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Zehntes Kapitel. In der Morgenfrühe

»Steh auf, Maria! Die Nacht bricht herein und die winterlichen Stürme brausen – doch sei getrost, in der Morgenfrühe, im Frühlingsgarten wirst du mich wiedersehen!«

Die Gräfin erwacht aus kurzem Schlummer, als habe jemand diese Worte laut gesprochen. Sie sieht sich im dämmernden Zimmer um, es ist noch früh, kaum daß ein matter Schimmer durch die Ritzen des Ladens fällt. Die Gräfin versucht wieder einzuschlafen, aber vergebens! Unaufhörlich tönt es ihr ins Ohr: »In der Morgenfrühe wirst du mich wiedersehen.« – Jetzt fangen auch nach und nach die Spalten des Ladens an sich zu erhellen, und ein goldener Pfeil um den andern fliegt hindurch. Die Gräfin wirft die Decke von sich und springt auf. Was soll sie sich quälen wieder einzuschlafen! Draußen lockt ein taufrischer Garten. Freilich, nur ein Herbst-, kein Frühlingsgarten. Aber für sie ist es ja doch Frühling, – ihrem Herzen ist er angebrochen – der erste Lenz des Lebens!

Auf und hinaus! Soll sie Josepha, die über ihr schläft, wecken? Nein, diese heilige Morgenstille soll kein Laut, kein Wort stören!

Sie kleidet sich an, und nach einer halben Stunde schlüpft sie auf leisen Sohlen ungesehen in den Garten. –

Es schlägt sechs Uhr vom Turm der Kirche. – Wie eine Schar jubelnder Geister braust ein frischer Herbstmorgenwind ihr entgegen und wühlt in den alten Wipfeln, – dann aber, niederfahrend, in ihren seidenen Locken, als wolle er das feine Gespinst entführen und es irgend einer neidischen Waldnymphe zutragen. Netze daraus zu weben für arme Sterbliche, die sich in ihr Gebiet verlieren.

Auch auf dem Boden zu ihren Füßen wallt und wogt es im Gras und Gestrüpp, als wälzten sich kleine Gnomen darin herum. Es ist eine seltsame Stimmung in der Natur. –

Sie blickt empor, es sind riesige Gebilde von Windwolken am Himmel, aber die Sonne steht leuchtend mitten im ungetrübten Blau. Es läutet zur Frühmesse. Die Gräfin faltet die Hände. Es ist still und einsam ringsum, kein Auge, kein Ohr belauscht sie, als das große Sonnenauge da oben. Die Vögel, die ihr Morgenlied in die Luft schmettern, die Blumen, die den Kelch mit Morgentau gefüllt haben, die schwirrenden, summenden Bienen, – alles feiert die große Frühmesse der erwachenden Natur, – und sie, mit einem Herzen, das voll vom Morgentau der ersten wahren Empfindung ihres Lebens, sie allein soll nicht mit einstimmen in den Dankeschor der erquickten Kreatur?

Es gibt eine Sprache, für die uns der Schlüssel fehlt. Es ist das Sanskrit der Natur und der Menschenseele, wenn sie mit der Gottheit redet. Stumm sinkt die Gräfin in das tauige Gras nieder, – sie betet nicht in geformten Worten – es ist ein Herüber- und Hinüberweben, ihr Herz spricht mit Gott und der Verstand weiß nicht, was es ihm vertraut.

»In der Morgenfrühe im Frühlingsgarten wirst du mich wiedersehen!« Da ist schon wieder die Stimme, die sie so früh geweckt! Die Gräfin erhebt den Kopf, – aber wie verzaubert bleibt sie auf den Knieen liegen – denn er steht vor ihr, der Verheißene!

Und sie vermag nichts weiter zu sagen, als das Wort, das Maria Magdalena sprach: »Meister!« –

Einer liebenden Seele kann der Geliebte nie überraschend kommen, weil sie ihn stets und überall erwartet, und dennoch erscheint es ihr als ein Wunder, wenn ihre Erwartung in Erfüllung geht.

»Habe ich Sie beim Gebet gestört? Ich sah Sie nicht, weil Sie knieten –« sagt er leise.

»Sie, mich im Gebet stören – Sie, der mich erst beten gelehrt?« fragt sie und streckt ihm die Hand hin, daß er sie aufhebe. – »O, sagen Sie, wie kommen Sie hierher?«

»Es ließ mich nicht schlafen – es trieb mich in Ihre Nähe – in Ihren Garten!«

Er zieht sie sanft empor. – Sie blickt ihm wie verklärt in die Augen. »Meister!« wiederholt sie. – »O, Freund, es ging mir wie Maria Magdalena, die Menschen hatten mir meinen Herrn weggenommen, und ich wußte nicht, wo sie ihn hingelegt hatten. Jetzt weiß ich es: im eigenen Herzen war er begraben und die Welt hatte den Stein davor gewälzt, aber hier – hier ist er erstanden und der Stein ist gesprengt! – So trieb mich's in der Morgenfrühe in den Garten, ihn zu suchen, und siehe – er steht vor mir, wie er verheißen!«

»Sprechen Sie nicht so! – Ich verstehe wohl, daß es nicht mir gilt – aber wenn Sie Christus so eng mit mir verweben – dann fürchte ich, daß Sie ihn mit mir verwechseln, und daß auch sein Bild getrübt werde, wenn sich Ihnen einmal das meine trübt! Ich bitte Sie, Frau Gräfin, bei allem, was heilig ist – lernen Sie ihn von mir trennen – sonst haben Sie nicht das wahre Wesen Christi erfaßt, und mein Werk ist vom Uebel!« Er steht vor ihr mit seherhaft erhobener Hand, und die Umrisse seiner mächtigen Gestalt heben sich scharf ab in der tauig leuchtenden Morgenluft. – Reinheit und Keuschheit, höchster weihevollster Ernst ist über ihn ausgegossen, alle Hoheit der Seele und der urewigen, gotterschaffenen Menschennatur.

Und sie soll nicht jenes Gefühl der Anbetung für ihn haben, das uns immer ergreift, wenn sich uns, sei's wo es wolle, die Gottheit in ihren Schöpfungen offenbart. – Nein, sie versteht nicht, was er meint, sie versteht nur, daß etwas Göttliches in ihm ist, und daß die Empfindung dieser Gottesnähe sie mit Seligkeiten überflutet, die sie nie gekannt! Joseph Freyer ist ihr Bürge für die Existenz eines Gottes, an den sie den Glauben verloren hatte, warum soll sie sich ihn in anderer Gestalt denken, als der, in welcher sie ihn wiedergefunden? »Du sollst dir kein Bild machen!« Soll dieser puritanisch mißverstandene Buchstabe das Süßeste vernichten, was der Mensch hat, das Symbol der Erscheinung? Dann müßten vor allen Dingen die Raphaels, die Tizians und die Rubens ausgetilgt werden, und die Millionen von Glaubenswundern, welche die Darstellungen des Göttlichen in den Seelen der Menschen vollbracht.

»O seliger Bilderdienst, jetzt verstehe ich dich!« jubelt sie. »Wer dich verwirft, der hat es nie empfunden das glühende Verlangen des schwachen, sinnenbefangenen Menschenherzens nach der Berührung mit dem Unnahbaren, nach dem Antlitz des ewig Verborgenen und doch ewig Empfundenen! – Hier – hier steht das vollendetste Abbild, das Himmel und Erde geschaffen, und ich soll nicht vor ihm niederknieen und es umklammern mit allen Wurzelfasern der emporrankenden Seele? Nein! Das darf, das kann kein Mensch mir wehren!«

Und es flutet ihr halb trotzig, halb bittend aus der Seele hervor, wie flüssige Lava: »Mögen mich alle mißverstehen – nur Sie nicht, Freyer! Sie dürfen nicht engherzig sein, durch welchen Gott das Wunder getan! Sie dürfen es mir nicht zerstören, Sie am wenigsten!« So fleht sie, beschwört sie ihn: »Mögen Heilige, mögen geläuterte Geister das Wesen allein erfassen, und des irdischen Pfandes entraten können – ich kann es nicht! Ich bin ein Typus der Millionen, die da leben, verstrickt in den Schwächen, den Vorstellungen, den Genüssen der Sinnenwelt: fordern Sie von mir plötzlich die abstrakte Reinheit und Vergeistigung des religiösen Gedankens, zu der nur die höchste, angeborene oder angestrebte Vollkommenheit führt? Haben Sie Nachsicht mit mir, – Gott hat allerlei Mittel, den Widerstrebenden an sich zu ziehen! Der Seele, die nur sinnlicher Vorstellungen fähig ist, schickt er die sinnliche Offenbarung zu Hilfe, bis sie sich durch Schmerzen und Leiden zur geistigen emporgearbeitet hat. Und so lange, bis ich den wirklichen Gott zu schauen vermag in seiner wesenlosen Sphäre, so lange darf ich mich liebend und glaubend an sein Abbild halten!«

Sie sinkt vor ihm nieder in leidenschaftlichem Kampf: »Zerstören Sie mir's nicht, unterstützen Sie vielmehr die fromme Täuschung, die mich retten soll! Lassen Sie es über sich ergehen, das ganze zitternde Weh der ringenden, ihr Heil suchenden Seele und stellen Sie das übrige Gott anheim!« Sie lehnt die Stirn an seine herabhängende Hand und verstummt im Uebermaß der Empfindung.

Der große starke Mann steht da, erbebend, wie Abraham vor dem Dornbusch gestanden haben mag, da Gott ihm den erhobenen Arm zurückhielt und ihm in flammender Liebe zurief: »Ich nehme dein Opfer nicht an!«

Er hat eine Ahnung, als würde auch ihm das Opfer entrückt, wenn er zu hart wäre, und alle Ströme seines Herzens brechen hervor, und alle Schleusen des Erbarmens und der Liebe tun sich auf. Er biegt sich herab, umfaßt mit seinen beiden Händen weich und warm ihr Haupt und berührt mit leisen, bebenden Lippen ihre Stirn!

Mit einem einzigen Laut unaussprechlicher Wonne sinkt sie ihm an die Brust. Noch eine Sekunde, und sie bietet ihm den warmen rosigen Mund zum Kuß.

Er aber tritt in tödlichem Kampf einen Schritt zurück: »Nein, Frau Gräfin, um Gottes willen nicht, das darf nicht sein.«

»Und warum nicht?« fragt sie erbleichend.

»Lassen Sie mich würdig bleiben des Wunders, das Gott durch mich an Ihnen bewirkt. Wenn ich Christus für Sie sein soll, so muß ich wenigstens fühlen und denken wie er, soweit es meine menschliche Schwäche gestattet, sonst ist ja alles eine Lüge.«

Die Gräfin schlägt die Hände vors Gesicht: »O, so kann nur sprechen, wer nichts von Liebe und Sehnsucht weiß!« stöhnt sie zwischen den Zähnen in bitterem Hohn.

»Glauben Sie?« ruft er, und der Ton, mit dem er das sagt, schneidet ihr ins Herz wie ein Schmerzensschrei. Er zieht ihr die Hände vom Gesicht und zwingt sie, in sein glühendes Antlitz zu blicken: »Schauen Sie mich an und sehen Sie, ob aus diesen Tränen, die mir jetzt die Wange netzen, nichts spricht von Liebe und Verlangen? Schauen Sie sich selbst an und Ihren süßen schwellenden Mund, Ihr Lieb' und Leben sprühendes Auge, Ihre ganze wonnige Gestalt, und fragen Sie sich, ob ein Mann, dem solch ein Weib an die Brust sinkt, – kalt bleiben kann? Und wenn Sie sich das beantwortet haben, dann sagen Sie sich auch: ›Wie muß der Mann seinen Erlöser lieben, wenn er das Recht, seine Dornenkrone zu tragen, mit solchen Opfern erkauft!‹ – Vielleicht wird Ihnen dann verständlicher, was ich vorhin vom Geist und Wesen Christi sprach!«

Die Gräfin schweigt und blickt mit gerungenen Händen vor sich nieder.

»Frau Gräfin, hab' ich Ihnen weh getan?«

»Ja, bis ins Leben! Ach, es ist ja gut so. Ich verstehe dich, wenn ich dich als Christus lieben soll, so mußt du auch Christus sein! Und je strenger du bist, desto höher steigst du mir! Ach – aber es schmerzt!« – Sie drückt die Hand aufs Herz wie auf eine Wunde und eine rührende Entsagung malt sich auf ihrem bleichen Gesicht.

»O, Frau Gräfin, machen Sie es mir nicht zu schwer, ich bin ja auch nur ein Mensch! Gott, Gott, wie kann ich Sie leiden sehen? Ich kann verzichten auf alles, aber Ihnen damit wehe tun – das kann ich nicht!«

»Sag nicht Sie zu mir in dieser großen Stunde! Nenne mich mit meinem Namen, ich will ihn einmal von deinen Lippen hören!«

»Und wie heißen Sie?«

»Maria Magdalena!«

»Nein, so nennen Sie sich jetzt unter dem Eindruck des Passionsspiels!«

»Maria Magdalena von Prankenberg bin ich getauft!«

»Maria Magdalena,« wiederholt er und mit tiefer Rührung ruht sein Auge auf ihr, wie sie vor ihm steht, das sonst so stolze Weib, demütig, still und ergeben, wie die Büßerin vor dem Herrn. Da überwältigt es ihn: »Magdalena,« er breitet die Arme aus: » Meine Magdalena!«

»Mein Herr und mein Heil,« schluchzt sie und wirft sich an sein Herz. Er umfängt sie mit einer himmlischen Gebärde der Liebe.

»O Gott, wie eine verscheuchte Taube kommt sie daher geflogen und heftet sich an meine Brust. Arme Taube, ich will dich bergen und schützen, vor jedem rauhen Luftzug, vor jeder schnöden Berührung der Welt! Bau dein Nest an meinem Herzen – hier sollst du ruhen in Gottesfrieden!« Und er drückt ihr Haupt an seine Brust. »Wie du zitterst, Taube! Darf ich dich so nennen?«

»O ewig!«

»Bist du müde vom weiten Flug? Arme Taube! Bist du mir dahergeflattert, über die wilden Wogen der Welt, um mir den Oelzweig zu bringen, das Versöhnungszeichen, das meinen Frieden macht mit dem Ewigen und Zeitlichen! – Und soll ich dich jetzt von mir stoßen und sagen wie Christus zu Magdalena: Berühre mich nicht, ich bin noch nicht aufgefahren zum Vater? Soll ich dich wieder hinausjagen in das Chaos, damit der treue Flügel, der dich den rechten Weg geführt, ermattet niedersinkt und du verloren gehst in der Brandung der Welt?« Er drückt sie fest an sich: »Gott! Das kann dein Wille nicht sein! Aber ich glaube dich zu verstehen, Allmächtiger, – Du hast sie mir anvertraut, diese Seele, und treu will ich sie dir bewahren.«

Es ist eine selig heilige Stunde. Ihr Haupt ruht an seiner Brust. An den Zweigen regt sich kein Blatt. Dicht umgeben sie die schattigen Büsche und trennen sie ab von der Welt, als gäbe es nichts mehr auf Erden außer diesem Fleck Erde und dem Traum dieses Augenblicks.

»Sag mir eins,« flüstert sie, »sag mir das, und ich will leiden, büßen und mit jeder Entsagung den Himmel dieser Stunde erkaufen: Liebst du mich?«

Er sieht sie an und seine ganze Seele liegt in dem Blick: »Muß ich dir das erst sagen?« fragt er wehmütig. »Was nützt es dich, wenn du die Hand in meines Herzens Wunde legst und siehst, wie tief sie ist? Du kannst sie ja doch nicht heilen! Hast du's nicht gefühlt, von der ersten Begegnung an, daß es mich unwiderstehlich zu dir zog, daß ich immer wieder komme, ich, der menschenscheue Mann? Was ist es denn, was mich heut in der Frühe vom Lager aufriß und mich hieher trieb zu deinem schlummernden Haus, in deinen öden Garten? Was ist es anderes als Liebe?

»Seit vier Uhr schweife ich hier herum, ruhelos, und mein Auge hing an deinem verschlossenen Laden, bis der ungestüme Wunsch meiner Seele dich geweckt und mir nachgezogen hat, hier heraus, aus dem warmen Bettchen in den kalten Morgenwind! – Komm, du frierst, laß dich wärmen, schmieg dich an mich und fühle, wie es glüht in meiner Brust!«

Er setzt sich auf die Bank unter der Laube – und er weiß nicht, wie es geschieht – sie ruht auf seinem Schoß wie ein Kind, und er kann sie nicht von sich stoßen – er kann es nicht –! Sie streicht mit der sammetnen kleinen Hand über seine langen, taufeuchten Locken und lehnt das Köpfchen an seine Wange, sie ist ganz Unschuld, ganz Einfalt, ganz Mädchen! Und sie flüstert ihm zu und schüttet ihm ihr Herz aus wie ein Kind dem Vater. Sie erzählt ihm all das bittere Leid ihres ganzen Lebens! Wie sie nie die Liebe gekannt und nie ein Glück! Wie sie früh die Mutter verlor und von einer kaltherzigen Gouvernante und einem pessimistischen Hauslehrer erzogen ward. Wie der Vater im Strudel der großen Welt gelebt und sich nichts um sie gekümmert, und wie sie dann aus der Kinderstube weg, den alten reichen Mann heiraten mußte und acht Jahre an seiner Seite eine Hölle durchlebt. Und weiter beichtet sie in Todesangst, ob er ihr vergeben werde, und doch wahrheitsgetreu, wie die leidenschaftliche Seele sich für die furchtbare Entbehrung an Liebe zu entschädigen gesucht und sich empörte gegen ein Gesetz, das die höchste Unsittlichkeit zur Sittlichkeit stempelt! Daß ihr die Sünde rein erschienen gegen die Greuel solch einer Verbindung! Daß sie sich in die Arme verbotener Liebe geflüchtet, um sich durch einen Trunk, wenn auch vergifteter Poesie vor der gemeinen Prosa dieser Ehe zu retten! Wie aber der verbotene Trank ihren Durst nicht gestillt, bis ihr endlich eine Ahnung gekommen, daß sie nach jenem Quell verlange, von dem Christus sagt: »So ihr von diesem Wasser trinket, wird euch nicht mehr dürsten!« Das habe sie hierher gezogen, und hier sei er ihr erflossen der reinigende, erlösende Born des Lebens und der Liebe.

»Jetzt weißt du alles! Meine Seele liegt offen vor dir! An der Selbstverleugnung, mit der ich mein Höchstes – dich – aufs Spiel setzte und dir alles gestand, magst du erkennen, ob ich geheiligt bin in deiner Liebe!« Sie gleitet von seinen Knieen herab und sinkt vor ihm nieder: »Jetzt sprich das Urteil über die Sünderin – ich will's hinnehmen aus deiner Hand, wie du es über mich verhängst. Aber eines bitt' ich dich, um was sonst du mich bittest: denk an Christus

Da schlägt er die großen dunklen Augen auf: »Ich denke an ihn!« Und er beugt sich zu ihr nieder mit unendlicher Milde, seine herabfallenden Locken überschatten ihr Haupt, mit starken Armen hebt er sie empor: »Komm, Magdalena! Ich kann dich nicht richten!« spricht er – und die Büßerin ruht wieder im Schoß des Erbarmens.

»Deine Stirn bedeckt kalter Schweiß!« sagt sie nach langem tiefem Schweigen. »Du leidest?!«

»Selig leide ich! Laß nur!« ringt sich's mühsam von seinen Lippen.

Da senkt sie einen süßfragenden Blick in seine Seele: »Reut dich der Kuß, den du mir vorhin versagt?« fragt sie kaum hörbar, aber die leise Frage durchzuckt ihn, als habe sich eine Sonde in eine verborgene Wunde gesenkt. Sie fühlt es und mit unwiderstehlicher Gewalt zieht es den schwellenden Mund wieder empor, er sieht ihn ganz nahe dem seinen purpurn schimmern, da legt er ihr die Hand auf die Lippen und bedeckt sie sanft damit: »Sei brav! Laß uns treu bleiben! Mach mir's nicht schwerer, als es ohnehin schon ist! Du weißt nicht, was du entfesselst!« Er springt empor und faltet die Hände über der Brust. Seine Lippen atmen tief die erquickende Morgenluft ein. Und die dunkle Lohe, die ihm noch eben aus den Augen schlug, verklärt sich wieder zu einem reinen ruhig strahlenden Licht: »Es ist so schön, laß es so,« spricht er weich, mit wundervoller Entsagung, und küßt sie auf die Stirn. »Mein Kind! Meine Taube! Eine heilige reine Liebe soll's bleiben – nicht wahr?«

»Ja!« haucht sie in ehrfurchtsvollem Gehorsam vor sich hin, denn jetzt ist er wieder ein Christusbild, vom Scheitel bis zur Sohle, und stumm beugt sie sich auf seine Hand nieder, sie zu küssen. Er duldet es, denn er fühlt, daß es ihr Wohltat ist. Dann entschwindet er, ruhig, groß, wie einer, der die Fesseln dieser Erde abgestreift.

Maria Magdalena bleibt allein zurück. Sie lehnt die Stirn an den Baumstamm, der ihr seither eine treue, aber rauhe Stütze war, sie ist auf die Bank zurückgesunken und hat die Augen geschlossen. In ihrer Brust wallt und wogt es zum Zerspringen! Ueber ihre Wangen rinnen Tränen. So viel hat Gott ihr gegeben, daß sie der Fülle des Glücks fast erliegt! Nur im Schmerz kann es sich ausgleichen, sonst wäre es zu viel für die arme Sterbliche! Und dieser Schmerz ist eine ungestillte Sehnsucht, das unbestimmte Gefühl, daß ihr Geschick sich nur in dieser Liebe erfüllen kann, und daß es noch so weit davon entfernt ist. Darum hat Gott es so gefügt, daß das Menschenherz nur ein gewisses Maß von Glück erträgt, und die Freude als Schmerz empfindet, wenn dies überschritten wird, weil wir nicht hienieden schon Seligkeiten erleben sollen, die erst einer höheren Stufe der Entwickelung vorbehalten sind. – Darum weinen wir in der höchsten Freude, darum glauben wir uns in der höchsten Liebe nie genug geliebt, darum verzehrt uns, mitten in der Ueberfülle des Genügens, das Verlangen nach einer Wonne, von der dies nur ein Vorgeschmack ist, darum lehrt uns jeder Genuß, uns nach einem neuen, größeren sehnen, damit wir nie befriedigt sind und ewig leiden!

Da ist nur eines, das mit starker Hand das Gleichgewicht herstellt, uns mit der Freude sparen lehrt, den Schmerz ertragen hilft und all die Ströme maßlos schweifenden Verlangens dämmt und rückwärts staut, zu intensiver Arbeit und Befruchtung im Innern: die Askese! Sie schneidet mit fester Hand die nach außen wuchernden Triebe ab vom Baum des Lebens, damit die Kraft sich sammle im Mark des Stammes, und aufwärts treibe! – Die Askese –! Das Schreckgespenst aller der großen Kinder dieser Welt! Wo sie sich zeigt, da ist ein Tumult im Menschenherzen, als ging's um Leben und Tod. Wie flüchtende Ameisen ihre Brut fortschleppen, um sie zu bergen, so suchen die aufgestörten Gewissen ängstlich ihre geheimen Begierden und Freuden in Sicherheit zu bringen vor der gefürchteten Feindin! Aber, wer einmal den offenen Blick in ihr Auge gewagt, der sieht, daß sie kein Popanz ist, wofür die Apostel der Vernunft und Natur sie verschreien möchten, kein Schemen ohne Fleisch und Blut, das sich ertötend zwischen den natürlichen Zusammenhang der Kreatur und Schöpfung stellt, sondern ein Wesen, mit einem flammenden Herzen, mit fünf Wundenmalen und schweißbedeckter Stirn. Ihr Amt ist düster und streng, ihre Arbeit hart und undankbar, denn schwer zu ringen hat sie mit den widerstrebenden Seelen, und hätte sie nicht ein Hilfsheer an den Priestern, die sich ihr geweiht, sie würde erliegen in dem ewigen Kampf gegen die zu immer höherem Bewußtsein sich entwickelnde Materie! – Wer sich ihr aber einmal hingegeben, für den ist sie ein hohes, ernstes, und doch so freundliches Götterbild! Sie ist die Stütze des Schwachen, die Trösterin des Unglücklichen und Einsamen, der Engel des Entsagenden. Wer je ihre Hand auf wundem, zuckendem Herzen gefühlt, der weiß es, daß sie die Wohltäterin, nicht die Zuchtmeisterin der Menschheit ist!

Und nicht nur als finsteres Trauergeleit an der Leiche gemordeter Freuden erscheint sie. Auch Rosen bekränzen zuweilen die dornenzerrissene Stirn, und sie wird zur Priesterin der Liebe! Denn wo die Welt und ihre selbstgeschaffenen Pflichten mit roher Hand zwei Herzen auseinanderreißen, die Gott füreinander geschaffen, und sie sich verzehren läßt in tödlicher Qual, da ist sie die Erbarmende! Mit heiligender Kraft zieht sie die Kämpfenden empor über die trennende Schranke der Zeitlichkeit, tritt die Erde unter ihre Füße und eint die Seelen zum ewigen Bund in der reineren Sphäre geistiger Liebe! So verbindet sie, was die Sitte trennt! Die Sitte nur ist hart, nicht die Askese! Die Sitte schreibt unbarmherzig, unbekümmert um die Schwäche des armen Menschenherzens, ihre Gesetze vor, die Askese aber hilft sie ausführen! Die Sitte fordert Gehorsam, die Askese lehrt ihn! Die Sitte bestraft, die Askese bessert! Jene richtet nach dem Schein, diese nach dem Wesen! Die Sitte hat nur den Lohn der Welt, die Askese den des Himmels! Die Sitte hat Maria Magdalena verworfen, die Askese hat sie zum Herrn geführt und ihr seine Gnade erwirkt!

Und wie die schöne Magdalena der Jetztzeit so dasitzt, mit geschlossenen Augen, und ihre Gedanken dahintreiben läßt auf den wildschäumenden Wogen ihres heißen Blutes, da ist es ihr auf einmal, als nahe sich ihr das einst so gefürchtete Schreckbild, das sie nur gekannt unter der niedrigen Vorstellung ekler, gemeiner Pflichterfüllung! Aber diesmal kommt es heran in seiner reinen Schönheit und beugt sich liebend über sie, eine bleiche Lichtgestalt, und sieht sie an mit den Augen des Freundes! Leise, geheimnisvolle Worte raunt es ihr ins Ohr, ahnungsvoll, wehmütigen Klanges. Und während sie ihnen lauscht, fließen ihre Tränen milder, in kindlicher Demut umschlingt sie das hehre Gebild und birgt das Haupt an seiner Brust. Da fühlt sie einen kalten Kuß auf ihrer Stirn, gleich einem Hauch aus den Eisregionen ewigen Friedens, und die Erscheinung ist verschwunden! Wie aber dem Erwachenden von einer Rede, die er im Traum gehört, oft nur die letzten Worte nachklingen, so ist der Gräfin, als sie die geschlossenen Lider aufschlägt, nichts geblieben von der geheimnisvollen Verkündigung, als die zwei Worte: »Am Kreuz!« – – – –


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