, denn Freyers Verschlossenheit gestattete mir keinen Einblick in dieselben. Aber hier ist Gefahr im Verzug, und wo es sich um ein Menschenleben handelt, muß jede andere Rücksicht schweigen. Ich habe nie etwas Näheres von Freyer erfahren können, – ich weiß nur, daß er neun Jahre fort war, und, wie es hieß, bei Ihnen, und daß er als ein Bettler zurückkehrte!«

»Daran, Herr Groß, trifft mich keine Schuld!«

»Daran nicht, Frau Gräfin, aber das kann nur Ihre Schuld sein, was so unnatürliche Verhältnisse herbeigeführt hat, daß Freyer sich schämen mußte, sogar den wohlverdienten Lohn seiner Arbeit von Ihnen anzunehmen!«

»Da haben Sie recht, Herr Groß.«

»Und das wäre noch das wenigste, Frau Gräfin, aber er ist zurückgekommen, nicht nur als ein Bettler, sondern als ein verlorener Mann!«

»Ludwig!«

»Ja, Frau Gräfin. Das ist der Grund, warum ich mich in Uebereinstimmung mit dem Bürgermeister entschlossen habe, hierher zu fahren und mit Ihnen zu reden, wenn Sie es gestatten wollen?«

»Reden Sie, um Gottes willen, was ist mit ihm?«

»Freyer ist krank, Frau Gräfin!«

»Aber, ich bitte Sie, er spielt doch jede Woche den Christus und entzückt alle Welt?«

»Ja, das eben ist es! Er spielt ihn, wie eine Kerze niederbrennt, während sie leuchtet – es ist nicht mehr das Phosphoreszieren des Genies, es ist ein Licht, welches sich vom eigenen Leben nährt und es verzehrt!« –

»Heiliger Gott!«

»Und er will sterben – das ist unverkennbar, – darum ist es so schwer, ihm zu helfen. – Er hört auf keinen Rat, befolgt keine Verordnung des Arztes und tut nichts, was ihm gut wäre. – Jetzt ist es so weit mit ihm gekommen, daß der Arzt uns gestern erklärte, er könne uns jede Stunde auf der Bühne totbleiben, – und wir dürften nicht mehr zugeben, daß er weiterspiele! Er aber läßt es sich nicht wehren. Er wünsche nichts mehr als den Tod!«

»Was fehlt ihm denn?« fragt die Gräfin mit bleichen Lippen.

»Es hat sich ein hochgradiges Herzleiden entwickelt, Frau Gräfin, welches durch sorgsame Pflege, äußerste Ruhe und kräftige Kost einige Jahre zum Stillstand gebracht werden könnte, aber zu besserer Nahrung, wie sie solch ein Zustand erfordert, fehlen ihm die Mittel, da er zu stolz ist, irgend jemand zur Last zu fallen, und zu einer Erholung für das kranke Herz fehlt ihm die Ruhe des Gemüts. Von einer Pflege ist ohnehin keine Rede, – er bewohnt – da er sein eigenes Haus, wie Sie wissen werden, verschenkte, als er Ammergau verließ, eine elende, feuchte Kammer in einer Spelunke vor dem Dorf und treibt sich tage- und nächtelang auf den Bergen herum. Da ist natürlich ein rascher Verfall unausbleiblich, – und dabei noch die Anstrengungen seiner Rolle!«

Ludwig Groß steht auf: »Ich weiß nicht, wie Sie über den Wert oder Unwert eines armen Mannes denken, Frau Gräfin,« sagt er streng und herbe, – »ich habe nur meine Pflicht getan, indem ich Ihnen mitteilte, wie es um den Freund steht, – damit ich mir keinen Vorwurf zu machen habe. Alles Weitere muß ich Ihnen überlassen.«

»Großer Gott! Was soll ich tun? Er weist ja alles zurück, was von mir kommt. Sie wissen es vielleicht nicht, daß ich ihm ein Vermögen anbot und er es nicht annahm?«

Ludwig Groß heftet einen vernichtenden Blick auf sie: »Frau Gräfin, wenn Sie hier nicht anders zu helfen wissen, als mit Geld – dann habe ich nichts mehr zu sagen!«

Er verbeugt sich kurz und geht, ohne eine Antwort abzuwarten.

»Ludwig!« ruft sie ihm nach: »Hören Sie mich!«

Er ist fort – er hat ja recht – verdient sie es denn besser? Nein – nein! Sie steht einen Augenblick wie betäubt mitten im Zimmer.

Ihr Herz schlägt zum Zerspringen. »So weit ist es gekommen! Hungern hab' ich dich lassen, verschmachten den Mann, dem ich den letzten Lebenshauch von den Lippen gesogen! Zwischen feuchten Wänden lass' ich das Herz verkümmern, an dem ich so oft geruht – verbluten, brechen in still getragenem Weh! Mörderin du, hast du's gehört? Er ist verloren, durch deine Schuld! Gott, Gott – wo ist ein Verbrechen, das ich nicht beging, – wo ein elenderes Geschöpf als ich? Das Unschuldigste hab' ich gemordet, das Edelste verkannt, das Treueste von mir gestoßen – das Heiligste geschändet, und um was?!« Sie bricht in sich zusammen. Das Maß ist voll – es läuft über. – Der Engel mit dem Wermutsbecher hat sie erreicht, wie Freyer es prophezeit, und hält ihr die bittere Schale der eigenen Schuld an die Lippen, und sie muß sie leeren, Tropfen für Tropfen. Jetzt ist sie gezeitigt und erwachsen, die Schuld, zu ihrer ganzen Größe und steht vor ihr und grinst sie an mit dem Lachen des Wahnsinns! –

»Flügel, o Gott, leih mir Flügel –! Indes ich hier zögere und verzweifle – kann es zu spät sein – kann es geschehen sein, das Gräßliche – kann er sterben, unversöhnt mit dem furchtbaren Vorwurf im Herzen! Flügel, o Flügel, mein Gott!« Und sie springt auf, – mit Gedankenschnelle ist sie an der Klingel: »Der Stallmeister soll kommen – sogleich!«

Dann eilt sie in ihr Schlafzimmer, wo die Kammerfrau die Nachttoilette rüstet: »Packen Sie schnell das Nötigste für eine Reise von einigen Tagen – oder Wochen – ich weiß selbst nicht!«

»Toiletten oder Straßenkostüme?« fragt die Kammerfrau, entsetzt über das Aussehen der Herrin.

»Straßenkleider!«

Indessen wird der Stallmeister gemeldet. Sie eilt ins Boudoir: »Herr Stallmeister, lassen Sie augenblicklich Relais satteln und vorausschicken, – es ist zehn Uhr vorbei – jetzt geht kein Zug mehr nach Weilheim – ich muß noch heute nacht nach Oberammergau! Der Kutscher Martin soll mich fahren, vier Relais voraus – ich gebe Ihnen vier Stunden Vorsprung – binnen zehn Minuten müssen die Jockeys abreiten – um Zwei fahre ich – um sieben Uhr früh will ich oben sein.«

»Erlaucht, das ist kaum möglich –« wagt der Stallmeister einzuwenden.

»Ich habe Sie nicht gefragt, ob es möglich ist – ich habe Ihnen gesagt, es muß sein, – und wenn es alle meine Pferde kostet! Nehmen Sie die Rapphengste an den Wagen und die Victoria – die ist am leichtesten! Die vier Trakehner voraus, – so geht es, so muß es gehen! Und jetzt rasch, alarmieren Sie das Stallpersonal – alles soll Hand anlegen, ich warte am Fenster, bis ich die Leute abreiten sehe.«

Stumm verneigt sich der Stallmeister, er weiß, hier ist keine Widerrede, aber für sich grollt er: »In einer Nacht sechs der kostbarsten Pferde zu Schanden zu fahren, – sicher wieder wegen so einem Ammergauer, man sollte sie unter Kuratel stellen.«

Im Hof wird es lebendig, ein Rennen und Rufen. Die Stalltüren werden aufgerissen, Laternen irren hin und her, Pferdegetrappel und Gewieher, ein Tumult und ein Hasten, als schirre die wilde Jagd auf zum Schreckensritt durch die sternenlose Nacht.

Die Gräfin steht mit der Uhr in der Hand am erleuchteten Fenster, – die drohende Gestalt der Herrin da oben spornt alles zur äußersten Eile an. In wenig Minuten sind die Vorlegepferde gesattelt und die Jockeys reiten zum Hof hinaus.

»Um zwei Uhr muß die Victoria mit den Rappen vorfahren!« sagt der Stallmeister zum alten Martin. »Da dürfen Sie aufpassen – ich will nur sehen, wie das geht, – die unbändigen Tiere an dem leichten Wagen!«

Die Gräfin hört es am Fenster, aber es ist ihr alles gleichgültig, wenn sie nur dahin fliegen mit dem leichten Wagen, die feurigen Hengste, wie der Wunsch ihres Herzens. Nur vorwärts – ist ihr einziger Gedanke!

»Muß ich mitfahren?« fragt schreckensbleich die Kammerfrau.

»Nein! Ich brauche niemand.« Die Gräfin schließt jetzt das Fenster, da alles im Stall angeordnet, und geht an den Schreibtisch, denn viel ist noch zu tun in den wenigen Stunden. Das Begräbnis ihres Vaters, – die Besorgung der Traueranzeigen, mit alledem muß sie nun jemand anderen beauftragen und Stellvertreter für sich unter ihren Verwandten gewinnen. Sie schützt eine plötzliche kurze Reise für einen oder zwei Tage vor, und könne noch nicht sagen, ob sie bis zur Beisetzung des Fürsten wieder da sei. Die Feder fliegt über das Papier und zuletzt schreibt sie noch einen kurzen Brief an den Herzog, worin sie ihm nichts als den Tod des Vaters mitteilt. – Rasch sind die vier Stunden herum und mit dem Schlag zwei Uhr fährt die Victoria vor.

Die Gräfin steht schon bereit, um einzusteigen. Hell strahlen die Gasflammen in der Einfahrt, aber noch heller strahlt des alten Martin Gesicht, der mit sicherer Hand die mutigen Tiere zügelt.

»Nach Ammergau, Martin!« sagt die Gräfin im Einsteigen bedeutsam.

»Hui! Jetzt will ich aber fahren!« jubelt der Alte, nicht ahnend, wie traurig es dort oben steht, und dahin braust das Gespann wie gejagt von der Angst der Herrin, – und Schuld und Reue geben ihm mit schwerem Schicksalsflug das Geleit. –


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