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Achtzehntes Kapitel. Die Ehe

Auf einer waldigen Höhe, tief versteckt in den Forsten des bayrischen Hochlandes, liegt ein altersgraues Jagdschloß der Wildenauschen Familie. Ein steiler Bergweg führt zu ihm empor und zu seinen Füßen dehnt sich, wie ein Steinmeer, ein breites ausgetrocknetes Flußbett, ein Grieß, wie sie es hier nennen. Nur Eingeweihte kennen die Spur, die hindurchführt, dem oberflächlichen Blick erscheint es völlig unpassierbar und wild.

Wie eine Mauer umstarren nackte, schroffe Felsen das Jagdschloß auf seiner bemoosten Anhöhe, traurig harmonierend mit dem weißen Steinmeer da unten, das den harten Vordergrund zu dem eintönigen Gemälde bildet. Dann und wann tritt ein brünstiger Edelhirsch aus dem Walde, mit seinen elastischen Fesseln das Grieß überschreitend, und die bräunliche Silhouette des scharfgezackten Geweihs hebt sich stolz ab von dem farblosen Einerlei. Ihm entgegen tritt erwartungsvoll, jenseits des Grießes, die Hindin, zögernd – lauschend – mit vibrierenden Nüstern, den Hals weit vorgestreckt, aus dem Dickicht. – Dann knallt von drüben eine Büchse, der Sechzehnender neigt sich zur Erde, die schlanke erhobene Fessel knickt ein, auf die Kniee stürzt das königliche Tier – dann fällt es auf den Rücken und gräbt sich mit dem mächtigen Geweih rücklings geworfen im Todeskampf ins tiefe, lockere Geröll ein. – Die Hindin ist entflohen, der Wilderer macht seine Beute, – durch die Steine sickert lautlos ein feines, blutiges Rinnsal, dann ist es wieder tot und still ringsum.

Dies ist das Versteck, wo die Gräfin Wildenau seit sieben Jahren ihren Kreuzesraub birgt – das Felsengrab, in dem sie den scheintoten »Gott« halten zu können meint!

Dicht an die Bergwand gelehnt und von einem überhängenden Geklüft halb gedeckt, steht das Schloß wie in einer Nische. Kalt und feucht, der Sonne beraubt durch vorspringendes Gewänd, das schon um Mittag seine Schatten hereinwirft, so daß das Gebäude vom feuchten Gestein herab berieselt und von jenem geheimnisvollen Duft nassen Mooses und faulender Pilze umzogen ist, der uns so seltsame Gefühle weckt, wenn wir auf heißer Wanderschaft innerhalb eines kühlen, verfallenen Burghofes ruhen, indes uns die Sohle feucht wird in fußtiefen Schichten modernder brauner Blätter, die keine geschäftige Hand seit Jahrzehnten mehr weggekehrt. Es ist, als ob es die Sonne mit den Menschen hielte. Wo kein Menschenauge mehr nachsieht, da schaut auch sie nicht mehr hinein. Es ist ihr nicht der Mühe wert, die Berge von welkem Laub oder das wilde Gerank und Gestrüpp oder die Schleier von Spinnweb und Kalkstaub zu durchdringen, die sich im Laufe der Zeit im Mauerwerk eines verwahrlosten Besitztums angehäuft.

Wie man es einem Kinde ansieht, ob es von seiner Mutter geliebt wird oder nicht, so sieht man es auch einem Hause an, ob seine Besitzer es wert halten oder nicht, und wie ein schlecht gepflegtes Kind ein sonnenloses Dasein fristet, so wird auch ein schlecht gepflegtes Haus nach und nach kalt und unfreundlich.

So hier das verlassene Jagdschlößchen. Seit Menschengedenken hat kein Fuß es mehr betreten. Was sollte die Gräfin Wildenau damit? Es ist so entlegen, so weit ab von allen Verkehrsstraßen, dabei so versteckt im Walde, daß es nicht einmal als Aussichtspunkt gelohnt hätte! Es stand als verlorener Posten auf den unermeßlichen Situationsplänen der gräflich Wildenauschen Güter. Es fiel der Besitzerin nicht einmal ein, es auf diesen – geschweige denn in der Wirklichkeit und auf Wegen zu suchen, die für unfahrbar und unreitbar galten.

Alljährlich wurde ein Baumeister hingeschickt, die notwendigsten Reparaturen vorzunehmen, weil es unpassend für eine Wildenau gewesen wäre, eines ihrer Schlösser verfallen zu lassen. Das war alles, was zur Erhaltung des Baues geschah. Der Garten verwilderte allmählich und wuchs mit dem Forst und dieser mit ihm so zusammen, daß die Zweige der Bäume an die Fenster des Hauses schlugen und die letzten spärlichen Sonnenstrahlen wie eine grüne Hecke ringsumher absperrten. Ein Schloß für ein Dornröschen, aber ohne die Schläfer darin! Da gefällt es dem Schicksal, daß ein süßes Geheimnis in der Brust seiner Besitzerin ein solches Dornröschenversteck bedarf, um dort zu träumen, den seltsamsten Traum, den je, seit Danae in ihres Gottes Armen geruht, ein Weib geträumt!

Sie sucht und findet den verlorenen Punkt auf ihren Karten, und mit der Energie, welche die Gewohnheit, alles zu können, was man will, verleiht, schafft sie eine geheime Furt durch das Grieß, die nur ein vertrauter alter Kutscher kennt, und kein Mensch weiß, wo sich die Gräfin Wildenau aufhält, wenn sie plötzlich auf Tage aus der Gesellschaft verschwindet. –

Ueberhaupt ist es auffallend, wie verändert die Gräfin Wildenau ist, seit sie von ihrer Reise in den Orient zurückgekehrt. Man spricht in der Gesellschaft ernstlich von einer romanhaften Aventüre oder von einer religiösen Exaltation, in die sie vor Jahren durch das Ammergauer Passionsspiel versetzt worden! Da sie ja auch die Reise ins Gelobte Land unmittelbar von dort aus angetreten habe! – Und wie kein Meer so weit – und kein Berg so hoch, daß nicht der Klatsch seinen Weg darüber fände, so fand er ihn auch sogar über das heilige Grab hin nach den Salons der Residenz!

Ein Herr, ein Bekannter von dem und dem, hat auch eine Orientreise gemacht und in Jerusalem auf dem Heiligen Grab eine verschleierte, etwas ekstatisch hingegossene Dame gesehen, die niemand anderer war als die Gräfin Wildenau! Das wäre nun nichts Merkwürdiges gewesen! Aber neben der Dame kniete ein Herr mit so ausgeprägtem Christuskopf, daß man hätte meinen können, es sei der Grabentflohene selbst, der sich im Himmel nicht wohl fühle und reuig zu der verlassenen Ruhestatt zurückkehre, um sich wieder hineinzulegen.

Wie interessant! Die nach Romantik dürstende Phantasie der Gesellschaft verarbeitete natürlich diese Nachricht mit Begierde!

Der Herr mit dem Christuskopf, wer konnte es anders sein als der Ammergauer Christus? Das stimmte auch damit, daß in jenem Sommer so plötzlich die Passionsspiele unterbrochen wurden, und zwar wegen Erkrankung des Christus, – wie die Ammergauer sagten, die es trefflich verstehen, ihre Geheimnisse nach außen zu wahren. Aber da sie die Inkonsequenz begehen, hin und wieder ihre Töchter in die Stadt zu geben, ventiliert ein oder das andere Gemeindegeheimnis, mehr oder weniger entstellt, durch die Toilettenzimmer der Gebieterinnen solcher Ammergauer Kammerjungfern.

So zuckte auch da und dort ein unsicheres Licht über die Ammergauer Katastrophe auf. Der Christus sei nicht krank – er sei verschwunden – durchgegangen – und eine hohe Dame mit ihm: » Quel scandale!«

Aber siehe, da tauchte eines Tages die Gräfin Wildenau wieder auf – nach einer drei Jahre langen Orientreise –, zerstreut, religiös angehaucht, aber ohne wirkliche Frömmigkeit. Denn das Christentum ist nicht zu haben in einem Anlauf religiös-erotischer Ekstase mit ihren süßen Täuschungen – in harter Arbeit täglicher Selbstopferung nur ist es zu erringen –, aber davon wußte eine Natur wie die Wildenau noch nichts!

Sie kam also zurück, anders als sonst – und doch nur insofern, als ihr eigenes Ich, das die Leute ja nicht kannten, noch potenzierter war denn früher!

Aber sie kam allein! Wo hatte sie ihren bleichen Christus gelassen? Alle Nachforschungen blieben erfolglos. – Was konnte man da sagen? Zu beweisen war nichts – und überhaupt: bewiesen oder nicht – welch eine Anklage hätte die Gräfin Wildenau gestürzt? Das wäre eine Arbeit gewesen, zu der selbst ihren Feinden die Ausdauer fehlte.

Denn es ist ganz amüsant, wenn man in aller Geschwindigkeit durch das leicht hingeworfene Wort einen Menschen moralisch vernichten kann! Sowie aber eine Mühe, wie die Erbringung eines Beweises, damit verknüpft ist, wird man aus Trägheit gutmütig – läßt von seinem Opfer ab und sucht sich ein anderes, bequemeres.

So erging es der Gräfin Wildenau. Ihre Machtstellung blieb nach wie vor unangetastet, ja der Reiz ihrer Erscheinung wirkte noch anziehender als früher. War es die lange Zeit, während deren man sie vermißte, oder hatte sie sich verjüngt? Genug – es war ein Schmelz süßer Weiblichkeit über sie ausgegossen, der sie unwiderstehlich machte.

In welch geheimem Schacht des menschlichen Herzens und Empfindens sammelte sie die Diamantstrahlen, von denen es in ihren Augen funkelte wie von verborgenen Schätzen, auf die zum erstenmal das Tageslicht fällt?

Wenn ein Weib ein geheimes Glück im Busen trägt, da scharen sich die Männer mit einer Art instinktiver Eifersucht desto enger um sie, sie möchten dem unsichtbaren Nebenbuhler das süße Besitzrecht streitig machen, die edle Beute abjagen. Das liegt so in der menschlichen Natur. Einer aber wollte es mit Bewußtsein, nicht in instinktiver Eifersucht, sondern mit dem vollen intensiven Entschluß ausdauernder Treue – der Prinz! – Aber mit ruhigem Bedacht und der ihm eigenen klugen Beherrschung verfolgte er sein Ziel. Nicht mit Liebeswerbungen, denn er wußte zu gut, daß Liebe kein Mittel gegen Liebe ist! – Im Gegenteil, er wählte einen andern Weg, den des kalten Verstandes!

»Solange sie in der Glut ist, bleibt sie gegen jedes andere Gefühl unempfindlich – zuerst muß sie abgekühlt werden bis zum Gefrierpunkt, dann nimmt man den erstarrten Vogel behutsam an die Brust und gibt ihm neue Wärme!«

Es wird lange dauern, bis es so weit kommt, – aber er versteht zu warten! –

Indessen zog er die Gräfin in einen Taumel von Vergnügungen der auserlesensten Art hinein.

Kein Wort, kein Blick verriet den noch hoffenden Liebhaber! Mit der Miene eines Mannes, der für sich abgeschlossen hat und zu sehr Weltmann ist, um eine interessante Frau deshalb zu meiden, weil er nicht bei ihr reüssierte, trat er ihr nach ihrer Rückkehr wieder gegenüber. Hätte er auch nur den Schimmer einer Empfindung gezeigt, er wäre ihr in ihrer damaligen Stimmung widerlich geworden! Aber die absolute Unbefangenheit und Ruhe, mit der er den »alten Freund« und nichts weiter spielte, machte ihn ihr zu einer Wohltat, ja zum Lebensbedürfnis! So war er ihr unzertrennlicher Begleiter – ihr Schatten, und erstickte schon durch das Ansehen seiner Person jeden verleumderischen Hauch, der gegen die schöne Freundin von Ammergau herüberwehte.

Anfangs hatte sie nach ihrer Rückkehr die Grille – wie sie es selbst nannte, sich aus der Gesellschaft zurückzuziehen und mehr auf ihren Gütern zu leben. – Aber da war es die kluge Umsicht des Prinzen, die sie davon abhielt:

»Um Gottes willen, tun Sie das nicht! Wollen Sie den Gerüchten über Ihre Ammergauer Episode und Ihre sich daran knüpfende Wallfahrt nach Jerusalem freies Spiel geben, indem Sie sich in die Einsamkeit zurückziehen und so Ihren Verleumdern das Feld selbst räumen, daß sie sich nach Belieben auf der verlassenen Stätte Ihres ehemaligen Glanzes tummeln können?«

Das war sein Argument: »Jetzt gerade erst recht müssen Sie Ihre alte Stellung in der Welt wieder einnehmen, sonst sind Sie – verzeihen Sie mir die Offenheit – eine gefallene Größe!«

Die Gräfin erschrak auffallend bei dem Gedanken.

»Oder – haben Sie irgend ein Wolkenkuckucksheim, dessen Genüsse die Welt für Sie aufwiegen?« fragte er mit unerbittlicher Konsequenz.

Diesmal errötete die Gräfin tief bis unter die zitternden aschblonden Stirnlöckchen hinein.

Seitdem wurden die Salons des Palais Wildenau wieder mit Rosenduft parfümiert, – beleuchtet und dekoriert mit echauffierend warmer, orientalischer Pracht, und lebhaft murmelnd ergoß sich der bunte Strom der Gesellschaft hinein. – Diamantenfunkelnd, von der eigenen, jahrelang nicht mehr erprobten Schönheit trunken, erschien die Gräfin als ihr Mittelpunkt – indessen droben auf dem einsamen Jagdschloß hinter dem unwegsamen Grieß der einsame Mann, den sie da hinauf verbannt, vergebens der Herrin – der Gattin harrte. –

Das Laub im Forst bräunt sich seit ihrer Rückkehr von Jerusalem schon zum sechstenmal, der Herbststurm weht zu den Bergen von welken Blättern immer neue herein, sie zu Wällen um das verwahrloste Gemäuer auftürmend, immer kälter, immer einsamer wird es dort oben, immer wärmer dort unten in den Salons, immer geselliger das Palais Wildenau mit seinen persischen Vorhängen und Teppichen und seinen lauschigen Eckchen hinter bunten Paravants. – Immer enger rückt man da um die flackernden Kaminfeuer zusammen, die bleiche Gesichter purpurn anhauchen und müde Augen aufleuchten lassen wie in flammender Leidenschaft. Da sitzen sie herum, auf niederen Fauteuils ausgestreckt, die Freunde und Freundinnen der Gräfin, im intimen Kreis. Die Herren, ausruhend von der Jagd – oder den Herbstmanövern –, die Damen von den ersten Soireen und Bällen der Saison, die um so mehr anstrengen, als man es noch nicht wieder gewohnt ist und die Toilettenfragen bei so frühen Bällen geradezu nervenaufregend sind!

»Was soll man machen? Mit vorjährigen Kleidern die beginnende Saison zu eröffnen, ist geradezu deprimierend, und neue kann man nicht anschaffen, weil man um diese Zeit ja noch nicht einmal weiß, was diesen Winter porté sein wird? Die Nouveautés aus Paris sind noch nicht da! Man muß also eine nichtssagende Toilette ohne cachet tragen, in der man sich unsicher fühlt und die man nachher wegwirft, weil doch etwas ganz anderes aus Paris kommt, als man sich's versehen hatte.« –

So plaudern die Damen, und Gräfin Wildenau ist ganz bei der Sache, sie kennt und teilt diese Leiden, obgleich sie eigentlich jetzt, wie die Damen meinen, nicht »mitreden« kann, da sie einen Vorrat kostbarer orientalischer Stoffe und Stickereien mitgebracht hat, aus denen sich für Jahre Toiletten anfertigen lassen, die kein anderer Mensch hat und die tout ce qu'il-y-a de plus exclusif sind! Denn nur kleine Leute brauchen sich nach der Mode zu richten, – große Damen richten die Mode nach sich und die Kostbarkeit der Stoffe gewährleistet für das, was allzu extravagant und phantastisch erscheinen dürfte! Eine Gräfin Wildenau darf sich solche Toiletten » hors ligne« erlauben. Sie hat das Recht, den Ton auch darin anzugeben, und man würde es ihr gern nachmachen, wenn man könnte, aber dazu fehlt einesteils der Geschmack – andernteils die Kasse. – Die Gräfin ist so liebenswürdig, die neidischen Komplimente der Freundinnen bescheiden abzulehnen, ihre Gedanken sind aber indessen abgeschweift; ihr Auge sucht ein Pastellbild neben dem Kamin, einen Knaben von wunderbarer raphaelischer Schönheit, und ruht einige Sekunden wie selbstvergessend darauf.

»Was ist das für ein Kind?« fragt eine der Damen, die dem Blick gefolgt war.

»Kennen Sie es nicht?« antwortet die Gräfin, träumerisch lächelnd. »Es ist das Christuskind der Sixtinischen Madonna!«

»Ach, wie merkwürdig, – wenn Sie einen Sohn hätten, könnte man meinen, es sei sein Bild, so ähnlich sieht es Ihnen.«

»Finden Sie?« erwidert die Gräfin. »Ja, das fand der Künstler auch, der es mir kopierte, er machte es mir deshalb zum Geschenk und überraschte mich damit.« Sie steht auf und nimmt ein anderes kleines Bild von der Wand: »Sehen Sie, das bin ich als Kind von drei Jahren – es hat wirklich etwas Aehnlichkeit!«

Die Damen stimmen sämtlich überein, auch die Herren, froh, die Toilettenfrage abgebrochen zu sehen, treten herzu und bewundern die merkwürdige Aehnlichkeit zwischen dem Mädchen- und dem Knabenkopf.

»Es ist in der Tat das Christuskind der Sixtina – sehr schön gemalt!« sagt der Prinz.

»Apropos, Cousine!« ruft eine scharfe, dünne Stimme zwischen zwei schmalen Lippen unter einem rotblonden Schnurrbart hervor, über des Prinzen Schulter weg, »wissen Sie, daß Sie auf Ihrem eigenen Grund und Boden solch ein Modell herumlaufen haben?«

Die Gräfin stellt mit einer auffallend nervösen Handbewegung die Kopie beiseite und eilt, ihr eigenes Kinderbild wieder an seinen Platz zu hängen. Die Herren wollen ihr dabei behilflich sein, sie läßt es sich aber nicht abnehmen, obgleich sie es nicht recht geschickt macht und dadurch der Gesellschaft ungebührlich lange den Rücken kehrt.

»Es ist wohl möglich – ich kann mich nicht erinnern,« spricht sie währenddessen, »ich kann nicht alle Kinder meiner Gutsleute kennen!«

»Ja,« beharrt die schnarrende Stimme weiter, »es ist ein Knabe, der sich auf Ihrem Jagdschlößchen im Grieß herumtreibt.«

Die Gräfin wird plötzlich erdfahl.

»Apropos, Jagdschlößchen,« – spricht der Vetter weiter, – er ist einer von den enterbten Wildenaus, – »Sie könnten mir das Ding wohl überlassen, Cousine! Ich will Ihnen nur gestehen, ich habe das alte Rattennest neulich ein wenig ausgespürt. Schlierheim will seine Jagden jenseits der Staatswaldungen verpachten, aber ohne Jagdhütte, nur bis zu Ihrer Grenze. Wir würden die Jagd pachten, meine Brüder und ich, wenn wir das alte Wildenausche Jagdschloß wieder dazu kriegen könnten. Wir sind gern bereit, Ihnen den höchsten Preis zu zahlen, den das Ding wert ist. Sie wissen ja, daß es ehemals zu unserer Linie gehörte und erst vor vierzig Jahren von Ihrem verstorbenen Gemahl erworben wurde. Damals war es für uns wertlos, aber jetzt möchten wir das Schlößchen wieder zurückkaufen.«

Die Gräfin friert und muß Holz nachlegen! Sie weiß nicht wie? aber unwillkürlich ist sie in die Nähe des Prinzen gekommen, als stelle sie sich unter seinen Schutz. Ihre Schulter lehnt sich kaum merklich an die seine, sie ist zum Erschrecken bleich.

»Die Erinnerung an ihren verstorbenen Mann greift sie immer so an!« kommentiert der Prinz.

»Nun, wir sprechen ein andermal darüber, ma belle cousine!« sagt Vetter Wildenau und beschwichtigt seine Wünsche einstweilen durch ein Glas Chartreuse, das der Diener serviert.

Das wachsame Auge des Prinzen verfolgt die kleine Scene mit gespannter Aufmerksamkeit.

»Hatten Sie nicht vor, Gräfin,« wirft er jetzt mit scharfer Betonung ein, »Ihrem Papa das Schlößchen als Aufenthalt herzurichten, weil ihm die Stadtluft bei seinem Zustand nicht gut tut?«

»Ja, allerdings – ich – wir sprachen neulich davon,« stammelt die Gräfin, »mir ist überhaupt das Ding lieb – ich möchte es nicht missen.«

»So, – lieb ist es Ihnen? Aber verzeihen Sie – das sieht man ihm nicht an! Ich dachte, Sie legten keinen Wert mehr darauf – so wenig gepflegt ist das Ganze!« meint der Vetter.

»Ja, eben das liebe ich – ich will es so haben,« – antwortet die Gräfin gereizt. »Es braucht ja nicht alles künstlich zugestutzt zu sein! Es ist eben ein Waldidyll!«

»Ein Waldidyll?« wiederholt der Vetter, »hm! – Ah so! – Das ist etwas anderes – verzeihen Sie – hätte ich das gewußt, so würde ich den Punkt gar nicht berührt haben!« Er küßt ihr mit einem seltsam funkelnden Blick der stechenden grauen Augen die Hand und empfiehlt sich.

Die andern glauben, nun auch gehen zu müssen, und die Gräfin hält niemand zurück, – sie ist offenbar sehr abgespannt.

Auch der Prinz geht – der Form halber, – aber mit einem Ausdruck freundschaftlicher Besorgnis flüstert er ihr zu: »Ich komme wieder!« – Und er hält Wort.

Es ist eine Stunde später. Die bleiche Frau ruht in einem einfachen Hauskleid auf dem Diwan.

Der erste Blick des Prinzen streift im Vorübergehen das Tischchen, auf dem das Pastellbild des Christuskindes gestanden – es ist weg!

Die Gräfin folgt seinem Blick und sieht, daß er es vermißt, – ihre Augen treffen sich gegenseitig. Der Prinz nimmt sich leise einen Stuhl und setzt sich neben sie, wie an das Lager einer Kranken, die eben operiert worden ist und Schonung bedarf. Er ist selbst sehr blaß. Er rückt ihr sanft die Kissen im Nacken zurecht und schaut ihr teilnehmend in das Gesicht.

»Warum haben Sie mir das nicht früher gesagt?« flüstert er nach einiger Zeit kaum hörbar, »das hätte alles ganz anders angefangen werden müssen!«

»Prinz, wie konnte ich denken, – daß Sie so groß – so edel« – sie kann nicht vollenden, die Augen niederschlagend, liegt das schöne Weib da, wie in Glut getaucht vor Scham.

Er betrachtet sie ernst, und was er in diesem Augenblick fühlt, das ist der erste, große Schmerz seines Lebens, aber auch die Erkenntnis, daß er mit diesem Geschöpf, das da vor ihm liegt wie eine von feinster Künstlerhand gemeißelte Magdalenenstatue, nicht rechten kann, – weil er sie lieben muß – jetzt in ihrer süßen Verwirrung mehr und zärtlicher denn je!

»Madeleine!« sagt er leise und sein Hauch zieht kühlend über ihre Stirn hin, »wollen Sie sich mir anvertrauen? Es wird Ihnen leichter werden!«

Sie nimmt seine Hand zwischen ihre feinen durchsichtigen Finger und schlägt die Augen bittend zu ihm auf mit einem Blick voll holder Weiblichkeit, wie ein Mädchen, wie ein unschuldiges Kind, das um kleiner Sünde willen büßt: »Lassen Sie mir mein Geheimnis!« fleht sie in so rührender Verlegenheit, daß es dem Prinzen fast die Besinnung raubt.

»Gut,« sagt er, sich mühsam fassend, »ich frage nichts weiter und dränge mich nicht in Ihr Geheimnis. Aber, wenn Sie je eines Freundes bedürfen – und ich fürchte, der Fall wird eintreten –, dann, bitte, machen Sie keine weiteren Unbesonnenheiten und denken Sie daran, daß Sie an mir einen Freund haben, der neben einem warmen Herzen einen genügend kalten Kopf besitzt, um für Sie zu handeln, wie es diese schwierige Situation erheischt! – Adieu, chère amie! Ruhen Sie sich gut aus!«

Ohne eine Antwort abzuwarten, gleich dem erfahrenen Arzt, der seinen Patienten nur verordnet, was ihnen gut tut, ohne sich auf Gespräche mit ihnen einzulassen, – ist er verschwunden.

Beschämt – niedergedrückt von der Größe dieses Charakters bleibt die Gräfin zurück. – Hätte sie ihm am Ende doch lieber die Wahrheit sagen sollen?

Sollte sie ihm nicht sagen, daß sie verheiratet sei? Verheiratet! Ist sie es denn? Kann man das verheiratet nennen? Sie hat sich und Freyer eine Komödie vorgespielt, an die sie von ihrem Standpunkte aus selbst nicht glauben kann.

Sie waren auf der Flucht von Ammergau nach Prankenberg geeilt, hatten den alten Pfarrer in Begleitung von Josepha und einem Kutscher, der im Dienst der Familie ergraut war, als Zeugen, auf seinem Zimmer überrascht und vor ihm erklärt, daß sie sich zur Ehe nähmen!

Der alte Herr wußte sich vor Schreck und Verlegenheit nicht zu fassen, aber was war zu machen? Die Gräfin berief sich auf den Ritus des Tridentiner Konzils, laut dessen sie und Freyer nach dieser Erklärung Mann und Weib seien, auch ohne Trauungsakte und Dimissorialien. Da konnte der loyale, im Dienste der Prankenbergs wie seiner Kirche ergraute Seelsorger nicht mehr anders, als die Tatsache anzuerkennen, die Ehe als formgültig geschlossen zu erklären und ihnen die Trauscheine einzuhändigen.

So, am Frühstückstisch, über der dampfenden Kaffeetasse des beim Morgenimbiß gestörten Pfarrers, war das Bündnis geschlossen worden, das der gute Pfarrer nachher als einen Ehebund ins Kirchenregister eintragen sollte. Aber auch dieser äußere Beweis der Ehe zwischen der verwitweten Gräfin Wildenau und dem Ammergauer Bildschnitzer Freyer war aus dem Wege geräumt, denn die Gräfin hatte recht, als sie ihrem Vater nicht traute und den Rat der heimlichen Eheschließung nur für eine Kriegslist hielt, sie vorderhand von einem öffentlichen Schritt abzuhalten.

Schon auf der Rückfahrt vom Geistlichen sauste ihr Wagen an dem des Fürsten vorbei.

Zehn Minuten später stürmte der Fürst wie ein Ungewitter dem alten friedlichen Pfarrer ins Zimmer, und es gelang ihm, diesen wenigstens dahin zu bringen, daß er den »Skandal«, wie er es nannte, nicht in das Kirchenbuch eintrug. – So blieben die äußeren Beweise der Sache auf die in den Händen der Gatten befindlichen Trauscheine, ferner die beiden Zeugen Josepha und den fürstlichen Leibkutscher Martin beschränkt, freilich eine Kette, die sich Madeleine Wildenau an den zarten Fuß gebunden, – die sie aber noch immer in ihrer Gewalt behielt!

Was war also nun diese Ehe? Wie würde ein Mann wie der Prinz sie betrachten? Würde sie in den Augen des Skeptikers und erfahrenen Weltmannes nicht eine ganz andere Physiognomie haben als in denen des naiven Naturmenschen, der alles, was glänzt, für Gold nimmt? Ist eine solche Ehe, die nur im Genuß, – nicht aber in der Ausübung derjenigen Rechte und Pflichten besteht, welche sie zu einer sittlichen Institution erheben, ist sie besser als ein unsittliches Verhältnis? Nein, eher schlechter, denn sie begeht noch einen Gottesraub dazu, – sie ist ein unsittliches Verhältnis, das sich einen sakramentalen Namen gestohlen hat!

Aber – was ist das? Heute zum erstenmal ist ihr zu Mute, als könnte das Schicksal der Sache die sittliche Bedeutung aufdrängen, die sie ihr nicht freiwillig zugestand, – als könne die Gottheit, deren Namen sie dabei mißbraucht hat, sie beim Wort nehmen und sie zwingen, aus dem Spiel Ernst zu machen!

Ihr besseres Ich gesteht es sich unverhohlen zu, daß dies nur eine moralische Gerechtigkeit wäre! Vor dieser großen Wahrheit beugt sie das Haupt, wie die üppig schwellende Aehre vor dem nahenden Hagelwetter.

Eine unerklärliche Schwüle liegt trotz des kalten Herbstabends über ihr.

Es war etwas in dem kurzen Gespräch mit dem Vetter Wildenau und besonders in der Art, wie der Prinz mit seinem klugen Ueberblick die Episode auffaßte, was die Gräfin erschreckte und beängstigte.

Wie kommt jener Wildenau auf ihr Jagdschlößchen? Wie kommt er zu dem Kinde?

Wie konnte sie aber auch so unvorsichtig sein, – das Bild hinzustellen! – Und doch, – es ist ja das raphaelische Christuskind. Wenn man nicht einmal mehr einen raphaelischen Kinderkopf in seinen Salons haben darf, ohne zu riskieren, daß irgend jemand eine kompromittierende Aehnlichkeit entdeckt!

Empört springt sie auf und richtet sich in ihrer vollen Größe empor: Wer ist sie denn? Und was fürchtet sie denn?

»Nur nicht kleinlich werden, Madeleine!« ruft sie sich selbst zu! »Weh dir, wenn du die Sicherheit verlierst, dann bist du verloren! Wenn du der Bestie Fama nicht fest ins Auge blickst, wenn du nur mit den Wimpern zuckst, zerreißt sie dich. Werde nicht kleinlich, Madeleine, und gib dich nicht Skrupeln hin, sie verraten dich, sie machen den Blick scheu, die Haltung unruhig und die Stirn bei jedem Zufallswort erröten! Aber« – sie sinkt wieder in sich zusammen, – »aber es ist leider heute schon geschehen, diese ganze Gesellschaft kann hingehen und sagen, daß sie die Gräfin Wildenau erröten sah und in Verlegenheit geraten, – und warum? weil von einem Kind die Rede war – –!«

Ihr schaudert, – sie bebt in sich zusammen, und ein stöhnender Schmerzenslaut entringt sich ihren Lippen I

»Und doch bist du da, mein Kind – und ich kann dich nicht aus der Welt schaffen – und keine Mutter hat je einen solchen Sohn geboren. – Und ich, statt stolz auf dich sein zu dürfen, muß mich deiner schämen!

»Gott, du gabst mir alles: den Mann, den ich geliebt, ein herrliches Kind, – und alle Macht, allen Reichtum der Erde – und dennoch keine Befriedigung – kein Glück! – Was ist es denn, was mir fehlt?« Lange sitzt sie in dumpfem Sinnen, da plötzlich wird es ihr klar! Das moralische Gleichgewicht von Leistung und Gegenleistung ist es, was ihr fehlt! Deshalb ist all ihr Glück nur Diebstahl, und wie ein Dieb, in Angst und Heimlichkeit, muß sie es genießen! Diebstahl ist ihr Mutterglück – denn Josepha, die Fremde, vertritt Mutterstelle an dem Knaben, und wenn sie selbst ihn ans Herz drückt, so muß sie sich eine Liebe stehlen, die sie sich nicht verdient hat. – Diebstahl ist ihr Vermögen, denn wenn sie verheiratet ist, darf es ihr nicht mehr gehören, – Diebstahl ist ihr eheliches Glück, denn solange sie ihr Vermögen besitzt, darf sie nicht verheiratet sein! – Das ist der Fluch! Wohin sie blickt, wo immer sie sich sieht, ist sie die Nehmende, die Begehrende – und sie, was gibt sie dafür? – wo ist ein Opfer ihrer selbst, das sie gebracht? Nichts – und nirgends! Egoismus in allem! – Alles genießen – alles besitzen, auch das Verbotene und nichts opfern, so mußte sie schließlich zur Diebin werden, vor sich, vor Gott – und wer weiß, vielleicht auch noch vor den Menschen, wenn ihr Geheimnis je entdeckt würde!

»Wehe dir, Unselige – hast du nicht die Kraft, das eine für das andere hinzugeben? Lebst du lieber in der Angst des Betrügers, als deinen Raub freiwillig zu lassen? Dann dünke dich nicht groß, nicht hoch – und nicht der Gnade wert, die du ersehnst!«

Sie birgt das Gesicht in die Kissen des Diwans, ihr Körper bebt unter der Wucht ihrer Selbstanklage.

»Ich bitte um Entschuldigung, Erlaucht, ich wollte nur fragen, was Erlaucht zur Abendtoilette befehlen?«

Die Gräfin fährt auf. »Wenn Sie sich nur endlich das leise Gehen abgewöhnen wollten!« fährt sie unwillig die Kammerjungfer an.

»Ich bitte um Vergebung, ich habe zweimal geklopft, da glaubte ich das ›Herein‹ überhört zu haben.«

»Gehen Sie auf richtigen Sohlen, daß man Sie hören kann – ich liebe es nicht, von meinen Leuten umschlichen zu sein wie von Spionen, merken Sie sich das!«

»Bei Prinzessin Hohenstein mußten wir alle Filzsohlen tragen. Durchlaucht konnten gar kein Geräusch ertragen!«

»Nun, ich habe bessere Nerven als Prinzeß Hohenstein.« – »Und wie es scheint, ein schlechteres Gewissen,« schaltet bei sich die Zofe ein, der die Verwirrung der Herrin nicht entging.

»Darf ich nochmals fragen wegen der Abendtoilette?«

»Straßenkleid, – ich gehe nicht ins Theater. Ich fahre auf die Güter. – Der alte Martin soll einspannen!«

Die Zofe entfernt sich.

Die Gräfin glüht wie im Fieber, – mußte diese Neugierige sie in solch einer Situation sehen! Ihr ist auf einmal zu Mute, als wäre sie umstellt wie ein Wild, als lauere überall ein Auge ihr auf.

Es war etwas im Blick dieser Person, was ihr nicht gefiel – Gott, Gott, so weit ist es mit ihr – vor dem Blick ihrer Kammerjungfer muß sie sich fürchten!

Auf, und hinaus in die Natur und zu ihrem Kinde, zu dem armen, vernachlässigten Mann dort oben! – Schwer fällt es ihr auf die Seele, daß es bald nach Monden zählt, seit sie zuletzt bei dem Verlassenen war.

Schon beginnt das Interesse für den einfachen Naturmenschen zu erkalten, sie kann es sich nicht leugnen – wehe ihr, wenn auch die Liebe noch erkalten würde; geschähe dies, dann – sie fühlt es mit Entsetzen –, dann hätte sie keine Entschuldigung mehr für die ganze sinnlich-übersinnliche Episode, die ihre Ehre und ihre Existenz gefährdet!


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