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Elftes Kapitel. Maria und Magdalena

»Am Kreuz –« war das eine Tröstung oder eine Drohung? Wer entziffert ihr diese Rune? Es geht wohl damit wie mit allen Orakelsprüchen, erst das Geschick erklärt ihren Sinn, und wenn dies geschehen, dann ist es auch zu spät, dann sind sie schon in Erfüllung gegangen! – Die Gräfin sitzt noch immer regungslos unter dem alten Laubdach: Am Kreuz erst hat ihr Geschick begonnen, das ist sicher! Bis dahin war sie eine blinde Niete, vom Rad des Zufalls umgetrieben wie Tausende. In einen Zusammenhang mit dem planvoll anordnenden göttlichen Gedanken ist sie erst in der Stunde getreten, da sie Joseph Freyer am Kreuz sah! Wird sich ihr Geschick, wie es begonnen, auch vollenden am Kreuz? Es rieselt ihr eiskalt über den Rücken. Sie liebt das Kreuz, seit es den Geliebten trug, aber was soll es weiter in ihrem Leben! Und was wollte die bleiche Askese damit bei ihr? Warum all dies schwere schmerzliche Ahnen, was sich nur rechtfertigen würde, wo ein Konflikt mit ernsten Pflichten oder zwingenden Verhältnissen vorhanden wäre? Warum sollen sie sich nicht lieben, sie sind ja beide frei! – Aber da ist es, sie will ihn nicht nur lieben, sie will ihm gehören und er soll ihr gehören. Nach Vollendung sehnt sich das liebende Weib, nach Vollendung ihres Geschicks in ihm! Wie soll sie zu dieser Vollendung gelangen? Was geboren ist in der Sittlichkeit, kann nicht bestehen in der Unsittlichkeit! Das weiß, das fühlt er, und das ist der Grund seiner Strenge. Daher ihr Weh, daher der Besuch der unheimlichen Trösterin und deren Mahnung an das Kreuz. Aber muß denn das schönste Glück, die volle Knospe der Liebe deshalb am Kreuz dahinwelken, weil sie am Kreuz entsprossen? Gibt es keinen andern heiligen Boden, auf dem sie gedeihen und sich zu höchster Blüte entfalten könnte? Gibt es keine Traualtäre, kein Sakrament der Ehe? – Die Gräfin lehnt sich zurück, als stände sie plötzlich vor einem gähnenden Abgrund. Ihr schwindelt! Es ist ihr, als umgrinse sie eine ganze Schar hohnlachender Larven und laure schadenfroh des Sprungs, den die Gräfin Wildenau tut, hinab zu einem Bauern! Sie sieht sich unwillkürlich um, als könne jemand schon den Gedanken belauscht haben! Aber alles ist leer und still. Gott sei Dank, noch ist es ihr Geheimnis!

»Ewige Vorsehung, was hast du mit mir vor?« fragt der suchende Blick in das blaue Firmament hinauf. Was soll dieser wunderbare Konflikt? Sie liebt Freyer als den Gott, den er darstellte, und kann ihn doch nur als Mensch besitzen, sie muß entweder diesem oder der Gottesillusion entsagen. Denn in dem Augenblick, wo sie ihn als Mensch besitzt, sie fühlt es, wird der Zauber gebrochen sein, und sie wird ihn nicht mehr lieben können! Der Gott steht zu hoch, um ihn herunterzuziehen, und der Mensch zu tief, um ihn zu sich emporzuheben! Ward je ein sterblich Weib so zwischen beide gestellt und ihm gesagt: »Wähle!?« Der Danae flutete der Goldregen in den Schoß, der Leda flog der Schwan zu, die Europa trug der Stier von dannen und Jupiter fragte nicht: »In welcher Gestalt willst du mich?« Aber dem höheren Bewußtsein der Christin ist die ganze Verantwortung freier Wahl in die Hand gelegt! Und was ist der Preis des qualvollen Dilemmas? Wählt sie den Gott, so muß sie den Menschen hingeben, wählt sie den Menschen, dann gibt sie den Gott hin. Welchen kann sie opfern, welchen entbehren? Sie vermag es nicht zu sagen. Sie ringt die Hände in tödlichem Kampf. Warum ihr diesen furchtbaren Zwiespalt! Hat sie zu vermessen an der Sphäre der Gottheit gesogen, daß ihr diese wie zum Hohn die Wahl läßt zwischen dem Unsterblichen und dem Sterblichen, damit sie im Kampf zwischen beiden ihre ganze Ohnmacht erkennen solle?

So scheint es! Und wie gebrochen von dem schweren Ringen, birgt sie das Gesicht in beiden Händen und ruft die bleiche Trösterin zu Hilfe, die ihr vorhin so liebevoll genaht. Aber vergebens, die Offenbarungen schweigen, sie ist allein, die Gottheit will es ihr nicht erleichtern!

»Heute sollten Sie hinaus, hinauf auf die Berge, Frau Gräfin!« ruft eine sonore Stimme ihr zu. Es ist diesmal kein blasses Schemen und keine grinsende Larve, was vor ihr steht, sondern Freund Ludwig, der ihr teilnehmend forschend ins Auge blickt. Sie faßt seine Hand:

»So oft Sie mir nahen, Freund Ludwig, muß ich Sie mit einem ›Gott sei Dank!‹ empfangen. Sie sind einer von den Menschen, deren Nähe schon für den Leidenden wohltätig ist, wie die Gegenwart des Arztes oft genügt, den Kranken zu beruhigen, ohne Medikamente.«

Ludwig setzt sich unbefangen zur Gräfin auf die Bank: »Meine Schwestern und Josepha sind in großem Kummer, weil Erlaucht noch immer kein Frühstück befohlen, und niemand traut sich, zu fragen. Da übernahm ich den gefahrvollen Auftrag, und Erlaucht können dort an der Tür sehen, wie mir die Blicke meiner Schwestern bewundernd folgen!«

Die Gräfin lacht: »Mein Gott, bin ich denn eine so gefürchtete Tyrannin?«

»Ein bißchen doch wohl!« sagt Ludwig mit Humor; »hie und da kommt so eine scharfe Zacke von einer versteckten Krone heraus. Ich habe es gestern schon auch gespürt!«

»Wann, wobei?«

»Darf ich Sie daran erinnern?«

»Gewiß!«

»Als sich Ihr ganzer Zorn gegen den armen Freyer richtete und Frau Gräfin plötzlich abreisen wollten! Da wurde ich einen Augenblick irre an Ihnen.«

»Wirklich?« sagt die Gräfin in liebenswürdiger Verlegenheit. »So habe ich mich nicht getäuscht – ich habe es gefühlt und deshalb auch mit der Absendung des Telegrammes gezögert. Man muß es bei mir mit solchen vorübergehenden Wallungen nicht so genau nehmen.«

»Ja, Frau Gräfin, aber diese kurze Wallung hätte den armen Freyer für lange unglücklich machen können. Bitte, haben Sie künftig mehr Geduld und Nachsicht mit uns! Naturen von Ihrer Macht und Ueberlegenheit, Frau Gräfin, wirken in einem Kreis kleiner Leute wie wir nur dann nicht zerstörend, wenn sie ein entsprechendes Maß von Großmut mitbringen, welches ausreicht, alle unsere Ungeschicklichkeiten zu entschuldigen. Sonst stoßen Sie uns eines Tages von der Höhe herab, auf die Sie uns gehoben, und das wäre schlimmer für uns, als wenn wir nie unserer bescheidenen Sphäre entrückt worden wären.«

»Sie haben recht!« sagt die Gräfin gedankenvoll.

»Sehen Sie, Frau Gräfin, ich fürchte, wir sind nur im stande, Ihr Interesse zu erregen, aber nicht es zu fesseln! Wir stehen uns zu ungleich gegenüber, wir empfinden und verstehen Ihren Zauber, aber wir sind zu naiv und unerfahren, um nicht von seinen tausendfach schillernden Erscheinungen geblendet und verwirrt zu werden. Deshalb, Frau Gräfin, sind Sie für uns eine ebenso große Gefahr, als ein großes Glück.«

»Hm! Ich verstehe Sie! Aber wenn ich nun euch Ammergauern zuliebe wieder zur Einfalt – und Einfachheit zurückkehren wollte?«

»Das können Sie nicht, Frau Gräfin, dazu sind Sie noch zu jung!«

»Wie meinen Sie das? Dann müßte ich es ja erst recht können?«

»Nein, denn über die Jugend, wo sich der Mensch noch neuen Verhältnissen anpaßt, sind Sie hinaus. Jetzt sind schon zu viele Triebe des Kulturwesens üppig in Halme geschossen, die ihr Recht fordern und sich nicht wieder in das Samenkorn zurückzwängen lassen, dem sie entsprossen. Erst wenn diese sich in der Welt ausgelebt haben und abgestorben sind, können sie den Humus bilden für eine neue und, wenn es Sie danach verlangt, ursprünglichere und einfachere Entwickelung! – Jeder verfrühte Versuch dieser Art würde nur für Augenblicke gelingen, und selbst diese würden eine Täuschung sein! Was aber für Sie vorübergehende Augenblicke der Täuschung wären, das würde für die, welche sie mit Ihnen teilten – zum lebenslänglichen Verhängnis. – Unsere schwerfälligen Naturen können diese graziösen Schaukelbewegungen von einer Empfindung zur anderen nicht mitmachen. Wir setzen alles an eines und verlieren es mit ihm, wenn es uns betrog.«

Die Gräfin sieht ihn ernst an.

»Sie sind ein strenger Mahner, Ludwig Groß!« spricht sie gedankenvoll. »Fürchten Sie, ich könnte mit einem von Ihnen ein Spiel treiben.«

»Ein unbewußtes, Frau Gräfin – wie die Wellen mit dem losgebundenen Kahn.«

»Nun, das wäre wenigstens kein grausames!« lächelt die Gräfin.

» Jedes Spiel, Frau Gräfin, wäre ein grausames, das eine dieser unberührten Seelen hier aus ihrer stillen Bucht risse und steuerlos hinausführte auf die hohe See der Leidenschaft.« Er steht auf. »Verzeihen Sie mir – ich erlaube mir zu viel!«

»Nicht mehr, als Ihnen meine Freundschaft das Recht gab zu sagen! Sie haben mir den Freund zugeführt: Sie haben ein Recht, mich zu warnen, wenn es Ihnen scheint, ich verschleuderte achtlos das kostbarste Gut! Aber, Ludwig Groß« – sie nimmt seine Hand – »wissen Sie, daß ich dies Gut so hoch schätze – daß ich mich selbst als Einsatz für dasselbe nicht zu hoch fände? Wissen Sie, daß Sie mich soeben im schweren Kampf um dies Problem gefunden?«

Ludwig Groß weicht einen Schritt zurück, als könne er das Wort in seiner ganzen Bedeutung nicht fassen. Er erbleicht, so ungeheuer tritt es vor ihn hin – »Wär's möglich?« stammelt er.

Sie bedeutet ihm mit einer zuckenden Handbewegung, nicht weiter zu sprechen: »Ich weiß nicht – ob es möglich ist! Aber daran, daß ich es zu denken vermochte, mögen Sie ermessen, welchen Wert Ihr Geschenk für mich hat! Um Gottes willen, keinen Hauch! Lassen Sie mir Zeit – und vertrauen Sie mir! Es sind ja in wenig Tagen hier so viele Wunder mit mir geschehen – ich gebe mich blindlings dem Augenblick hin und lasse mich führen von der ewig waltenden Vorsehung – sie wird es gut mit mir machen!«

Ludwig Groß küßt der Gräfin tief ergriffen die Hand: »Frau Gräfin, der Pulsschlag, der Sie in diesem Augenblick bewegt, muß unbewußt durch das Herz von ganz Ammergau zucken – wie es das schlummernde Kind im Traum empfindet, wenn sich eine gütige Fee seiner Wiege naht! – Und es ist auch in der Tat so, in Ihnen, Frau Gräfin, nähert sich die bewußte Kultur wieder der unbewußten Natur – es ist ein erhabener Moment, wo die höchste Bildung, wie die Fee an der Wiege, den Atemzügen des ewig Menschlichen lauscht, wo das Vollendete zu dem Born des Ursprünglichen zurückkehrt und sich aus ihm seine innere Erneuerung trinkt!«

»Ja,« ruft die Gräfin begeistert aus: »Das ist das Wort! Sie verstehen mich ganz. Alle Kultur muß sich erneuern am Quell der Natur, sonst würden ihre Lebensadern vertrocknen – denn diese ziehen ihre Nahrung doch ewig aus jenem unversiegbaren Mutterschoß! – Und wo es sich nicht im Einzelwesen vollzieht, da rächt sich das verleugnete Urelement in großen sozialen Umwälzungen, in weltgeschichtlichen Katastrophen. Nur schade, daß in solchen Phasen gewaltsamer Erneuerung die Arbeit ganzer Kulturepochen verloren geht! Deshalb muß die mit ihrer Zeit fühlende Seele in sich friedlich zu versöhnen suchen, was in der Gesamtheit die Dimensionen weltverheerender Gegensätze annimmt.« –

»Und die Versöhnung,« fällt Ludwig begeistert ein, »wo fänden wir sie anders als in der Liebe?!«

»Sie sprechen es aus, Ludwig Groß: das ist die Erkenntnis, nach der es mehr und mehr die Geister hindrängt, und deren Umrisse in Kunst und Wissenschaft immer deutlicher hervortreten. Das ist das Geheimnis der weit über das Bereich der Kunst hinausgehenden Wirkung Parsifals und, auf anderem Gebiet, der Erfolge des Passionsspiels! Dem einen geht es in jener Form auf, dem anderen in dieser! Mir ward es hier, wo mir der Urquell der Liebe selbst erschienen! – Und wie ihr, die sie mir geoffenbart, von der großen Lehre durchdrungen seid, – so will ich sie auch zunächst an euch betätigen. – Brüder! Freunde! Ich will euch beistehen in jeder Not und Drangsal, und ihr sollt sehen, daß ich nicht nur in Worten Liebe übe, sondern daß die Kraft, die auf mich eingewirkt, auch die Tat vollbringt.« – Sie faltet wie bittend die Hände: »Und wenn ich einen von euch mehr liebe als die anderen – verdenkt mir's nicht: – Je näher dem Brennpunkt, desto heißer! Er, der Eine, ist ja der Brennpunkt des großen Lichts, das von euch ausstrahlt in alle Welt! Ich stehe ihm so nahe – und sollte kalt bleiben.«

»Frau Gräfin – jetzt lasse ich alle Sorge für den Freund fallen. In Gottes Namen nehmen Sie ihn hin! Selbst wenn er vergeht in Ihrem Zauber – auch der Schmerz ist göttlich, und um Sie zu leiden, ein großes – ein hohes Geschick – tausendmal schöner und besser als die stumpfe Ruhe eines alltäglichen Glücks!« –

»Mein Gott, wann hab' ich je diese Sprache gehört?« ruft die Gräfin aus und blickt bewundernd auf den kleinen bescheidenen Mann, dessen Wangen sich färben vom Purpur der edelsten Empfindung. In schlichter Alltagsjoppe steht er vor ihr, den scharfgeschnittenen Kopf emporgehoben, das Auge suchend emporgerichtet, als verfolge es auf schwindelnder Spur ein hohes, unerreichbares Ziel.

Sie steht auf: »Es ist kein Tag und keine Stunde hier, die mir nicht Großes bringen! Weh mir, wenn ich mich der Verpflichtung, die eure Freundschaft mir auferlegt, nicht würdig zeigte, ich wäre schuldiger als jene, an die der Ruf des Idealen nie ergangen, die nie Menschen, wie euch, ins Auge geblickt!«

Ludwig reicht ihr still die Hand und hält sie lange fest in der seinen. Der durchdringende Blick seines Künstlerauges liest tief in ihrer Seele. –

Nach einer Weile unterbricht die Gräfin das Schweigen: »Dort steht noch Ihre Schwester in großer Bekümmernis um mein leibliches Wohl! Nun denn, so lassen Sie uns daran denken, daß wir Menschen sind – leider! – Frühstücken Sie mit mir!«

»Ich danke untertänigst, ich habe schon gefrühstückt,« sagt Ludwig bescheiden und winkt Sephy, sich bereit zu halten.

»So leisten Sie mir wenigstens Gesellschaft!« Die Gräfin nimmt Ludwigs Arm und geht mit ihm zur wilden Reblaube, wo gedeckt ist. Sie läßt sich nieder, das einfache Frühmahl einzunehmen. Und mit so viel Takt und Grazie weiß Ludwig Groß sie dabei zu bedienen, daß sie unwillkürlich bei sich denkt: »Das wären Bauern? Wie müßten dann wir Aristokraten sein?« Da, wie zum Hohn auf diese Betrachtung, schreitet ein Mann in Hemdsärmeln, die Joppe über der Schulter, eine Sense im Arm, am Zaun vorbei, jetzt wendet er den Kopf. »Freyer!« ruft die Gräfin, und ein Blutstrom steigt ihr ins Gesicht: Der Messias mit der Sense!

Freyer bleibt stehen: »Frau Gräfin?«

»Wo wollen Sie denn mit diesem Instrument hin, Herr Freyer?« fragt sie kalt, verlegen.

»Mein Feld mähen, Frau Gräfin!« sagt Freyer ruhig. »Ich habe gerade einmal Zeit, da will ich sehen, daß ich noch etwas Oehmd einbringe. Es geht ja während dem Passion fast alles zu Grund!«

»Aber ich bitte Sie, warum tun Sie denn das selbst?«

»Weil ich keinen Knecht habe, Frau Gräfin!« sagt Freyer lächelnd, zieht seinen Hut mit der ihm eigenen vornehmen Handbewegung und schreitet so sicher und stolz weiter unter seiner Sense, als wäre das Geschäft, das er vornimmt, eines Königs würdig. Und es ist es auch, wenn er es vollzieht! Ein neuer Blutstrom ergießt sich über die durchsichtige Stirn der Gräfin. Diesmal aber errötet sie darüber, daß sie sich einen Augenblick seiner geschämt. »Der Arme! Sein kleines Besitztum ist ein Stückchen Feld, und es sollte ihn herabsetzen, daß er von Hand zu Hand die karge Gabe der Natur empfängt, oder vielmehr sie ihr im Schweiße seines Angesichts Halm für Halm abgewinnen muß?« So sagt sie sich.

Da sieht er sich noch einmal nach ihr um und es ist, als leuchte der Blick, den Tag überstrahlend, bis zu ihr hin! Der Flammengruß einer lichten Seele! Sie winkt ihm mit weißem Arm und er lüftet noch einmal den Hut.

»Wo liegt Freyers Feld?«

»Nicht weit von uns, gerade hier draußen. Wollen Sie hingehen?«

»Nein, es würde mir weh tun! Ich mag ihn nicht ringen sehen ums tägliche Brot. Menschen wie er sollten das nicht nötig haben und es muß auch aufhören, gehe es, wie es wolle! Dafür hat Gott mich hierher gesandt, um diese Ungerechtigkeiten des Schicksals auszugleichen!«

»Das werden Sie bei Freyer nicht zu stande bringen, Frau Gräfin, er wäre längst ein reicher Mann, wenn er sich dazu entschließen könnte, etwas anzunehmen. Was glauben Sie, daß Freyer schon alles von Damen geboten worden, die aus reinen und unreinen Motiven unter dem Eindruck seiner Darstellung zu jedem Opfer bereit waren? Wahrlich, wenn je einem Menschen Armut zur Ehre gereichte, so ist er es, denn er könnte es anders haben, und statt dessen begnügt er sich mit dem kleinen Erbe seiner Väter, ein Stückchen Wald, ein Feld und ein elendes Häuschen!

»Um den Adel und die Freiheit seiner Seele zu wahren, müht er sich wie ein Knecht und bestellt Haus, Feld und Wald mit eigenen Händen!

»Sehen Sie ihn nur mähen, Frau Gräfin,« fährt Ludwig fort, »nie haben Sie einen Mann vornehmer arbeiten gesehen als ihn, wenn er auch nur die Sense schwingt.«

»Sie sind ein treuer Freund, Ludwig Groß,« sagt die Gräfin, »und ein beredter Anwalt! Kommen Sie, führen Sie mich hin!«

Rasch eilt sie ins Haus und kehrt mit einem breitschattigen Hut zurück, aus dem sie rosig, jugendlich hervorschaut wie ein Mädchen. Ihre Arme bedecken lange schwedische Handschuhe bis weit unter die halboffenen Aermel hinauf. Ueber der Schulter trägt sie einen roten Sonnenschirm, der die ganze Gestalt mit einem glühenden Schein übergießt. Es liegt etwas so Weiches, so, von innen heraus, warm Angehauchtes in der ganzen Erscheinung, wie der sammetne Schmelz eines reifen Pfirsichs, daß Ludwig Groß sie staunend betrachtet.

»Sie sind – tödlich schön!« stammelt er unwillkürlich vor sich hin und schüttelt melancholisch das Haupt, wie wenn wir einem Freund ein unabwendbares Unheil nahen sehen.

»So schön sollte kein Mensch sein dürfen!« sagt er mißbilligend.

Die Gräfin lacht gerade heraus. »O sie komischer Freund, der hinter der unliebenswürdigsten Miene die liebenswürdigsten Schmeicheleien von der Welt verbirgt. Bei Ihnen könnten ja unsere jungen Herren in die Schule gehen! Verzeihen Sie, daß ich lache,« entschuldigt sie sich, als sich Ludwigs Miene verfinstert. »Aber das kam zu unerwartet, auf solch ein Kompliment war ich hier nicht gefaßt.« Und sie kann sich nicht helfen, sie muß lachen, es ist zu unwiderstehlich!

Ludwig Groß ist tief gekränkt. Er sieht eine Frivolität in diesem Ausbruch von Heiterkeit, die seine heiligsten Gefühle beleidigt. Das sind die »graziösen Schaukelbewegungen von einer Stimmung in die andere«, wie er es heute nannte, die er für den Freund so gefürchtet und die ihn nun selbst irre machen!

Ein Moment genügt, die Gräfin davon zu überzeugen, und im nächsten hat sie sich auch schon wieder gefaßt und mit der ihr eigenen Accommodationsfähigkeit dem heiligen Ernst des Freundes angepaßt.

Ludwig Groß geht schweigend und gedrückt neben ihr her, es war etwas in diesem Lachen, worüber er nicht mehr wegkommt, wie gut er auch sonst Humor versteht! Der ernsten Frau von heute morgen hätte er den Freund hingegeben wie einem großen Geschick, der lachenden koketten Weltdame gönnt er ihn nicht, für diese ist er ihm zu gut. Und doch sagt er sich, daß vielleicht gerade Freyer ihr zu einer inneren Wiedergeburt wird und an ihr in Einfalt übt, was der Verstand der Verständigen nicht sieht.

Sie schreiten, jedes in seinen Gedanken, weiter vor das Dorf hinaus, ins Freie. Wenig Leute arbeiten draußen, denn während der Passion bleibt selten Zeit, die Felder zu bestellen.

»Dort ist er!« Ludwig Groß zeigt hinüber, wo ein Mann mit mächtigem Arm die Sense schwingt. Der Gräfin bangte vor dem Anblick und jetzt steht sie bewunderungsvoll, denn schön wie jede seiner Bewegungen ist auch diese. Das natürliche Ebenmaß, das ihm eigen, macht ihn auch hier auf dem Feld zu einer malerischen Erscheinung. So ruhig beschreiben die Arme den rhythmisch wiederkehrenden Bogen, so edel ist die leicht nach vorn geneigte Haltung des elastischen Körpers, und so leicht wird ihm die Arbeit, als sei es eigentlich nur ein anmutig gymnastisches Spiel zur Uebung der wundervollen Glieder. Die Gräfin steht lange von fern und sieht ihm zu, ohne daß er es gewahrt.

Von der anderen Seite der Wiese kommt eine weibliche Gestalt mit einem Kruge daher. Sie geht auf Freyer zu und bietet ihm den Krug zum Trunk: »Da, ich hab' dir Milch gebracht, ich hab' gedacht, du wirst durstig sein, 's macht schon heiß!« hört die Gräfin sie sagen. Es ist eine anmutige Erscheinung in schlichter, städtisch-ländlicher Kleidung. Offenbar etwas älter als Freyer, aber von edler jungfräulicher Haltung und klassisch regelmäßigen Zügen. In jeder ihrer Bewegungen liegt eine gewisse Würde und ihr Ausdruck ist ruhig und voll freundlichen Ernstes.

»Die sollte ich kennen,« sagt die Gräfin mit seltsam herbem Ton.

»Gewiß! Es ist ja die Mutter Gottes aus dem Passionsspiel, Anastasia Groß, des Bürgermeisters Schwester.«

»Richtig, die Maria!« sagt die Gräfin, und auf einmal steht es vor ihr, wie sich die beiden, Mutter und Sohn, in den Armen gelegen, viel länger, als ihr nötig erschien. Was ist das für ein nie gekannter Schmerz, der sie jetzt durchzuckt? »Die beiden gehören wohl zusammen?« fragt sie mit stockendem Atem.

»Wer kann es wissen. Man glaubt, daß sie ihn liebt, aber aus Freyer wird ja kein Mensch klug!« sagt Ludwig.

»Ich begreife nicht, Sie sind doch Duzfreunde, daß Sie so etwas nicht wissen!«

»Ich glaube, Frau Gräfin, wenn wir Ammergauer eine gute Eigenschaft haben, so ist es die der Diskretion. Wir fragen auch den intimsten Freund nichts, was er uns nicht von selbst anvertraut!«

Die Gräfin sieht beschämt vor sich nieder. Nach kurzem Kampf sagt sie mit tödlicher Härte und Bitterkeit: »Sie hatten recht, heute früh, man muß den Mann in seiner Sphäre lassen! Kommen Sie, kehren wir um!« Ein Blitz aus Ludwigs Augen trifft sie bis ins Innerste. Sie wendet sich nach dem Dorf zurück. Aber schon hat Freyer sie bemerkt und sie mit Gedankenschnelle erreicht. »Wie, Frau Gräfin, Sie hier? Und –« sein Auge senkt sich mit wildem Schmerz fragend in das ihre, als er die Kälte darin gewahrt, »und wollen mich so verlassen ohne Gruß? Schämen Sie sich des armen Bauern, der sein Gras mäht? Oder beleidigt Sie mein Anzug?« Er ist so unbefangen, daß er ihre Verstimmung nicht einmal richtig deuten kann und sie ganz anders auslegt. Dem seinen Instinkt der in Liebessachen so erfahrenen Frau entgeht dies nicht. Aber wenn ein Tropfen Galle der Eifersucht ins Blut gedrungen, da bedarf es einer Zeit, bis er resorbiert ist, auch wenn die Ursache des Uebels längst beseitigt. Das ist eine alte Erfahrung, ebenso wie die, daß, wenn der Prozeß vorüber, die Neue um so süßer und die Liebe um so leidenschaftlicher wird. Aber der arme, schlichte Mann in seiner Unbefangenheit kann das alles nicht ahnen. Er schämt sich nur, der Gräfin in Hemdärmeln gegenüber zu stehen, und bemüht sich mit zitternden Fingern, den Kragen zu schließen, den er bei der Arbeit geöffnet und der Hals und Brust malerisch freigab. Er merkt es nicht, daß das künstlerische Auge der Gräfin trotz des kalten Blickes das berauschende Gift seiner ganzen erhitzten Schönheit trinkt. Es ist, als höre man wie leises Meeresrauschen das heiße Blut gegen die Wandungen seiner stolzgewölbten Brust schlagen. Die Arbeit, die steigende Sonne und die Aufregung haben die sonst so majestätisch ruhige Blutwelle in ihm zum Ueberschäumen gebracht. Sie schimmert jetzt als rosiges Leben durch den asketisch bleichen Körper und die schwellenden Adern drängen sich in tausend kleinen schönen Wellenlinien hervor wie warme rieselnde Quellen aus weißem Gestein. In Glut getaucht stehen die beiden da, eines sie auf das andere zurückstrahlend, eines sie vom anderen einsaugend.

Aber mit der Grausamkeit der Liebe, die auch an dem Schmerz, den sie zu bereiten vermag, die Größe der Gegenliebe ermessen will, bändigt die schöne Frau die Flamme, in der sie bei diesem Anblick entbrennt, und sagt gleichgültig: »Wir haben Sie bei einem Tete-a-Tete gestört, wir wollen den Fehler gut machen und uns zurückziehen!«

»Frau Gräfin!« ruft er mit einem Blick, der zu sagen scheint: ist's möglich, kannst du so ungerecht sein! »Meine Mutter, Maria, war bei mir, sie hat dem Sohn etwas zur Erquickung bei der Arbeit gebracht, warum sollen Sie dabei stören?«

Mit dem einfachen Wort, das doch für sie einen so seinen Doppelsinn birgt, ist alles erklärt und sie fühlt zu ihrer tiefsten Beschämung, daß er sie verstanden hat und daß sie ihm recht klein erscheinen muß.

Ludwig Groß zieht die Uhr: »Sie verzeihen, es ist bald neun Uhr. Ich muß in meine Zeichenschule.« Er grüßt und geht, ohne der Gräfin wie sonst die Hand zu geben. Sie empfindet es wie eine Strafe, und eine Stimme in tiefster Brust sagt ihr: Du mußt noch sehr viel besser werden, bevor du dieser Menschen würdig bist!

»Wollen Sie die Maria nicht kennen lernen? Darf ich sie Ihnen vorstellen?« fragt Freyer, als sie allein sind.

»Ach, es ist nicht nötig!«

»Wie, Sie behaupten, den Sohn zu lieben und interessieren sich nicht für die Mutter?«

»Es ist nicht Ihre Mutter!« sagt die Gräfin.

»Und ich bin nicht Christus! Warum wirkt die Täuschung nur bei mir und nicht bei Maria?«

»Weil sie bei Ihnen vollkommen war, bei jener aber nicht!«

»Um so mehr müssen Sie sie kennen lernen, denn was an ihrer Darstellung fehlte, wird ihre Persönlichkeit ergänzen!«

Die Gräfin schaut düsteren Blicks hinüber nach der hochgewachsenen Jungfrau, die einstweilen die Sense genommen und für Freyer weiter arbeitet.

»Sie scheint Ihnen sehr ergeben zu sein?« wirft die Gräfin zweideutig hin.

»Ja, gottlob, wir halten treu zusammen!«

»Sie nennen sich ja auch ›du‹!«

»Ja, das tun wir Ammergauer alle, wenn wir miteinander in die Schule gegangen sind.«

»Das ist eine komische Sitte! Tut das Vornehm und Gering?«

»Bei uns gibt es kein Vornehm und Gering. Wir sind hier alle gleich, Frau Gräfin! Daß der eine ärmer, der andere reicher ist, der eine mehr für Bildung und äußere Erscheinung tun kann, als der andere, das macht bei uns keinen Unterschied, und wenn er's täte, so wäre es für mich eine Ehre, mit Anastasia auf du und du zu sein, denn sie und die ganze Familie Groß stehen in dieser Hinsicht weit über mir. Der Bürgermeister ist auch in Ihrem Sinn, Frau Gräfin, ein vornehmer Herr, kein Naturmensch wie ich, sondern ein Mann von Formen und vollendeter Bildung.«

»Nun,« bricht die Gräfin aus, »warum heiraten Sie denn die Dame nicht, wenn sie doch so ausgezeichnete Eigenschaften besitzt?«

»Heiraten?« Freyer schreckt zurück, als habe ihn aus dem schönen Gesicht der Gräfin plötzlich etwas Häßliches angeblickt, »daran hab' ich noch nie gedacht!«

»Warum nicht?«

»Der Christusdarsteller die Maria? Der Sohn die Mutter? Nein, wenn wir auch nicht sind, was wir vorstellen, das wäre mir unmöglich. Ich habe mich so daran gewöhnt, sie als meine Mutter zu betrachten, es wäre mir geradezu eine Profanation!«

»Nun aber, wenn die Spiele zu Ende sind, nächsten Winter, da wäre es doch etwas anderes.«

»Und das sagen Sie mir, Sie, Frau Gräfin, nach diesem Morgen?« ruft Freyer mit bebender Stimme. »Ist das Ihr Ernst?«

»Gewiß, ich kann doch nicht verlangen, daß Sie um meinetwillen etwaige ältere Herzenspflichten hintansetzen sollen!«

»Frau Gräfin! Wenn ich ältere Herzenspflichten hätte, würde ich heute so zu Ihnen gesprochen haben, würde das geschehen sein, was heute geschah? Glauben Sie so etwas von mir? Sie schweigen? Wahrlich, Frau Gräfin, das mag in Ihren Kreisen Sitte sein, aber nicht in den meinen!«

»Freyer, vergeben Sie mir!« stammelt die Gräfin erbleichend.

Freyer hält die Hand über die Augen, als blende ihn die Sonne, um seine aufsteigenden Tränen zu verbergen.

»Wonach suchen Sie?« fragt die Gräfin, die glaubt, er schütze die Augen, um bester sehen zu können.

Da wendet er ihr voll das schmerzbewegte Antlitz zu: »Ich schaute aus, wo meine Taube von heute früh wohl hingeflogen sein mag, ich finde sie nicht mehr! Oder hab' ich alles nur geträumt?«

»Freyer!« ruft die Gräfin überwältigt und legt ihren Arm in den seinen und ihren Kopf ohne Rücksicht auf die Umgebung an seine pochende Brust: »Joseph, deine Taube ist nicht fortgeflogen, da ist sie ja, nimm sie wieder an dein Herz und halte sie, ewig, ewig, wenn du willst!«

»Frau Gräfin!« mahnt Freyer gewissenhaft: »Nehmen Sie sich in acht, da sind überall Leute!«

Die Gräfin erhebt den Kopf. »Macht es dir etwas?« fragt sie beschämt.

»Mir nicht, aber Ihnen. Ich habe nach niemanden zu fragen und könnte ja nur stolz sein auf Ihre Gunstbezeigungen, aber denken Sie, was man in Ihren Kreisen sagen würde, wenn es hieße, Sie hätten an der Brust eines Bauern geruht.«

»Ihr seid keine Bauern, ihr seid Künstler!«

»In den Ihren, aber nicht in den Augen der Welt. Und wenn wir auch Leidliches auf dem Gebiete der Schnitzerei und im Passionsspiel leisten, so lange wir so arm sind, daß wir unser Feld bestellen müssen und das Holz zu unseren Bildwerken selbst aus dem Wald herbeischaffen, so lange werden wir für Bauern gelten und niemand wird Ihnen glauben, daß wir etwas anderes sind! Man wird es Ihnen nur zum Vorwurf machen, sich mit so ungebildeten Leuten eingelassen zu haben!«

»O, das werde ich vor der ganzen Welt vertreten!«

»Das würde wenig nützen, geliebte Seele! Gott behüte mich, daß ich mich jemals so weit vergäße, mit deiner Liebe vor den Menschen zu prahlen, oder dich etwas tun zu lassen, was von ihnen falsch beurteilt würde und mir vor der Welt nicht zukommt. Was wir uns sind, versteht nur Gott, und darum soll es auch in seinem Schoß begraben sein, und kein profaner Blick soll es entweihen.«

Die Gräfin schmiegt sich bewundernd an ihn. Sie denkt, an so manche Verlegenheit, welche die Indiskretion eitler, von ihr begünstigter Männer ihr bereitet, und die zarte Bescheidenheit dieses Mannes erscheint ihr so ritterlich und vornehm dagegen, daß sie vor ihm niedersinken möchte.

»Taube, hab' ich dich wieder?« sagt er in ihre Augen schauend. »Täubchen, du böses, süßes! Tu mir nie wieder so weh und unrecht. Ich fühl' es, du könntest mir einmal das Herz brechen!« Und er drückt ihren Arm leise an sich und zieht verstohlen ihre Hand an seine brennenden Lippen.

Sie aber überläuft eine selige Glut unter dem gedämpften leidenschaftlichen Liebesgeflüster. Und wie mit jedem Sonnenstrahl die Centifolie reicher erblüht und mit jedem entfalteten Blatt eine neue Schönheit offenbart, so die Seele des vom Gottesstrahl wahrer Liebe getroffenen Weibes. »Komm,« sagt sie plötzlich, »führe mich zu dem guten Wesen, das so liebevoll für dich sorgt, und vielleicht um dich leidet! Jetzt zieht es mich zu ihr und ich will sie lieben um deinetwillen als deine Mutter, Maria!«

»So, mein Kind, jetzt bist du deiner würdig! Ich wußte es ja, du bist groß und edel! Komm, meine Magdalena, ich führe dich zu Maria!«

Und mit raschen Schritten haben sie das Feld erreicht, wo Anastasia emsig schafft. Als diese die Fremde nahen sieht, läßt sie das geschürzte Kleid herab und macht sich ein wenig zurecht. Ohne jede Befangenheit läßt sie die Gräfin auf sich zukommen und streckt ihr freundlich die Hand entgegen. Auch in ihrer Haltung ist etwas Herablassendes, was der vornehmen Frau besonders auffällt. Mit großen treuen Augen sieht sie die Gräfin an, so ruhig und gerade, daß diese unwillkürlich die ihren niederschlägt, als hielte sie den Blick dieser klaren Seele nicht aus. Das schlicht gescheitelte braune Haar, die weichen, kaum markierten Brauen, die Reinheit der Züge und die jungfräuliche Hoheit der edlen Stirn, alles stimmt zu dem Eindruck der Himmelskönigin, welcher der Gräfin im Passionsspiel entgangen war. Sie ist schön und tadellos geschaffen vom Scheitel bis zur Zehe, und dennoch ist nichts an ihr, was auch nur die leiseste Eifersucht erwecken könnte. Es ist etwas so Temperamentlos-Abgeklärtes in dem ganzen Wesen, – etwas, die Gräfin kann es nicht anders bezeichnen, so Aeltlich-Vernünftiges, daß sich die schöne Frau ihres Argwohns von vorhin schämt. Jetzt erst versteht sie, was Freyer meinte, als er von dem mütterlichen Verhältnis zwischen ihr und ihm sprach. Sie ist das echte Madonnenbild, zu dem die Blicke gläubig und ehrfurchtsvoll aufschauen, aber welches kein Mann verlangen wird, ans Herz zu drücken! Sie wird wohl nicht viel älter sein als die Gräfin, höchstens zwei, drei Jahre; im Vergleich zu ihr jedoch ist diese welterfahrene Frau ein unreifes, ungestümes Kind. Das fühlt die Gräfin mit der heimlichen Genugtuung, die es jedem Weib gewährt, sich jünger zu empfinden als eine andere. Deshalb erträgt sie auch das Uebergewicht, welches Anastasia in ihrer edlen Ruhe über sie behauptet. Ja, sie ordnet sich ihr mit einer koketten Naivetät unter, die sie um so jugendlicher erscheinen läßt. Doch in dem Augenblick, wo sie sich in der kindlichen Rolle gefällt, wird sie auch innerlich davon ergriffen! Sie steht vor der Muttergottes!

Das ewig Weibliche hatte für sie nie einen Reiz, sie verstand es in keiner Form. Keiner raphaelischen Madonna, selbst nicht der Sixtina konnte sie je Geschmack abgewinnen. Ihr vermochte nur ein Weib Interesse einzuflößen, welches sie sich in den Armen eines Mannes denken und heimlich beneiden konnte, das Gegensatzlose, die asketische Schönheit einer Immaculata lag außerhalb ihrer Sphäre. Jetzt, zum erstenmal in ihrem Leben, interessiert sie sich für eine Erscheinung dieses Typus, weil es ihr auf einmal offenbar wird, daß die Jungfrau zugleich die Mutter des Erlösers ist. Und wie ihr die Empfindung für Christus erst durch die Liebe zu Joseph Freyer kam, so kommt ihr auch die Pietät für Maria erst, seit sie sich diese als seine Mutter denkt! Sie, das innerlich arme Weib, was nie eine Mutter und nie ein Kind gehabt, sie empfindet in dem Augenblick, wo sie mit gewohnheitsmäßiger Koketterie die Kindliche spielt, plötzlich unter dem Einfluß ihres Gefühls für den geliebten Mann das Wahre an der Komödie und ihr Herz erschließt sich dem heiligen, geheimnisvollen Zusammenhang von Mutter und Kind! So wächst sie von Stunde zu Stunde aus ihrer Sinnen- und Weltbefangenheit heraus, milde getragen und emporgehoben durch die Kraft der Erd' und Himmel versöhnenden Liebe!

Sie hält mit der einen Hand das Mädchen, mit der andern Freyer. »Ich wollte doch auch die liebe Mutter unseres Christus kennen lernen!« sagt sie mit jener sich hold unterordnenden Grazie, die der Augenblick sie gelehrt. Freyers Blick ruht segnend auf ihr. Sie hat ein Gefühl, als wüchsen ihr Flügel an den Schultern, sie fühlt sich schön, gut und geliebt, mehr kann die Erde nicht geben.

Das Mädchen betrachtet die aufgeregte Frau mit dem freundlich prüfenden Blick einer barmherzigen Schwester. Wie überhaupt das ganze Wesen an eine solche erinnert: resigniert, ohne Sentimentalität, sanft und doch tatkräftig, bescheiden und doch imponierend!

»Ich habe Sie sehr –« die Gräfin will sagen »bewundert«, aber es ist nicht wahr, sie bewundert sie erst jetzt! Die Gräfin bleibt mitten im Satz stecken, sie mag in diesem Augenblick keine Phrasen machen. Mit sicherem Anstand, wie eine Fürstin, welche Audienz erteilt, kommt ihr Anastasia zu Hilfe, indem sie gewandt die Pause ausfüllt: »Frau Gräfin sind zum erstenmal hier?«

»Ja!«

»Da hat es Sie gewiß sehr ergriffen?«

»O, wer könnte kalt bleiben, wenn er das erlebt!«

»Nicht wahr, unser Christus?« sagt Anastasia stolz lächelnd. »Er kostet die Menschen viele Tränen! Muß doch sogar ich immer wieder weinen und hab' es in die dreißigmal mit ihm gespielt!« Und sie streicht ihm zärtlich, mütterlich mit der Hand über die Stirn, als wolle sie ihn trösten für alles, was er erlitten! »Ist es nicht, als ob man den Erlöser selbst sähe?«

Die Gräfin betrachtet sie mit wachsender Teilnahme. »Sie sind eine schöne Seele! Ihr Freund hatte recht, man muß Sie persönlich kennen lernen, um den vollen Eindruck der Maria zu bekommen!«

»Ja, nicht wahr, ich spiele zu schlecht!« sagt das Mädchen in ihrer natürlichen Bescheidenheit, ohne auf die Schmeichelei der Gräfin zu reagieren.

»Nein, – schlecht – ist nicht das Wort! Aber die feinen Schattierungen der zarten Weiblichkeit gehen verloren in dem großen Raum,« erklärt die Gräfin.

»Das mag sein,« erwidert Anastasia einfach. »Aber es ist auch ganz gleich, wir andern könnten spielen, wie wir wollten – er trägt ja doch das Ganze!«

»Und dein Bruder, Anastasia, und die anderen alle – vergißt du die ganz?« sagt Freyer ablehnend.

»Ja, liebes Fräulein!« Die Gräfin nimmt Freyers Hand. »Ich habe meine Seele diesem Christus hingegeben, – aber auch Ihres Bruders Leistung ist ein Kunstwerk! Mich dünkt, Sie sind ungerecht gegen ihn. Auch gegen Pilatus, den ich bewunderte, die Apostel und Hohenpriester.«

»Das mag sein! Ich weiß gar nicht, wie die andern spielen,« – sagt Maria mit einer geradezu großartigen Ehrlichkeit: »Ich sehe nur ihn, und wenn er nicht auf der Bühne ist, kümmere ich mich um nichts. Das macht eben, weil ich seine Mutter bin: einer Mutter geht ja der Sohn über alles!« fügt sie heiter hinzu.

Die Gräfin sieht sie staunend an: Ist's möglich, daß ein Weib so lieben kann, ohne zu begehren? Und wahrlich, es ist so! Denn wenn nur der Schatten eines Verlangens nach dem geliebten Mann durch die Seele dieses Mädchens gezogen wäre, könnte sie nicht mehr diese krystallhelle Durchsichtigkeit und Unbefangenheit haben!

»Glückliche Naturen, diese Madonnen!« denkt sie bei sich, und dennoch neidet sie ihr diesen wunschlosen Frieden nicht.

Sie zieht mit großer Mühe den langen Handschuh aus und streift einen Ring vom Finger: »Bitte, nehmen Sie dies von mir als Zeichen eines stillen Bundes, der uns vereint in der Liebe für Ihren – Sohn! Wir wollen gute Freunde sein!«

»Von Herzen gern!« sagt Anastasia in schöner Freude und reicht der Gräfin die gebräunten Finger, den Ring daran zu stecken. »Was wird mein Bruder sagen, wenn ich so beschenkt heimkomme!« Sie küßt der Geberin dankbar die Hand. »Frau Gräfin sind zu gütig, – ich weiß gar nicht, wie ich das verdiene!« – Sie bückt sich und nimmt ihren Krug auf. – »Aber jetzt muß ich nach Haus, der Schwägerin helfen. Nicht wahr, Sie besuchen uns auch einmal – mein Bruder wird sich gewiß sehr freuen.«

»Gern – wenn Sie erlauben!« sagt die Gräfin lächelnd.

»Ich bitte darum!« verbessert das Mädchen taktvoll. Dann, mit edlem Anstand, schreitet sie über die Felder dahin und winkt den beiden Zurückbleibenden noch wiederholt aus der Ferne, als wolle sie sagen: »Seid glücklich!«


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