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Viertes Kapitel. Ausgeschlossen vom Spiel

Das Wetter hat ausgetobt, leise singen sich die besänftigten Lüfte selbst in Schlaf, ein freundliches Antlitz schaut wieder aus dem zerteilten Gewölk herab und wirft sein mildes Licht auf die sich allmählich verlaufenden Wasser. Wie flüssiges Silber fluten die geschwollenen Bäche dahin, kaltglitzernde Adern der gigantischen Bergkörper, die nach dem Gewitter schneebedeckt und silberschimmernd in das bleiche Mondlicht hineinstarren. Ein Hauch, streng und stählend wie der Eiseshauch der Ewigkeit, weht von den weißen Firnen herab und dringt durch das kleine Fenster herein, an dem die Gräfin träumerisch lehnt.

Und immer voller und reiner steigt die Mondesscheibe empor, immer durchsichtiger, immer verklärter werden die Berge, als wären sie keine kompakte Masse mehr, nur das geistige Bild ihrer selbst, wie es dem göttlichen Schöpfungsgedanken vorgeschwebt haben mag, bevor er sie im Stoff gestaltete. –

Still liegt das Dorf und Stille über der ganzen Natur! Und doch ist es der Gräfin wie das Schweigen Eines, der sich sammelt vor einer großen entscheidenden Rede.

»Was hast du mir zu sagen, Unsichtbarer? Heilige Stille, was verheißest du mir? Wird der Augenblick kommen, wo ich deine Sprache verstehe, unermeßlicher Geist? Oder wirst du dein Werk nur halb an mir tun, nur die Empfindung wecken, daß du mir nahe bist und zu mir redest, um mich dann vergehen zu lassen vor Sehnsucht nach dem unverstandenen Wort?«

»Weh mir, wenn es so ist! Und doch! Wozu hast du mir dieses Sehnen in die Brust gelegt, dies unerklärliche Verlangen, das nichts stillt, kein irdisches Gut, nicht Glanz und Größe, die du mir gabst, nicht Kunst noch Wissenschaft, die zu verstehen du mich fähig schufst? Weiter, weiter strebt die dürstende Seele, nach dem Kern alles Wesens, nach dir! Dir will ich ins Antlitz blicken, dir selbst, und müßt' ich an dem Flammenbild vergehen! –

»Urquell der Weisheit, kein Wissen gibt dich mir; Urquell der Liebe, kein Lieben kann dich mir ersetzen! Ich hab' dich gesucht in den Tempeln des Schönen, aber nicht gefunden; in den lichten Sphären des Gedankens, aber vergebens; in der Liebe der Menschen, aber wie viele Herzen sich mir auch erschlossen, ich warf sie weg wie blinde Nieten, denn du warst nicht darin! Wann wird der Augenblick kommen, wo du in eigenster übermächtiger Gestalt vor mich hintrittst und der Sünderin sagst, daß ihr dunkler Drang, welche Irrwege er sie auch geführt, ihr dennoch die Gnade erwirkt, dein Angesicht zu schauen?« Ein paar heiße Tränen funkeln im Mondlicht in den großen fragenden Augen der Gräfin, und, von einem unerklärlichen Gefühle überwältigt, sinkt sie an dem kleinen Fenster in die Kniee und streckt die gefalteten Hände inbrünstig zu dem leuchtenden Gestirn empor, das in milder Schöne und Klarheit über dem besiegten, entfliehenden Gewölk schwebt. Da drüben ragt geisterhaft das Gebirge in den monddurchleuchteten Aether, der Fels, an dem sie heute vorbeifuhr, wo sie jene wunderbare Erscheinung hatte, jenen Mann mit der trauernden Weltseele im Blick! Was muß das für ein Mensch sein, dessen Auge in einem einzigen Moment den, welchen es trifft, faßt, als habe eine höhere Macht ihn mahnend angeschaut? Warum hat dieser Blick so eigentümlich vorwurfsvoll auf ihr geruht, als wolle er sagen: »Du bist auch ein Weltkind wie viele, die unwürdig des Heils hierher kommen.« Oder zürnte er ihr, daß sie ihn da oben in seinen weltfernen Träumereien aufgestört hatte? Und doch, warum versenkte er diesen Blick so ganz in den ihren, daß keiner mehr vom anderen lassen konnte? Und das alles nur ein Moment, – aber ein Moment, wert, eine Ewigkeit darüber nachzusinnen! – Wer mag er sein? Wird sie ihn wiedersehen? Ja, denn in dieser Begegnung liegt etwas, das weit über den Zufall hinausgeht!

Und eine unerklärliche Unruhe erfaßt sie, eine Sehnsucht, das Rätsel zu lösen, das Gesicht noch einmal zu sehen, das merkwürdige, wie sie noch keines sah! –

Nebenan im Stall stampft das Pferd, sie beachtet es nicht mehr, die dünnen Kerzen sind längst herabgebrannt und erloschen, in dem uralten Wandgetäfel nagt der Holzwurm, drüben vom Kirchturm schlägt es Zwölf. In der Ferne heult ein Hund und eines der Kinder draußen in der Werkstatt wird vom »Schrättchen« gedrückt, es wimmert bang im Schlaf. Sonst hätte dergleichen nächtliches Geräusch die Nerven der Gräfin aufs empfindlichste gereizt. Jetzt hat sie kein Ohr dafür, vor ihr liegt die ganze große Gebirgsnatur im Mondschein da, nackt wie ein edler Leib, der einer leuchtenden Flut entsteigt! Und ein Verlangen ergreift sie, sich diesem edeln Leib an die Brust zu werfen, um auch licht zu erstrahlen, von seinem feuchten Schimmer genetzt, und an dem eisigen reinen Hauch, der von ihm ausgeht, das heiße Blut zu kühlen, das unbestimmte Sehnen, das ihre Pulse schwellt. Und rasch nimmt sie Hut und Mantel und tritt leise hinaus in die Werkstatt. Welch ein armseliges Bild! Da liegen auf der Erde die Schwestern und das kleine Mädchen auf Strohsäcken. Auf dem »Ruhebett« schläft der Bube und in einem steifen Großvaterstuhl der alte Mann aufrecht sitzend, die Füße auf einem Schemel.

»Wie doch alles relativ ist,« denkt die Gräfin. »Für diese Leute ist der Gedanke an ein so schlechtes Bett, wie das meine da drinnen, ein verbotener Luxus, den zu begehren sündhafte Ueppigkeit wäre. Und wir, zwischen unseren rauschenden Gardinen, auf unseren seidenen Pfühlen, sanft gewiegt im weichen Flaum, magisch beleuchtet vom schmeichelnden Lampenschein, der mit rosigem Schimmer die behaglich sich dehnenden Glieder übergießt, während die bronzenen Engel, die den Spiegel tragen, leise kichern und vom Toilettentisch berauschende Parfüms ihr süßes Gift herübersenden, um eine tropische Blütenwelt vor die dämmernden Sinne zu zaubern. Und hier diese Schlafstätten! Auf nackter Erde und Stroh, beleuchtet vom kalten Schimmer des Mondes, der durch die gardinenlosen Fenster scheint und die Schläfer unruhig mit den Lidern zucken läßt! Nicht entkleidet, gezwängt von den plumpen, engen Gewändern, krümmen sich die müden Glieder mühsam auf dem harten Lager! Und diese Atmosphäre! Fünf Menschen in dem niederen Raum und der Ruß der blakenden Lampe von heute abend, der noch die Luft erfüllt. Was für Existenzen! Was für Kontraste! Und doch sind diese Menschen zufrieden und beklagen nicht ihr hartes Los! Ja, sie verschmähen sogar die günstige Gelegenheit, es durch erlaubten Gewinn zu verbessern. Keiner will mehr als Brauch und Herkommen ist! Welch ein Stolz, welch eine Größe der Entsagung gehört dazu! Was gibt ihnen diese Kraft

Der alte Andreas erwacht und sieht fast erschrocken die wundervolle Gestalt der Gräfin sinnend zwischen den Schlummernden stehen. Er springt auf und fragt nach ihrem Begehr.

»Herr Groß, wollen Sie mit mir spazieren gehen?« Der Alte reibt sich die Augen, um sich zu überzeugen, ob er denn so lange geschlafen habe, daß die Sonne am Himmel stehe? Aber, nein: »Es ist der Mond, der so hell scheint,« erklärt er der Gräfin.

»Ja natürlich, deshalb will ich eben hinaus in die Natur!« bekräftigt sie nochmals. Der alte Herr hat schnell seinen Hut vom Gemshaken genommen und steht bereit. »Sind Sie nicht müde?« fragt die Gräfin zögernd, »Sie kommen ja nie in ein Bett!«

»O, das macht nichts,« ist wieder die bekannte Antwort des Alten. »Im Passion weiß man das nicht anders!«

Die Gräfin schüttelt den Kopf, sie weiß nun schon, daß man hier schlechtweg »der Passion« sagt, aber daß man »im Passion« weder ein Bett noch irgend eine der unscheinbarsten Bequemlichkeiten verlangen dürfe, daß man für »den Passion« jede Anstrengung und Entbehrung ohne zu murren und ohne zu erliegen ertragen müsse, das geht über ihr Verständnis. Sie sieht in dem taghellen Zimmer das frische wache Luchsauge des Alten. »Nein, diese Ammergauer kennen keine Ermüdung, ihre Aufgabe trägt sie!«

Die Gräfin verläßt mit ihm das Zimmer. »Ah!« ein unwillkürlicher Ausruf des Entzückens entgleitet ihren Lippen, als sie hinaustritt in die taghelle Mondespracht. Mit vollen Zügen trinkt sie diese Luft, die rauschend, allumfangend an sie herandrängt, hart und streng, aber doch zärtlich sich anschmiegend, stärkend und tragend wie Meereswogen. Und mitten aus dem flimmernden, schwebenden Duft, aus diesem ›Meerleuchten‹ der Erde, diesem Wogen zerfließender Konturen, weich gelöster Formen, – ragt einsam, scharf abgehoben, schroffkantig der Kofel empor wie ein ungeheures Felsenriff, und oben auf dem Gipfel blinkt das metallbeschlagene Kreuz, das Ammergauer Wahrzeichen, wie der Lichtkern eines Leuchtturms weithin erstrahlend im Sonnenglänz des Vollmonds! –

Die Gräfin breitet die Arme aus und schlägt den Mantel zurück, auf daß ihr ganzer Körper sich bade in dem reinen Element.

»O spüle hinweg allen Erdenstaub und Erdenballast, du rauschende Woge, stähle, reinige mich in deiner keuschen Majestät, Königin des Erdballs, himmelentstammte Höhenluft!« War es denn möglich, daß sie bisher leben gekonnt ohne diese Seligkeit, hat sie denn bisher gelebt? Nein, nein! Sie hat es nicht! »Ammergau, du bist der Boden, den ich gesucht! Deine Wunder, sie beginnen!« jubelt es in der Seele des aus den Banden müder Blasiertheit erlösten Weibes.

Ohne viel zu sprechen, denn der alte Mann ist feinfühlig und sieht, was in der Gräfin vorgeht, steuern sie unwillkürlich der Richtung des Kofel zu, nur manchmal, wenn sie an das Haus eines hervorragenden Passionsspielers kommen, hält er für seine Pflicht, die Gräfin aufmerksam zu machen.

Jetzt führt der Weg sie an einer kleinen, ganz baufälligen Spelunke vorbei, die nur zwei Fenster Front hat. Hier hält der römische Statthalter auf schwellendem Strohlager die wohlverdiente Nachtruhe, es ist das Haus des Pilatus! Nirgends ist ein Fenster durch Läden geschlossen, denn Diebe gibt es in Ammergau nicht! In allen Scheiben spiegelt sich der Mond. Sie biegen in die Hauptstraße des Dorfes ein, wo die Ammer breit und tief gebettet hindurchfließt wie eine venetianische Lagune. Scharfe Schlagschatten werfen die stattlichen, malerisch gelegenen Häuser am Wasser hin. Da ragt mit weit ausgebauchtem Erker der alte, ehrwürdige »Stern« in die Straße herein, dessen Wirt bei der Musik ist: dort führt ein Steg hinüber nach dem Wege zum Hause des Kaiphas, ein stolzes Haus, reich geschmückt mit Fresken aus der alten Geschichte; weiter hinaus schläft Judas den Schlaf des Gerechten, froh in dem Bewußtsein, seinen Herrn so und so oft getreulich verraten zu haben! Dort drüben ruht Maria unter der reichgeschnitzten Dachfirst mit dem altehrwürdigen Kleeblattzeichen, als Symbol der Dreieinigkeit, und gerade gegenüber winken und nicken die Kreuzesblumen von der Friedhofsmauer herab!

Der Gräfin ist es seltsam zu Mute, mitten unter diesen heiligen Schläfern! Wie der Duft der schlummernden Blumen über dem nächtlichen Garten schwebt, so entsteigt den armseligen Schlummerstätten der wehmütige Geist der Passionsgeschichte, und der Pilgerin durch das stille Dorf ist es, als wandle sie durch die Straßen Jerusalems. Links biegt zwischen eingezäunten Gärten mit hohen, alten Bäumen eine Straße ein. Zauberhaft schwanken und tanzen die Schatten der vom Wind bewegten Zweige herüber und hinüber. »Dort geht's zum Christus,« sagt der alte Groß mit ehrfurchtsvoll gedämpfter Stimme.

Die Gräfin durchzuckt es unwillkürlich. »Zum Christus,« wiederholt sie gedankenvoll und bleibt stehen, »kann man das Haus sehen?«

»Nein, von hier nicht, es geht mit seinem Haus wie mit ihm selbst, es ist nicht so leicht zu finden!«

»Ist er so unzugänglich?« fragt die Gräfin und blickt im Vorbeischreiten nochmals die geheimnisvolle Straße hinab.

»O ja,« sagt Andreas. »Er ist ein eigener Mensch. Es ist ihm schwer beizukommen. Mein Sohn ist ein Freund zu ihm, aber mit uns anderen hat er wenig!«

»Aber Sie verkehren doch mit ihm?«

»So im Leben selten, er geht nirgends hin, nicht einmal zum Bier. Aber im Passion, da hab' ich schon mit ihm zu tun, ich nagle ihn immer ans Kreuz!« sagt der Alte stolz. »Und das darf ihm auch niemand anderer machen als ich!«

Die Gräfin horcht mit gespannter Aufmerksamkeit. Die kurze Charakteristik hat ihr Interesse aufs höchste erregt. »Wie machen Sie denn das?« fragt sie, um den Faden weiter zu spinnen.

»Ja, wissen Sie, das kann ich Ihnen nicht so explizieren, aber es kommt halt viel darauf an, daß da alles in Ordnung ist, denn wissen Sie, das kleinste Versehen könnt' ihm 's Leben kosten!«

»Wieso?«

»Ach, das ist ja bekannt! Denken Sie, der Mann muß zwanzig Minuten so ausgespannt am Kreuz hängen. Dadurch kann natürlich das Blut nicht zirkulieren und er riskiert jedesmal einen Herzschlag. Eine unvorsichtige Bewegung bei der Kreuzesabnahme, wodurch das Blut zu rasch zum Herzen zurückströmt, kann sein Tod werden!«

»Das ist ja furchtbar!« sagt die Gräfin entsetzt. »Und das weiß er?«

»Ja natürlich!«

»Und tut es dennoch

Herr Andreas schaut die Gräfin mitleidig lächelnd an, als wolle er sagen: »Wie bist du zurück, daß du so etwas fragen kannst!«

Sie gehen schweigend weiter. »Welch ein Mensch muß das sein?« denkt die Gräfin, und wie sie so sinnt und bemüht ist, sich ein Bild von ihm zu machen, da kommt es ihr auf einmal, daß es nur ein Gesicht gibt, welches zu diesem Menschen paßt, das, was sie heute, vom Berg herunter, anschaute wie aus einer anderen Welt! Wie ein Blitz flammt es ihr durch die Seele: » Das muß er sein!«

In dem Augenblick schlägt der Alte einen Bogen um ein düsteres Haus mit einem unfreundlichen, verwilderten Vorgarten.

»Was ist da?« fragt die Gräfin, erstaunt dem Bildhauer folgend, der jetzt bedeutend rascher geht.

»Ach,« sagt der Alte traurig, »da drin schaut's bös aus! Da ist ein unglückliches Mädel, das stöhnt und weint die ganzen Nächte, daß man's bis heraus hört! Das wollt' ich der Frau Gräfin ersparen.«

Sie haben jetzt das Ende des Dorfes erreicht und gehen immer längs der Ammer einem großen Wehr zu, wo sich das vom Regen geschwollene Gebirgswasser wild tosend und brausend herabstürzt. Blendend weiß leuchtet der schäumende Gischt im Mondschein, die mächtigen Balken erzittern unter dem Hochdruck der entfesselten Wassermasse, sie ächzen und knarren unheimlich durch das donnernde Brausen hindurch, daß es klingt wie das Geheul Sterbender durch das Tosen der Schlacht! Der Gräfin graut es vor der dämonischen Gewalt dieses Schauspiels. Hoch über dem jähen Absturz führt ein schmaler Balken von einem Ufer zum anderen. Der ist in beständiger Vibration. Der Gräfin schwindelt bei dem Gedanken, ihn betreten zu müssen.

»Das Gebälk ächzt,« sagt sie, stehenbleibend. »Ist es nicht wie eine Menschenstimme?«

Der Alte horcht. »Man könnt's, bei Gott, glauben!«

»Es ist auch eine Menschenstimme – da – hören Sie's – es weint – es wimmert!«

Das Wehr liegt im vollen Mondlicht, die Gräfin und ihr Begleiter stehen verdeckt von einem dichten Weidengebüsch, so daß sie sehen können, ohne gesehen zu werden.

Da plötzlich – was ist das? Der Alte schlägt ein Kreuz. »Jesus, das ist sie!«

Eine weibliche Gestalt huscht über den Steg. Wie roter Feuerschein sich mit blauem Mondlicht mischt, so flammt ihr eine Fülle rotgoldner Haare ums Haupt und flattert aufgelöst im Wind. Das schöne Gesicht gespenstisch bleich, die Augen starr, ein Bild der Verzweiflung. Das Oberkleid hängt zerrissen über die weich geformten Schultern herab. Sie hält die gerungenen Hände empor, nicht wie jemand, der betet, sondern wie jemand, der beten möchte und nicht kann. Dann schreitet sie mit der Sicherheit eines den Tod Suchenden bis zur Mitte des schwanken Stegs, wo das Wasser am tiefsten, der Absturz am schroffsten ist, dort hält sie an zum Sprung, die Gräfin schreit laut auf und: »Josepha!« tönt es von den Lippen des Bildhauers. »Josepha, Gott verzeih dir's, denk' an dei' alte Mutter!«

Da stößt das Mädchen einen durchdringenden Schrei aus, verhüllt sich mit beiden Händen das Gesicht und wirft sich auf dem schmalen Balken nieder.

Aber mit der Schnelligkeit eines Jünglings ist der Alte auch schon auf dem Steg und hebt das Mädchen auf. »Schäm' dich, daß d' so was tun willst! Ma muaß sich auch in sein Schicksal finden! Jetzt paß mir fein auf, daß d' nit derneben trittst, sonst muaß i alter Mann noch in das kalte Wasser springe, um di wieder 'raus z'holen, und du weißt's ja, i leid so am Rheumatis!« So spricht er leise und freundlich zu der Unglücklichen und die Gräfin bewundert im stillen die Klugheit und Zartheit des alten Mannes. Atemlos sieht sie, wie das Mädchen sich auf diese Worte hin Mühe gibt, nicht zu fallen, um ihn zu schonen. Und weil sie nun nicht stürzen will, geht sie jetzt unsicher und strauchelnd, wo sie vorhin zu fliegen schien. Aber Andreas Groß führt sie sicher und gut. Der Gräfin schlägt das Herz, bis sie da sind, und in höchster Angst streckt sie der Geretteten schon von weitem die Arme entgegen. »Gott sei Dank! Sie sind da!« Die Gräfin zieht das Mädchen an der Hand vollends herüber. Stumm bricht es zu ihren Füßen zusammen wie ein verendendes Wild. Die Gräfin deckt die Zitternde mit ihrem Mantel und redet ihr freundlich zu.

»Kennen Sie das Mädchen?« fragt sie den Alten.

»Natürlich, 's ist die Josepha Freyer, von da drüben aus dem düsteren Haus.«

»Freyer? Eine Verwandte vom Christusspieler?«

»Geschwisterkind, ja!«

Der alte Groß will nach dem Hause des Mädchens gehen, die Mutter zu holen.

»Nein, lassen Sie noch!« befiehlt die Gräfin. »Ich will mich ihrer annehmen. Was hat es denn mit der Unglücklichen für eine Bewandtnis?«

»Sie ist ja die Maria Magdalena vom vorigen Passion!« flüstert der Alte geheimnisvoll. Bei diesem Wort erhebt das Mädchen den Kopf und bricht in heftiges Schluchzen aus.

»Mein Kind, was ist denn geschehen?« fragt die Gräfin und betrachtet bewunderungsvoll das reizende Geschöpf, ein Bild der büßenden Magdalena, wie es kein Künstler vollendeter entwerfen könnte.

»Warum spielst du denn die Magdalena diesmal nicht?«

»Das wissen Sie nicht?« fragt das Mädchen verwundert, daß es noch einen Menschen gäbe, der ihre Schande nicht kenne. »Ich darf ja nicht mehr mitspielen – ich bin ja – ich hab' ja –« wieder bricht sie in krampfhaftes Schluchzen aus und umschlingt die Kniee der Gräfin. »O laßt mich sterben, ich halt's nimmer aus!«

»Sie hat sich verunglückt,« antwortet der alte Groß auf den fragenden Blick der Gräfin: »Sie hat vorigen Winter ein Knäblein geboren! Nun kann sie nicht mehr mitmachen, denn im Passion dürfen nur Unbescholtene und Reine mitspielen.«

»Mein Gott, wie hart!« sagt die Gräfin, »auf dem Lande, wo die Menschen der Natur so nahe stehen und in Verhältnissen, wo die armen Geschöpfe so wenig behütet sind!«

»Ja, das wissen wir wohl – und gerade die Josepha ist uns ein schwerer Verlust beim Spiel – aber so sind unsere Statuten von den Vätern und an denen müssen wir halten! Aber das Mädel nimmt sich's auch zu sehr zu Herzen, Tag und Nacht weint sie, daß man nimmer am Haus vorbei mag, um den Jammer nicht zu hören und jetzt will sie sich gar 's Leben nehmen, die unvernünftige Dirn!«

»O, Ihr habt gut reden!« bricht das Mädchen jetzt in zitternder Leidenschaft los: »Ihr habt gut reden! Spürt erst einmal, wie's tut, wenn die ganze Welt mit Fingern auf einen zeigt! Wenn die Engländer und die Fremden aus aller Herren Länder kommen und sich herführen lassen und die berühmte Josepha Freyer, vom vorigen Passion, sehen wollen, und einem die Seel' zum Leib herausfragen, warum man denn nicht mehr mitmacht? und man jedem einzelnen die eigene Schand erzählen soll, daß sie's hinaustragen in die ganze Welt, und der Name Josepha Freyer g'schändet ist, wo Menschen vom Passionsspiel reden! Spürt's erst, wie's einem zu Mut ist, wenn man sich wie eine Verbrecherin im Winkel verstecken muß, während sie da drüben den Passion spielen und sich blähen und brüsten wie die Heiligen selber und Tausend und aber Tausend ihnen andächtig zuhören. – Ach, ich allein bin ausg'schlossen und weiß doch, daß es keine spielt wie ich!« – Sie richtet sich stolz auf und wirft das prachtvolle, traditionelle Magdalenenhaar über die Schulter: »Sucht Euch nur so eine Magdalena, wie ich war – Ihr findet keine! Und dann muß man die Leute im Vorbeigehen schimpfen hören und sagen: ›Warum spielt denn die Josepha Freyer diesmal die Magdalena nicht?‹ Und dann wird sich untereinander was ins Ohr getuschelt und die Achseln gezuckt und gekichert, ›da tät sie ja grad recht gut für die Roll' passen!‹ und wenn sie am Haus vorbeigehen – dann wird mit Fingern drauf gezeigt – daß man meint, man spürt's durch die Mauern durch: ›Da drin wohnt sie, die Sünderin!‹ Nein, so leb' ich nimmer fort! Ich hab' nur g'wartet, bis einmal ein recht's Gewitter kommt, damit 's Wasser tief genug ist – daß ich's tun kann – und jetzt soll auch das nicht sein?«

»Josepha!« sagt die Gräfin mit tiefem Gefühl: »Willst du mit mir gehen, – fort von Ammergau, in eine andere, ganz andere Welt, wo man dich und deine Schande nicht kennt?«

Josepha sieht die Fremde wie träumend an.

»Ich glaube,« fährt die Gräfin fort, »Gott hat es eigens so für dich gefügt, daß ich heute meine Dienerin verlieren mußte, willst du ihre Stelle einnehmen?«

»Gott sei gelobt!« sagt der alte Groß; »Josepha, jetzt bricht dir noch ein guter Tag an.«

Josepha steht still mit gefalteten Händen und große Tränen rollen fort und fort über ihre Wangen.

»Nun, du besinnst dich, ob du annehmen willst, was ich dir biete?« fragt die Gräfin befremdet.

»Ach, seien Sie mir nicht bös – ich bin Ihnen gewiß dankbar – aber was ist das alles – wenn ich die Magdalena nicht mehr spielen darf!« bricht es wieder in namenlosem Schmerz aus der Seele des Mädchens hervor.

»Welch ein Ehrgeiz!« sagt die Gräfin erstaunt zu Andreas.

»Ja, so sind sie hier – eher lassen sie das Leben als eine Rolle im Passion!« sagt er leise. »Aber Kind, du könntest ja nicht ewig die Magdalena spielen – bis in zehn Jahren wärst d' doch zu alt,« tröstet er die Verzweifelte.

»Ja, das ist was anders – wenn man mit Ehren grau geworden ist, dann weiß man, daß man verzichten muß – aber so – –« und wieder sieht sie verlangend nach dem schönen, tiefen, rauschenden Wasser, in dem es sich so gut, so kühl ruhen ließe, – dem sie sich schon gelobt hat – und dem sie nun nicht Wort halten soll.

»Liebst du dein Kind, Josepha?« fragt die Gräfin.

»Das ist gleich nach der Geburt gestorben.«

»Liebst du deine Mutter?«

»Nein, sie war immer bös und hart gegen mich, jetzt ist sie gestört im Kopf.«

»Liebst du deinen Bräutigam?« fragt die Gräfin beharrlich weiter.

»Ja – aber der ist tot! Ein Wilderer hat ihn erschossen – er war Forstgehilfe.«

»Also hast du niemand, für den du leben magst?«

»Niemand!«

»Nun, so komm mit mir und versuche, ob du mich nicht so lieben könntest, daß es der Mühe wert wäre, für mich zu leben! Willst du?«

»Ja, gnädige Frau – ich will's probieren!« sagt das Mädchen, die großen Augen halb forschend und halb bewundernd auf die Gräfin geheftet. Ein schöner Ausdruck von Dankbarkeit und Vertrauen verklärt allmählich das vergrämte Gesicht: »Ich mein', für Sie könnt' ich alles tun!«

»Nun, so komm mit mir – jetzt gleich, armes Kind – ich will dich retten! Deine Verwandten werden nichts dagegen haben?«

»O nein! Die sind froh, wenn ich fortkomm'.«

»Und dein Vetter, der – der –,« sie weiß selbst nicht, warum sie zögert, den Namen auszusprechen.

»Der Christus-Freyer?« ergänzt Josepha. »O, der! der spricht schon seit einem Jahr nichts mehr mit mir, als was er muß, der verwindet's nie, daß ich die Schand' auf seinen unb'scholtenen Namen 'bracht hab'! 's ist ihm deswegen schon ganz verleidet hier und wenn's nicht wegen dem Christus wär', blieb er gar nimmer in Ammergau! Er ist in solchen Sachen so streng!«

» So streng!« wiederholt die Gräfin gedankenvoll.

Es schlägt zwei Uhr vom Turm der Ammergauer Kirche.

»Es ist spät,« sagt die Gräfin, »das arme Wesen bedarf der Ruhe!« Sie hüllt das Mädchen in ihren eigenen Mantel.

»Komm, einsames Herz, ich will dich erwärmen.«

Noch einmal wendet sie sich um und trinkt mit vollen Zügen das wonnige Bild ringsumher.

»Nacht der Wunder, ich danke dir!«


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