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Siebentes Kapitel. Das Passionsspiel

Der Tag bricht an. Die ersten Strahlen der Morgensonne fliegen durch den Aether, immer reicher, immer voller, und das blaue Luftmeer wogt und zittert unter dem Flammengespann des aufsteigenden Sonnengottes. Im Schaum des wilden Gebirgswassers, in das am Abend zuvor die büßende Sünderin sich stürzen gewollt, scheint Aphrodite gebadet und ihre Schleier vergessen zu haben. Der Sonnengott rafft die weißen Wölkchen im Vorüberfahren auf, um später die Göttin im anmutigen Spiel damit zu verhüllen, und sie wehen und flattern lustig im Morgenwind mit dem sausenden Wagen dahin. Und als wäre es der donnernde Hufschlag der feurigen Rosse, der vom hochgewölbten Bogen des Firmaments herniederdröhnt, so verkünden jetzt wieder feierliche Kanonenschläge das Herannahen des andern Gottes, des armen, unscheinbaren, gegeißelten, im Bettlergewand! Und der strahlende Wagenlenker da oben zügelt das ungeduldige Viergespann und schaut herunter aus seiner heiteren Ruhe, dem Kampf zu, dem martervollen, stillen Leidenskampf auf der blutigen Walstatt der bangen Erde da unten. Und er schüttelt lächelnd sein göttliches Haupt, denn er kann es nicht verstehen, – warum das alles? Warum ein Gott sich solches Elend und solche Erniedrigung auferlege! Aber er weiß, daß es dennoch ein mächtigerer Gott ist als er, weil er vom Zenith entfliehen muß, wenn jener aus seinem Grabe emporsteigt. – So denkt Helios da oben und blickt hinüber nach Selene, der freundlichen Göttin, die dort drüben steht, das weiße, vor ihm erbleichende Gesicht voll der Erde zugekehrt. Sie aber mag das qualvolle Schauspiel nicht sehen, denn sie ist das Gestirn des Friedens und der Schlummernden, sie wendet ihr mildes Antlitz ab, winkt Helios zu und entschwebt zu glücklicheren Gefilden.

Selige Götter, die ihr thront in ewiger Schönheit, ewigem Frieden, die kein Leid und kein Weh des Menschengeschlechtes berührt, die ihr euch nur zur Erde herablaßt, um von den Freuden der Sterblichen zu naschen, wo es euch gelüstet, auch diese eurer Götterwonne noch zu gesellen, blickt nur hin auf den Gott, den die leidende fluchbeladene Menschheit aus seinem Himmel herabgezwungen, daß er ihr helfe, wo euer keiner half, daß er ihr gebe, was euer keiner ihr gab, Herzblut der Liebe! Seht nieder aus eurem selbstischen Genügen, ihr heitern hellenischen Götter, und ihr strengen nordischen aus eurem Walhall, und ihr stumpfen, blöden, altindischen Götzen, blickt hierher, wo ein Gott aus Liebe für die Menschheit am Marterpfahl verblutet, – seht es und erbleicht! Denn wenn das Ungeheure geschehen und die Nacht vorüber, dann wirft er das unscheinbare Gewand ab und erstrahlt in seiner göttlichen Glorie. Ihr aber seid dann nichts als der Regenbogen, der über seinem Haupte Farben spielt! » Excelsior!« so tönt eine Stimme durch den reinen Morgenhimmel, und: » Gloria in excelsis Deo!« schallt aus der Kirche der Priestergesang des Frühgottesdienstes herüber.

Eine Stunde später hält der Prinz mit dem Wagen vor der Tür, um die Gräfin abzuholen, denn der Weg zum Passionstheater ist von hier aus weit und beschwerlich.

Der Prinz gibt den Töchtern des Hauses strenge Ordre, daß alles zur Abreise der Gräfin nach dem Theater fertig sei.

»Die Wagen müssen gepackt vor dem Theater stehen, wenn wir herauskommen. Die neue Kammerjungfer soll sich nicht verspäten.«

Die Gräfin läßt alles geschehen, sie ist sehr bleich und aufgeregt. Ludwig Groß, der eben auch in das Theater geht, muß sich mit in den Wagen setzen, die Gräfin tut es nicht anders. Der Prinz betrachtet ihn kalt ablehnend. Ludwig Groß zieht den Hut und sagt höflich:

»Darf ich bitten, mich vorzustellen?«

Die Gräfin errötet: »Herr Zeichnungslehrer Groß!« Sie zögert einen Moment verlegen, das bronzene Gesicht Ludwigs bleibt unverändert in abwartender Haltung.

»Erbprinz von Metten-Barnheim,« sagt der Prinz, der Verlegenheit der Gräfin zuvorkommend, und lüftet den Hut.

Ludwigs feiner Takt erkennt sogleich das Großmütige in dem Benehmen des Prinzen:

»Ich bitte um Entschuldigung,« sagt er beschämt, »ich wußte nicht, daß ich einen so hohen Herrn –«

»Bitte, bitte, war ganz korrekt!« unterbricht ihn der Prinz, dem die bescheidene Sicherheit des Mannes gefällt, und läßt sich verbindlich auf ein Gespräch mit ihm ein. Er fragt dies und das, und der Zeichenlehrer berichtet, wie er sich zu seinen lebenden Bildern die passenden Gestalten oft aus dem Walde und vom Felde holen müsse, da die Gebildeteren alle mit Rollen beschäftigt und wie schwierig es sei, mit diesem ungeschulten Material zu arbeiten. Um so mehr, als er solch ein Massenbild von dreihundert Personen in kaum zwei bis drei Minuten hinwerfen müsse.

Die Gräfin blickt wie abwesend in das bunte Treiben der Scharen hinein, welche dem Passionstheater zuwallen. Lustig umweht der frische Morgenwind den Wagen. Es zieht ein Jubel durch die ganze Natur, eine Festfreude, die sogar die schöngeschirrten Pferde der Gräfin zu teilen scheinen, denn sie sind ausgelassen übermütig und stürmen dahin, als wollten sie es den Sonnenrossen dort oben gleichtun. Festlich wallen die bayrischen Fahnen vom Passionstheater in den blauen Himmel hinein, und jetzt verkünden erneute Kanonenschläge den Beginn der Vorstellung. Der Wagen arbeitet sich mühsam durch die Menge bis zum Eingang, welcher vorzugsweise von Ammergauern umringt ist. Der Zeichenlehrer läßt halten und springt heraus, vor ihm macht alles ehrerbietig Platz und zieht die Hüte: »Ah, der Herr Zeichenlehrer! Grüß Gott!«

»Grüß Gott!« erwidert Ludwig Groß, gibt ohne weiteres der Gräfin den Arm, bittet den Prinzen, zu folgen, und führt sie unbehelligt durch ein paar Seitengänge, welche den Fremden verschlossen sind, in den Logenraum, wo ihnen zwei elegante junge Herren auch aus der Familie Groß, die sogenannten »Verleger«, die Billets abnehmen. Ludwig zieht den Hut und empfiehlt sich, um an seine Arbeit zu gehen. Der Prinz gibt ihm die Hand und dankt ihm. »Ein gebildeter Mensch!« sagt er, nachdem Ludwig weg ist. Der eine der Verleger hat indessen die Gräfin zu ihren Plätzen geführt.

Da liegt es vor ihr, das langersehnte Ziel! – Ein gewaltiges Amphitheater in griechischer Art. Zwischen dem das Ganze überragenden Logenhaus und der Bühne liegt ein weiter Raum, das haushoch ansteigende Parterre, unter freiem Himmel. Ebenso unbedeckt ist auch das Orchester, das Proscenium und die Bühne, welche von den Häusern des Pilatus und Kaiphas rechts und links begrenzt wird, und sich in die Straßen Jerusalems vertieft und erweitert. Auf dem Proscenium nimmt der Chor Stellung, und hier spielen sich alle großen Volksscenen ab. Nur in der Mitte der Hauptbühne erhebt sich, wie in der griechischen Scenerie, ein tempelartiger gedeckter Bau mit einem Vorhang, gewissermaßen ein Theater im Theater, das der Schauplatz derjenigen Scenen ist, die eines engeren Rahmens bedürfen. Ringsherum aber wird das Ganze abgeschlossen von dem Amphitheater des Hochgebirgs, das in majestätischer Ruhe von oben hereinschaut, alles überragend und krönend.

Das Orchester spielt die letzten Takte der Ouvertüre und das Gesumme und Gewoge der Tausende, die ihre Plätze suchen, ist endlich zur Ruhe gekommen. Der Chor tritt auf, alle Sänger in griechischem Kostüm, an ihrer Spitze Johannes Diemer, als Prolog, mit Diadem und Toga geschmückt. Eine großartige Gestalt von wahrhaft priesterlicher Würde, schreitet er über die Bühne ganz im Gefühl der erhabenen Handlung, welche zu eröffnen sein Ehrenamt ist! – Tiefe Stille lagert sich jetzt über den Zuschauern. Es ist, als lausche selbst die Natur draußen, der rauschende Morgenwind hält den Atem an und kein Vogel ist zu hören! – Sonntagsruhe spannt schützend über dem Ganzen ihre Fittiche aus, daß nichts Störendes die weihevolle Stimmung unterbreche.

Und wie die ernsten Gestalten so daherschreiten und mit sicherem Anstand die kostbaren Gewänder tragen, als hätten sie nie etwas anderes angehabt und müßten diese nie wieder mit dem zerrissenen, ärmlichen Arbeitskittel vertauschen, und wie sie beginnen, ihre, aufopfernd nach mühevollem Tagewerk geübte, Kunst zu entfalten, und der Prolog in reinster, edelster Intonierung die ersten Accorde einsetzt:

»Wirf zum heiligen Staunen dich nieder,
Von Gottes Fluch gebeugtes Geschlecht!«

Da überläuft es die Gräfin plötzlich mit einer nie gekannten Rührung, und Tränen kommen ihr in die Augen.

»Ew'ger, höre deiner Kinder Stammeln,
Weil ein Kind ja nichts als stammeln kann!«

Damit sprechen sie ihn aus, die frommen Lippen, den heiligen Sinn, der in dem kindlichen Spiele liegt, und die es hören, sie fühlen sich wieder als Kinder, – Kinder des einen, allgegenwärtigen Vaters!

Der Prolog ist zu Ende. Der Vorhang der Mittelbühne rollt empor und das erste lebende Bild, Adams und Evas Vertreibung aus dem Paradies, erscheint. Die Gräfin betrachtet es mit liebevollem Auge, denn es ist der feine künstlerische Geist des Ludwig Groß, der ihr daraus entgegentritt, seine feste Hand hat dieses ungefüge Material zu weichen Linien gebogen. Gleich darauf folgt ein zweites Bild, die Anbetung des Kreuzes. Ein leeres Kreuz steht, von Licht umflossen, auf einer Anhöhe und wird von Kinder- und Engelscharen verehrt. Damit ist die Stimmung eingeleitet und die Handlung beginnt. – Die Scene spielt vor dem Tempel zu Jerusalem – der Einzug des Herrn wird erwartet. – Der Gräfin schlägt das Herz. Sie weiß selbst nicht, wie ihr ist, – es raubt ihr fast den Atem, – wird es der sein, den sie meint, an den sie ein unerklärlich geheimnisvoller Zauber bindet? Wird sie ihn finden?

In der Ferne ertönen Hosiannarufe – ein wachsender Tumult gibt sich kund. Aus den Straßen von Jerusalem kommt es heraus, jubelnd und lobsingend – schon erscheinen die ersten Vorläufer des Zuges und verkünden atemlos sein Nahen.

Die Gräfin ergreift eine unbeschreibliche Angst – jetzt ist es ihr aber, als bange ihr nicht vor dem, den sie erwartet, sondern vor dem, den er darstellen würde! Auch im Publikum wird es unruhig, eine vibrierende Bewegung geht wie ein leises Rauschen durch die Menge: »Er kommt!«

Jetzt ergießt sich der Zug über die Bühne, eine anschwellende Masse, – leidenschaftlich erregtes, palmenschwingendes Volk, und in ihrer Mitte, von elendem Saumtier getragen – der Herr der Welt.

Die Gräfin wagt kaum hinzublicken, sie fürchtet das Absteigen, das ihr ästhetisches Gefühl verletzen könnte. Aber ohne eine Bewegung, leise wie ein Gedanke ist er schon von dem Tier herabgeglitten, niemand von den Tausenden hat gesehen, wie.

»Er ist es!« Der Gräfin schwindelt, eine unnennbare Freude überkommt sie: »Wann werd' ich dich schauen von Angesicht zu Angesicht!« tönt ihr das eigene Wort vom Abend zuvor im Ohr und – die Erfüllung steht vor ihr!

»Christus!« – ein Ehrfurchtsschauer durchrieselt die Menschheit! Ja, er ist's, vom Scheitel bis zur Zehe! Er hat noch kein Wort gesprochen und schon sinken ihm die Herzen überwältigt zu Füßen. Ja, das ist das Auge, die Hoheit, die Ruhe eines Gottes! Das ist die Seele, die eine Welt umfängt und trägt, – das ist das Herz der Liebe, das sich für die Menschheit hingibt – zum Opfertod am Kreuz.

Und nun öffnen sich die Lippen, und wie ein lichter, beflügelter Genius schwingt sich das Wort empor! Eine Stimme, wie wenn ein Engel durch das All riefe: »Friede, Friede den Menschen auf Erden!« – bald hell und weithinschallend wie Osterglocken, bald weich und zärtlich wie tröstender Gesang einer Mutter am Lager des kranken Kindes. »Urquell der Liebe – das bist du!«

Stumm, regungslos, wie verklärt, schaut die Gräfin das Wunder – und mit ihr Tausende in derselben Empfindung. Aber von ihr aus geht ein geheimes Band hinüber zu ihm – von ihr allein unter den Tausenden – ein ahnungsvoller, göttlicher Zusammenhang, den ihre sehnende Seele in jener Nacht gewoben, nachdem sich ihr unbewußt das Antlitz vorgezeigt, aus dem der brünstig erflehte Gott ihr jetzt Gewährung lächelt!

Die Handlung nimmt ihren Verlauf.

Christus blickt um sich und gewahrt die Händler mit ihrem Kram und ihren Wuchertischen im Vorhof des Tempels. Und wie am blauen Himmel allmählich Wolke um Wolke aufsteigt und die Sonne verfinstert, so steigt edler Zorn auf in dem milden Dulderantlitz, und aus dem verdüsterten Auge schießt ein Blitz, daß es Helios dort oben an den blitzeschleudernden Zeus gemahnt.

»Mein Haus, spricht der Herr, soll ein Bethaus genannt werden für alle Völker. Ihr aber habt es zur Räuberhöhle gemacht!« Und als sei sein Zorn eine Kraft, die von ihm ausgehend weiterwirke, ohne daß er selbst sich rühre, so fegt es wie eine Windsbraut über die Stände der Händler dahin, während die majestätische Gestalt mit keiner einzigen heftigen Bewegung das Gleichgewicht ihrer göttlichen Ruhe stört. Die Tische stürzen um, das Geld rollt am Boden hin, die Käfige der Tauben springen auf und die geängstigten Tiere schwingen sich mit pfeilschnellem Flügelschlag über die Häupter der Zuschauer hinweg. Die Händler toben und heulen: »Meine Tauben, meine Tauben!« »Mein Geld!« – und überstürzen sich, die entrollenden Silberstücke und die zerstreuten Waren zu retten. Er aber steht inmitten des Aufruhrs unbeweglich, wie der Stein, von dem er sagt: »Wer auf ihn fällt, wird sich an ihm zerstoßen, und auf wen er fällt – den wird er zermalmen!«

Jetzt mit königlicher Gebärde schwingt er die Geißel über den nach der schnöden Habe gebückten Rücken: »Hinweg! Ich will, daß diese entweihte Stätte der Anbetung des Vaters wiedergegeben werde!« Er schlägt nicht, und dennoch ist es, als habe die Geißel getroffen, denn in wilder Flucht entweichen die Händler vor der strafend erhobenen Hand und Schrecken kommt über die Pharisäer. Sie sehen es, der da vor ihnen steht, ist stark genug, sie alle zu zerschmettern! Sein Atem hat Sturmeskraft, sein Blick ist schmelzende Glut – seine Geißel wirft nieder, ohne zu schlagen – er braucht nur zu wollen – und »in dreien Tagen« baut er einen neuen Tempel auf, wie er sich's vermaß. Brausend, wie im Sturm das Meer, jauchzt ihm das Volk und gibt sich ihm hin, wie die leichtbewegliche Woge dem Hauch des gewaltigen Drängers sich schmiegt. – Ja, das ist der Machtgeist des Jehovah der Juden, des Zeus der Griechen, des Jupiter der Römer, – das ist der Sohn des Gottes, der Himmel und Erde geschaffen hat, und es wäre ihm ein Leichtes, dem Machtgeborenen, all die Pharisäer um ihn her mit einer Hand zu zerdrücken, ohne die Finger zu regen, – wenn er wollte – das aber ist es – er will nicht, denn – seine Sendung ist eine andere! – Und demütig sinkt wieder das erhobene Haupt zur Seite und die zornig gerunzelte Stirn glättet sich. – »Ich habe getan, was der Vater mich geheißen hat – ich habe seines Hauses Ehre gerettet!« Der Sturm wird zum Säuseln und verzeihend ruht der besänftigte Blick auf den Feinden!

Fast zürnt ihm das mannhafte Herz der Gräfin ob dieser Demut und möchte ihm zurufen: »Du bist ja Gottessohn, so hilf dir doch!« Ihr Gerechtigkeitsgefühl, wie es nach menschlichen Begriffen geartet, sträubt sich gegen diese Duldung, dieses Hinopfern des heiligsten Rechts! Es geht ihr wie Helios dort oben, sie kann es nicht verstehen, daß es groß, daß es göttlich sein soll, sich zu erniedrigen, sich richten zu lassen als der Reine, der Wahre, von den Falschen, den Heuchlern, – statt die eigene Macht zu gebrauchen und jene zu vernichten!

Und als habe der da drüben geahnt, was sie denkt, erhebt er plötzlich den Blick in gerader Richtung auf sie, über die Tausende von Köpfen hinweg, und wie eine göttliche Botschaft hallen die Worte aus seinem Munde: »Aber in vielen Herzen wird es bald Tag werden!« – Und er wendet sich mit unbeschreiblicher Sanftmut zu seinen Jüngern: »Kommt, laßt uns in das Innere des Heiligtums gehen und dort den Vater anbeten.« Er schreitet dahin, aber es ist nicht, als bewege er die Füße, er entschwindet den Augen des Zuschauers, geräuschlos, allmählich, wie ein schöner Augenblick dahingeht.

Die Gräfin legt die Hand über die Augen – ihr ist, als ob sie träume, einen wehmütig schönen, bangen Traum. Der Prinz beobachtet sie ernst und still. Aus den Logen nickt es und winkt es von allen Seiten herüber – die Herzogin, das diplomatische Corps und noch viele Bekannte, die sich zufällig zusammenfanden – aber die Gräfin sieht und hört nichts.

Weiter geht die Handlung. Es ist die alte Geschichte vom Kampf der Gemeinheit gegen das Edle, der Lüge gegen die Wahrheit. Die Pharisäer nützen das beleidigte Interesse der Händler, um diese zu ihren Verbündeten zu machen. Das Volk, die leicht zu betörende Masse wird aufgewiegelt gegen den »Neuerer aus Galiläa«, der ihnen den Glauben der Väter nehmen will und die Händler aus dem Tempel treibt. So entsteht die Verschwörung und wächst zur Lawine an, das geheiligte Haupt zu zerschmettern! Christus hat allem ins Gesicht geschlagen, was gemein ist in der Menschennatur, das Gemeine aber ist die größte Macht, der selbst ein Gott zum Opfer fallen muß, solange er der Erde angehört. Doch indem er ihr unterliegt, überwindet er sie, – sein Tod ist sein Sieg!

Zwischen dem ersten und zweiten Akt ist ein lebendes Bild: »Joseph wird von seinen Brüdern verkauft.« In sinniger Weise wird jeder große Moment der Handlung durch ein entsprechendes Ereignis aus dem Alten Testament bildlich vorgedeutet, um den inneren Zusammenhang zwischen dem Alten und Neuen Testament und jenes Wort: »Auf daß erfüllet werde, wie geschrieben steht!« zu veranschaulichen.

Endlich geht der Vorhang wieder auf und der hohe Rat ist zum Gericht versammelt. Hier sitzen nun die Mächtigen des Volkes Israel, zugleich auch die Mächtigen Oberammergaus zusammen. In der Mitte Kaiphas, der Hohepriester, der Vorstand des Synedriums, der Bürgermeister von Ammergau und oberste Leiter des Passionsspiels. Rechts und links neben ihm der Gemeindeälteste Ammergaus mit langem, weißem Bart, ein wundervolles Greisenantlitz, als Annas, und der Mesner, ein imponierender Mann, als Nathanael. Von da weiter im großen Kreis, die vornehmsten Mitglieder der Gemeinde, als Priester und Pharisäer. Welche Köpfe und welche Gestalten! Der Bürgermeister, Kaiphas, erhebt sich und eröffnet mit kurzer Ansprache die Beratung. – Armer Gottessohn, wie wird dir's gehen vor diesem Gewaltigen der Erde. Der Bürgermeister ist der Typus des fanatischen, herrschsüchtigen Priesters, aber nicht eines blinden, täppischen Zeloten – nein, er ist ein Repräsentant der aristokratischen Hierarchie, die vornehme Männer von höchster Intelligenz und Bildung erzieht. Ein Gesicht wie aus Stein gemeißelt und dabei doch belebt von einem dämonisch überlegenen Geist, der sich nie für überwunden bekennen, den kein Schrecknis einschüchtern, kein Wunder blenden, kein Leiden rühren wird. Schön, im blühenden Mannesalter und hochgewachsen, mit Augen, die Speere entsenden, die Tiara auf dem stolz zurückgeworfenen Kopf, angetan in voller Pracht der orientalisch priesterlichen Würde, jede rasselnde Spange ein Symbol seines hoffärtigen, ehernen Sinnes, jede Bewegung der feinen, weißen Hände, jede Falte des malerisch drapierten Mantels, jedes Haar des wohlgepflegten Bartes ein Zeugnis vollkommen bewußter Beherrschung der Form, wie sie nur denen eigen ist, die gewohnt sind, eine klug berechnete Rolle vor der Oeffentlichkeit zu spielen. – So ist er grauenhaft und reizvoll, abstoßend und anziehend zugleich, ja für ein künstlerisch geschultes Auge, welches für das Meisterstück dieser Verschmelzung gegensätzlicher Wirkungen Verständnis hat, geradezu berückend!

So ergeht es auch der Gräfin. Ihr von der unbegreiflichen Demütigung des göttlichen Dulders empörtes Gefühl ist fast versucht, für den energischen Feind Partei zu nehmen, der seine und seines Gottes Ehre mannhaft verteidigt. Ein großes Weib kann sich dem Eindruck echter, geistvoller Männlichkeit nicht verschließen, und so lange bis das Martyrium Christi zum Heldentum wird, so lange übt der entschlossene, unbeugsame Hohepriester einen unwiderstehlichen Reiz auf die Gräfin aus. – Die bewußte Meisterschaft, das Genie des Darstellers, die vollendete Leistung erregt und fesselt das künstlerische Interesse der gebildeten Frau und, da bei diesen Ammergauern die Individualität und der Künstler nicht zweierlei sind wie beim Berufsschauspieler, so weiß sie, es ist auch ein großer Mensch, den sie da vor sich hat, und immer gewaltiger wird der Nimbus Ammergaus, und immer mehr nimmt sie der Geist, der über dem Ganzen herrscht, gefangen. Gleich ihm hervorragend ist auch die Persönlichkeit des Mesners, Nathanael, des zweiten Hohenpriesters, der mit der ganzen Wucht pharisäischer Ueberlegenheit und Sophistik als Ankläger wider Christus auftritt. Hinreißend ist die Beredsamkeit dieser beiden Richter, und in die hochaufschäumende Woge der Leidenschaft senkt der dritte, Annas, in seiner greisen Würde mit ruhiger Hand den scharfzahnigen Anker kalt bedachter, erbarmungsloser Entschließung! – Es ist eine imposante, unheimliche Gesellschaft bei einander, dieses hohe Synedrium, und unwillkürlich überkommt die Zuschauer jenes Grauen, welches ein Kreis unbarmherziger, verknöcherter Machthaber stets um sich verbreitet. Armes Lamm, wie wird dir's gehen!

Das Verhängnis nimmt seinen Lauf. Im folgenden Akt verkündet Christus den Jüngern seinen nahen Tod. Jetzt ist es, als trage er einen unsichtbaren Siegeshelm auf dem Haupte und die Taube des heiligen Geistes bilde mit ausgebreiteten Flügeln die Helmzier darauf. Jetzt ist er der Held, der den Tod wählt! Aber Sanftmut ist über ihn ausgegossen, ist das Gepräge seines ganzen Wesens, jene Sanftmut, die andere schont, für sich selbst jedoch nicht zittert. Eine neue Erkenntnis geht der Gräfin auf: Stark und doch sanft sein, das ist höchster Seelenadel – und, da auch hier wieder der Mensch und der Darsteller eins sind, so weiß sie, der, den sie vor sich hat, er ist es selbst: kraftvoll und sanftmütig. Und nun, endlich, schmilzt ihr die eben noch so trotzige Seele hin und sie möchte ihn an ihr Herz nehmen, um das Unrecht der ganzen Menschheit an ihm gut zu machen! Sie dankt es Simon, daß er ihn aufnimmt, den Todgeweihten, unter sein gastliches Dach.

»Ja, liebt ihn – ich liebe ihn auch!« möchte sie denen zurufen, die ihm Gutes tun. Als aber Maria Magdalena ihn berührt und salbt, da blickt sie weg, denn sie gönnt es ihr nicht und denkt an ihre arme schöne Büßerin zu Hause! Und wie er die Worte spricht: »Stehe auf, Magdalena! Die Nacht bricht herein und die winterlichen Stürme brausen! Doch sei getrost! In der Morgenfrühe, im Frühlingsgarten, wirst du mich wiedersehen!« – da stürzen ihr unaufhaltsam die Tränen aus den Augen: »Wann kommt denn für mich der Morgen, wo ich dich grüßen werde – im Frühlingsgarten, erlösende Liebe?« fragt es in ihr.

Als aber Maria erscheint und Christus Abschied nimmt von der Mutter, – als diese an die Brust des wonnevollen Sohnes sinkt und er ihr mit einer Stimme Trost zuspricht, deren Süßigkeit noch kein Ohr vernahm, da erfaßt sie ein Gefühl, wie sie es nie gekannt: es ist nicht Neid, nicht Eifersucht – nur ein schmerzliches Verlangen: »Wäre ich an diesem Platz!«

Und als Christus spricht: »Meine Stunde ist gekommen, meine Seele ist betrübt und was soll ich sagen? Vater, rette mich von dieser Stunde! Denn dieser Stunde wegen bin ich in die Welt gekommen!« und Maria, des Wortes Simeons gedenkend, ausruft: »Simeon, jetzt wird sich erfüllen, was du mir einst vorhergesagt – ein Schwert wird meine Seele durchdringen!« – da versteht die Gräfin zum erstenmal die einfältigen Bilder der Maria mit dem siebenfachen Schwerte im Herzen, denn nun blutet auch das ihre, von schneidendem Weh durchwühlt. Jetzt breitet er noch einmal in überwältigender Empfindung die Arme aus: »Mutter, Mutter! Für alle Liebe und Treue, die du mir in den dreiunddreißig Jahren meines Lebens erwiesen hast, empfange den heißen Dank deines Sohnes! Lebe wohl, beste Mutter!«

Da ist es der Gräfin, als könne sie es nicht ertragen, – als müsse sie in einem Meer von Sehnsucht und Traurigkeit untergehen!

»Mein Sohn, wo werde ich dich wiedersehen?« fragt Maria.

»Dort, liebe Mutter, wo sich das Wort der Schrift erfüllt: Er ward wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird und seinen Mund nicht öffnet.« Und die übrigen weinen ob der Trübsal, die ihnen bevorsteht, aber Christus mahnt: »Unterlieget nicht beim ersten Kampf! Haltet euch fest an mich!« Und wie er das sagt, da weiß es die liebende Seele, an ihn wird sie sich halten und wird geborgen sein.

Er geht! Ruhig, groß und ergeben schreitet er dahin, dem Tod entgegen.

Der Vorhang fällt, aber diesmal winkt kein Auge mehr von den Logen herüber, die Gesichter sind verhüllt von weißen Tüchern, die Tränen zu verbergen, deren man sich noch schämt, aber nicht erwehren kann.

Die Gräfin und ihr Begleiter sprechen kein Wort. Die Gräfin hat die Stirn in die Hand gelegt – der Prinz wischt sich heimlich die Augen.

»Volk Gottes, sieh, dein Retter ist nah dir! Gekommen ist der längst Verheißene!« singt der Chor, und der wiederaufgehende Vorhang zeigt Christus mit den Zwölfen auf dem Wege nach Jerusalem. Es ist der Moment, wo Christus weint über Jerusalem. Tränen des bittersten Schmerzes, der das Herz eines Gottes treffen kann: des Schmerzes um die Sünde der Welt. – »Jerusalem, Jerusalem, o daß du es doch erkenntest, was dir zum Frieden dient!«

Und die Jünger bitten den Herrn, nicht hineinzugehen in die feindliche Stadt, um so den Frevel zu verhüten, den sie bestimmt ist, an ihm zu verüben. Oder hineinzugehen und sich zu zeigen in seiner Macht, zu richten und zu lohnen.

»Kinder, was ihr wünscht, wird geschehen zu seiner Zeit, aber meine Wege sind mir von meinem Vater vorgezeichnet, und so spricht der Herr: ›Eure Gedanken sind nicht meine Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege!‹«

Und er geht weiter, treu und gehorsam, den Todespfad. Judas allein bleibt zurück und beschließt, sich von der gefallenen Größe zu trennen, die keinen irdischen Gewinn verheißt und Gefahr und Schande über ihre Anhänger bringt. So trifft ihn Dathan, der alte Groß, der das Werkzeug für die Rache der Händler sucht. Er findet es in Judas und nimmt ihn mit sich vor den hohen Rat.

Ein imposantes und zugleich rührendes Massenbild leitet nun einen neuen Abschnitt ein, der Mannaregen in der Wüste, der die hungernden Kinder Israels labt. Gleich darauf ein zweites: Die Riesentraube aus Kanaan. – »Mit des Mannas Genuß sättigte wunderbar in der Wüste der Herr und erfreute die Herzen mit den Trauben aus Kanaan, doch ein besseres Mahl wahrhaft vom Himmel bietet Jesus uns dar. Aus dem Geheimnis seines Leibes und Blutes quillt uns Gnade und Seligkeit!« singt der Chor.

Der Vorhang geht wieder auf, Christus ist mit seinen Jüngern zum Abendmahl versammelt. Ruhig ermahnende Abschiedsworte spricht er zu ihnen. Aber noch nicht ganz haben sie ihn begriffen, denn sie fragen ihn, wer dereinst in seinem himmlischen Reiche der Erste sein wird?

Da legt er lächelnd statt aller Antwort das Oberkleid ab, gürtet mit göttlicher Gebärde ein weißes Tuch um die Lenden und kniet nieder, den Jüngern den niedersten Dienst zu erweisen – die Fußwaschung!

Atemlos sieht es die Menschheit! – Unsichtbar schweben Engelschöre herab, und die Dämonen des Stolzes und Trotzes in der Menschennatur entfliehen und bergen sich in die tiefsten Gründe der erschütterten Herzen!

Ja, die starke Frauenseele, die sich anfangs gegen die Geduld des leidenden Gottes gesträubt – jetzt versteht sie ihn und auch in ihr wird es Tag, wie er's verheißen, und an dem allgewaltigen Gefühl, das sie zu den Füßen dessen niederzwingt, der da am Boden kniet, dem letzten der Jünger den Knechtesdienst zu tun, erkennt sie die Göttlichkeit der Demut!

Es ist geschehen. Er hat sich erhoben und legt das Oberkleid wieder an, er steht hoch aufgerichtet und sieht sich im Kreise um: »Ihr seid jetzt rein, aber nicht alle!« – und sein Blick ruht schmerzlich auf Petrus, der ihn dreimal verleugnen wird, bevor der Hahn kräht, und auf Judas, der ihn verrät für dreißig Silberlinge.

Dann setzt er sich wieder und wie die Ahnung des nahen Todes auch den gewöhnlichsten Sterblichen verklärt, und die sich losringende Seele im Moment der Trennung vom Körper leuchtend heraustreten läßt, so klärt sich aus der irdischen Gestalt des »Menschensohnes« der Gott heraus und tritt immer deutlicher auf dem bleichen Antlitz hervor, ehe er die bange Hülle verläßt, die er sich zur vergänglichen Wohnung erkoren. Und wie der Sterbende seine Habe verteilt an seine Erben, so auch er die seine! Aber er hat nichts zu geben, als sich selbst! Wie die Segenswolke sich in Millionen Regentropfen auflöst und das dürstende Laub tränkt, so gibt er sich hin und verteilt sich in Millionen Atome, die im Laufe der Zeiten Millionen von Menschen erquicken sollen mit dem Mahle der Liebe. Sein Leib und Blut ist sein Vermächtnis! In unzählbare Teile zersplittert er's an unzählbare Erben, und dennoch bleibt es Eins, und der Teil ist für jeden das Ganze. Denn wie ein Element eine große Einheit bleibt, ob es sich auch in noch so viele Atome auflöse, – wie das Wasser immer Wasser ist, sei es im einzelnen Tropfen oder im Ozean, – das Feuer immer Feuer, im Funken oder im Weltenbrand – so bleibt Christus immer Christus, im Tropfen des Kelches und im Bissen des Brotes, wie in seiner ureigenen Person, denn er ist auch ein Element, das Element der Gottheit!

Und wie am Sterbebett eines geliebten Wesens die Angehörigen knieen, seine Hand mit Tränen netzen und die letzte Bitte an ihn richten: »Vergib, wenn wir dich gekränkt,« so zieht es die Tausende, die anwesend sind, nieder auf die Kniee, und da ist nicht einer, der nicht die wundervolle Hand, die jetzt das Brot austeilt, an seine Lippen drücken möchte und rufen: »Vergib uns unsere Schuld!« – Aber wie die Ehrfurcht vor dem Sterbenden die laute Klage zurückdrängt, so nimmt sich die Menge zusammen, um nicht laut zu schluchzen, und so den Gottesfrieden zu stören, der auf der Stirn des Ueberwinders thront.

Unaufhaltsam nimmt nun das Verhängnis seinen Lauf. Judas verkauft seinen Herrn für dreißig Silberlinge, und sie werden ihm vor dem hohen Rat ausbezahlt. Die Silberstücke erklingen hell auf dem steinernen Tisch, auf den sie hingezählt werden. Es ist, als durchdringe der feine Klang schneidend die Welt, wie das Dengeln einer Sense, die bestimmt ist, das Heiligste dahinzumähen.

Die Priester frohlocken, Jubel im Lager der Feinde! Alles, was Menschenhochmut und Dünkel vermag, erhebt in Kaiphas sein triumphierendes Haupt. – Der königliche Priester steht so fest auf der Höhe seiner Weltmacht, daß nichts ihn stürzen kann, und – Jesus von Nazareth muß sterben!

So kommt der Abend heran, wo Christus mit den Zwölfen am Oelberg der Erfüllung seines Geschickes harrt. »Die Stunde ist gekommen. – Vater, verherrliche deinen Sohn, damit dein Sohn dich verherrliche! Ich habe das Werk vollbracht, – ich habe deinen Namen den Menschen geoffenbart! – Vater, erhalte sie in deinem Namen, heilige sie in der Wahrheit, damit alle eins seien, wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin!«

Und er geht auf den einsamen Hügel im Oelgarten, um die letzte Angst durchzukämpfen, die Angst des Todes, die auch den Gottentsprossenen erfaßt, solange er noch an die Gesetze des menschlichen Leibes gebunden ist.

»Mein Vater, wenn's möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber!« –

Hier erreicht Freyers Leistung den Höhepunkt: das ist nicht Darstellung mehr, das ist Wahrheit! Von der Stirn rinnt in heißen Tropfen der Schweiß, und in heißen Tropfen rinnt es vom Auge: »Doch nicht mein Wille, sondern dein Wille geschehe – dein heiliger Wille!« – Er faltet die zitternden Hände und stürzt nieder auf das tränenüberströmte Angesicht: »Vater – dein Sohn – höre ihn!« –

Immer schwerer atmet die Menge, immer reicher brechen die Tränen hervor. Auf das Herz der ganzen Menschheit fällt der Anblick dieses Leidens, fällt der unbeabsichtigte Vorwurf in dem Schmerzensrufe: »O, Sünden der Menschheit, ihr drückt mich nieder – o, der furchtbaren Last – des bitteren Kelchs!« –

Mit diesem Schmerz erst tritt der Gottgeborene der Menschheit ganz nahe, in diesem Schmerze erst neigt er sich zu ihr herab, daß sie ihn liebend umfangen könne, wie einen sterblichen Bruder! Und so ist es auch in diesem Augenblick. – Mit ihren Händen möchten sie ihn jetzt vom drohenden Marterpfahl reißen, mit Leib und Leben ihn schützen, mit jedem Opfer ihn loskaufen – zu spät, die Reue hätte ein paar Jahrtausende früher kommen müssen!

Die Stunde der Anfechtung ist vorüber. Die Jünger haben geschlafen und ihn allein gelassen – aber der Engel des Herrn hat ihn getröstet, der Engel, den Gott jedem schickt, den die Menschen verlassen. Jetzt ist er wieder er selbst – der Weltüberwinder!

Judas kommt mit den Häschern und drückt dem süßen Mund, an dem die Welt in wonnevollem Selbstvergessen hängen möchte, den Kuß des Verräters auf! –

»Judas, du trinkst diesen Atem, und du stürzest nicht taumelnd nieder und umfängst die Kniee des Verratenen?« ruft es im Busen der Gräfin: »Du kannst ihn küssen, diesen Mund, der deine todbringende Berührung so geduldig erträgt, und dein Haß verwandelt sich nicht in Liebe?« Ach, nur das Göttliche kann das Göttliche ahnen, nur das Verwandte zieht sich an! Judas aber ist das Bild der entgöttlichten Welt, die den Gott nicht mehr empfindet, und ginge er mitten durch sie hindurch! Die Henker, die rohen Gesellen, stürzen zu Boden, da er vor sie hintritt mit dem einen Wort: »Ich bin Jesus von Nazareth,« und er muß ihnen zurufen: »Stehet auf! Fürchtet euch nicht!« damit sie ihr Werk an ihm vollbringen können. – Judas aber bleibt unbewegt und gibt ihn preis.

Christus ist gefangen, und Stufe um Stufe schreitet er nun abwärts, in die tiefste Schmach! Aber wie sie ihn auch hindurchzerren durch den Pfuhl der Gemeinheit und Brutalität, wie sie ihn auch von Verhör zu Verhör schleppen – nichts raubt ihm die Majestät des Erlösers! – Und war vorher seine Rede gewaltig – so ist es jetzt sein Schweigen! Vor dem hohen Rat – vor Herodes und endlich vor Pilatus ist er der König, und die Mächtigen sind klein vor ihm.

»Wer weiß, ob dieser Mann nicht der Sohn irgend eines Gottes ist,« sagt ahnungsvoll der polytheistische Römer – und ihm graut vor dem Mysterium, das den Schweigenden umgibt.

Nichts wirkt hier, als die imposante Ruhe Freyers und das überirdische Auge. Der Blick, den er über Herodes hingleiten läßt, wenn dieser von ihm verlangt, er solle ihm ein Wunder zum besten geben – den Saal verfinstern oder eine Papyrosrolle in eine Schlange verwandeln – der eine Blick voll Hoheit und Mitleid mit dem armen, kurzsichtigen Staubgeborenen ist ein größeres Wunder als alle Zauberstücke der ägyptischen Magier.

Aber gerade dies Schweigen, dessen Ueberlegenheit die Priester mit knirschender Wut empfinden, beschleunigt sein Verderben, und er verschmäht es, dasselbe auch nur durch ein Wort aufzuhalten!

Wohl versucht es Pilatus, ihn zu retten. Der humane Römer mit seiner objektiv vornehmen Haltung, wie ihn Thomas Rendner mit vollendeter Meisterschaft darstellt, kontrastiert wohltuend von den düsteren, fanatischen Priestern, aber er ist nicht der Mann gewaltsamer Maßregeln, und die Rasenden wissen ihm diese Alternative zu stellen. Der Wunsch, zu vermitteln, die Entschuldigung aller lauen Charaktere, die vor Katastrophen zurückschrecken – entringt ihm bereits eine schmachvolle Konzession: er gibt den Unschuldigen zur Geißelung hin.

Mit zusammengebissenen Zähnen sieht es das Publikum mit an, wie der keusche Leib, an den Marterpflock gebunden, von Blut überronnen, unter den Streichen der Henker zusammenzuckt, ohne daß ein Laut der Klage der geschlossenen Lippe entschlüpft! – Und sie setzen ihn, als er » genug hat«, wie sie's nennen – auf einen Stuhl, hängen ihm den Königsmantel um und geben ihm das Binsenzepter in die Hand, dem Spottkönig. – Er aber schweigt! Und immer mehr reizt es die Henker – sie wollen ihre Genugtuung, sie wollen sich weiden an dem Winseln des Opfers – ein Faustschlag ins Gesicht, ein zweiter – Christus rührt sich nicht! Sie stoßen ihn vom Stuhl, daß er zu Boden stürzt – kein Auge vergißt das jammervoll schöne Bild – er aber schweigt! Da bringt einer der Henker eine Krone, aus mächtigen Dornen gewunden. Sie richten ihn wieder auf, und nun wird ihm der Marterkranz aufgesetzt. Die scharfen Spitzen sträuben sich – sie wollen sich dem edlen Haupt nicht bequemen – da nehmen die Henker zwei kreuzweis übereinander gelegte Stäbe und drücken ihm damit die Stachelkrone tief in die Stirn, daß die roten Tropfen hervorquellen! Christus zuckt zusammen unter dem furchtbaren Schmerz – aber – er schweigt! – Nun wird er hinausgeschleppt in seinem Blute, dem Pöbel zur Schau. –

Weiter läßt Helios dort oben die Strahlenrosse ziehen – er denkt aller Greuel der Geschichte seines göttlichen Hauses, denkt der Danaiden, denkt des gefesselten Prometheus und anderer mehr, doch er findet keinen – diesem vergleichbar, und ihn ekelt des Menschengeschlechts! Er wendet sein Antlitz ab, gen Westen, und lenkt das müde Gespann, langsamen Schrittes, zenithabwärts. –

Frostig weht Abendkühle herein in die schwüle Stätte der Angst. –

Aus den Straßen Jerusalems kommt brausender Tumult. Die Priester führen die aufgewiegelten Volksmassen daher vor des Statthalters Haus – mit Wort und Gebärde den Aufruhr schürend und zur Flamme anfachend. Eine Massenscene von nie dagewesener Wirkung. – Kaiphas, Nathanael, die Fanatiker des Judentums – dann Annas und Ezechiel, jeder an der Spitze einer Rotte, stürmen aus drei Straßen herein in überwältigendem Anlauf. Wie die empörte See tobt das Volk und, mit Wort und Blick die Elemente entfesselnd und beherrschend, ragt die Schreckensgestalt Kaiphas', des Hohenpriesters, darüber hin. –

»Schüttelt es ab! Werft es von euch, das Joch des Stierführers!« –

»Er hat Moses und die Propheten verachtet – er hat Gott gelästert – ans Kreuz mit dem falschen Messias!« –

»Fluch jedem, der zu seinem Tode nicht stimmt – er sei ausgestoßen aus dem Erbrecht unserer Väter!« –

So werfen die vier Anführer ihre Schlagworte, wie Feuerbrände, in die Scharen, und tumultuarisch zünden sie weiter.

»Der Nazarener soll sterben – wir fordern das Urteil!« braust es aus dem Munde des Volkes. Immer neue Scharen strömen herbei. – »O schönster Tag Israels! Kinder, seid standhaft! Droht mit allgemeiner Empörung. Der Statthalter wollte die Stimme des Volkes hören – er höre sie!« schreit Kaiphas, und seine Leidenschaft bringt die Massen in kochende Gärung. Alles drängt vor Pilatus' Haus. Jetzt öffnen sich die Türen, und der Statthalter tritt heraus. Mit tiefer Verachtung blickt das schöne, klassische Antlitz des Römers auf die rasende Meute herab. Hinter ihm erscheint das Bild des Jammers – das Bild aller Bilder – das Ecce-Homo – das alle Künstler der Welt darzustellen versucht und dennoch nie erschöpft haben! Hier steht es leibhaftig – vor den Augen der Menschen, und dem Statthalter selbst bebt die Stimme, als er darauf hinweist:

»Seht, welch ein Mensch!«

»Ans Kreuz mit ihm!« ist die Antwort. –

Pilatus versucht es, der Wut des Elements ein anderes Opfer zu bieten: das Scheusal Barabas wird vorgeführt und Christus gegenübergestellt. – Das Gemeinste dem Edelsten. – Aber der Anblick rührt sie nicht, denn in der Geduld und Ruhe des Gemarterten liegt eine Größe, die sie alle beschämt, und das ist es, was ihnen unerträglich ist! Deshalb kühlt der Anblick des zerpeitschten, blutigen Körpers ihre Rache nicht, weil sie sehen, daß der Geist noch nicht gebrochen ist! Er muß aber gebrochen werden, damit er nicht als Richter wider sie aufstehe, denn sie sind zu weit gegangen, das mißhandelte Opfer ist ihnen ein Vorwurf – es darf nicht leben mehr! –

»Gib uns Barabas frei! – Zum Tod mit dem Nazarener, kreuzige ihn!«

Vergebens versucht der Statthalter, das Volk zu überreden. Er ist zu schwach, der kühl-bedächtige Mann, diesen Gewalten des Hasses zu trotzen – er möchte Christus retten und will doch die Empörung nicht zum Aeußersten treiben. – So gibt er nach – aber der Schmerz, mit dem er's tut, »um größeres Unheil zu verhüten« – spricht ihn frei von der furchtbaren Schuld, deren Fluch er auf die Häupter der Anführer wälzt! –

In dem Ausdruck, mit dem er den Stab bricht, mit dem er die Worte spricht: »Nun nehmt ihn hin und kreuzigt ihn!« malt sich die Trauer des gebildeten Geistes um das ewig Schöne. –

Die blutgierige Meute bricht in ein Geheul von Mordlust aus, als ihr das Opfer ausgeliefert wird – jetzt kann sie ihre Rache an ihm kühlen! »Nach Golgatha – fort mit ihm zur Schädelstätte!«

Der Cynismus schlägt ihm die Tatze in die Seite! Er ist verloren, denn wehe dem Erhabenen, wenn der Cynismus einmal sein Blut geleckt hat, und die Macht gekostet, es zu zerstören – er läßt nicht eher ab, als bis er es zerfleischt hat und sich von edlem Blute so vollgetrunken, daß er, hintaumelnd, im Ekel an sich selbst erstickt. –

Christus, und für diese dein Opfer! – Wehe, es wird der Tag kommen, und sei's erst in Jahrtausenden – wo du erkennen wirst, daß sie es nicht wert waren! – Das aber wird der Tag des Gerichts! –

Aus den Straßen Jerusalems wälzt sich ein Zug – in seiner Mitte der Verurteilte, mit dem eigenen Marterwerkzeug beladen.

An der Ecke unter dem Volke steht Maria, von Freunden umgeben, und die Mutter sieht es mit an, wie sie den Sohn dahin führen gleich einem Tier, das, wenn's zusammenstürzt, mit Peitschenhieben wieder aufgetrieben und weitergezerrt wird, bis es liegen bleibt. –

Und hoch am dämmernden Himmel versammeln sich flüsternd die Götter mit heimlichem Grausen, um das Unerhörte zu sehen. – Denn, wie oft sie's auch geschaut, noch immer können sie's nicht glauben!

An einem Hause stockt der Zug – Christus sinkt. –

Da tritt ein Mensch heraus und stößt ihn von der Schwelle:

»Hinweg, hier ist kein Ort zum Rasten für dich!« –

Ahasverus! – Da sieht der Gepeinigte ihn an mit dem Blick des sterbenden Rehs – einem einzigen, stummen Schmerzensblick, aber der, den er trifft, findet nimmer Frieden auf Erden, den jagt er auf aus jeder Rast, den treibt er von Ort zu Ort – von einer Ruhestätte zur anderen – sonder Halt durch die Jahrhunderte hindurch – ruhelos!

»Er bleibt uns auf dem Wege« – ruft der erste Henker – Christus hat sich weitergeschleppt und bricht zum zweitenmal zusammen!

»Treibt ihn mit Schlägen!« toben Pharisäer und Volk. –

»O, wo ist ein Schmerz meinem Schmerze vergleichbar?!« – stöhnt Maria und verhüllt ihr Antlitz. –

»Er ist zu sehr geschwächt, es muß ihm jemand helfen,« sagt der Henker. – Er darf nicht liegen bleiben – das Volk muß ihn am Schandpfahl sehen.

Sein Antlitz ist bedeckt mit Blut und Schweiß – aus seinen Augen stürzen Tränen, aber der stumme Mund hat keinen Laut der Klage. – Da wagen sich die Freunde heran, ihm beizustehen, so weit ihnen gestattet ist. Veronika bietet ihm ihr Tuch an, um sein Gesicht zu trocknen, und als er's zurückgibt, da ist in Schweiß und Blut das Bild abgedrückt, das durch alle Zeiten fortwirkt mit stillem Schmerzenszauber in Sage und Kunst! –

Simon von Kyrene nimmt dem Erliegenden das Kreuz ab, um es für ihn nach Golgatha zu tragen, und die Frauen Jerusalems weinen. – Christus steht erschöpft zur Seite, als er aber die Frauen mit ihren Kindern sieht, da ringt sich's noch einmal aus seinem Herzen, das letzte große Wort des Schmerzes um die Verlorenen: »Töchter Jerusalems, weinet nicht über mich, sondern über euch und eure Kinder! Denn sehet, es wird der Tag kommen, da man sagen wird: Glücklich die Unfruchtbaren und die Leiber, die nicht geboren, die Brüste, die nicht gesäugt haben! Dann werden sie den Bergen zurufen: ›Fallet über uns!‹ Und zu den Hügeln: ›Bedecket uns!‹ Denn wenn das am grünen Holze geschieht, was wird am dürren geschehen?« –

»Treibt die Weiber hinweg! Schont ihn nicht mehr – fort auf den Richtplatz!« befehlen die Priester. –

»Nach Golgatha – ans Kreuz mit ihm!« brüllt das Volk. Und die Frauen werden fortgetrieben; eine nochmalige Botschaft des Statthalters bleibt unbeachtet, der Todeszug setzt sich unaufgehalten in Bewegung.

Maria aber verläßt ihn nicht mehr. Mit den Getreuen schließt sie sich dem Foltergang des Sohnes an, denn die Standhaftigkeit der Mutterliebe ist so groß wie ihr Schmerz. –

Es raunt und rauscht in den Lüften, als ob die Walküren mit den Göttern berieten, ob sie ihm helfen sollten. – Aber sie vermögen es nicht: die Sphäre des Christengottes ist ihnen verschlossen. –

Die Scene verwandelt sich. In schwarzen Trauermänteln tritt der Chor heraus und stimmt für den sterbenden Gott den Grabgesang an. Und der einfache Gesang erinnert an ein altes angelsächsisches Lied vom Kreuz, das im siebenten Jahrhundert der Skalde Caedmon gesungen, und das über ein Jahrtausend lang im geheimnisvollen Bann der Rune begraben lag.

»Mich deucht, ich sehe,« so sagt das Lied,
»Einen strahlenden Baum
In Lüften schweben,
Vom Licht umwoben

Alle Engel sahen's,
Sie, die schön erschaffnen. –
Ein Schandpfahl war's nicht,
Daran die Blicke hingen
Der seligen Geister
Und der Erdenpilger,
Der edelsten Wesen.
Einen solchen Siegesbaum
Sah ich, Schuldbefleckter!

Doch, im Goldglanz gewahrt' ich
Greulichen Werkes Spur.
An der rechten Seite rinnende Tropfen Bluts –
Sah, erschrocken und schaudernd,
Das schwebende Bild die Farbe wandeln.

So lag ich
Lange und weilte, –
Nach des Heilands Holze
Harmvoll blickend.
Da hört' ich auf einmal
Hallende Rede.
Es sprach solche Worte
Der Waldbäume bester:

Vor manchem Jahr, –
Noch gemahnt's mich im Innern, –
Da ward ich gefällt
In Forstes Gründen,
Von der Wurzel getrennt
Durch wüste Gesellen.
Daß zur Schau ich diente,
Schleppten Knechte mich fürder,
Stemmten die Achsel,
Steuerten bergauf
Und festeten mich. – – –

Der Fürst der Menschheit,
Mich zu ersteigen,
Wie strebte er mutvoll!
Nicht wider der Troste Wort
Wagt' ich, noch durfte
Mich beugen und bersten
Beim Erbeben der Erde. – – –

Der Heldenjüngling,
Der Herr, der Allmächtige,
Die Richtstatt bestieg er
Starkmutig und ernst,
Vor der Menge Augen,
Er, der Menschheit Retter.
Unter ihm erbebt' ich! – – –

Des Waltenden Leichnam
Mit Gewölk umhüllet,
Der Sonne Schein war
In Schatten versenkt,
In tiefes Schweigen,
Als die Schöpfung beweinte
Ihres Königs Tod.
Christ hing am Kreuze.
Da kamen von fernher
Zu dem Fürsten die Mannen,
Eiligen Schrittes.
Ich schaute alles,
Von heißem Weh
Wund und gequälet.
Ich beugte mit Macht mich
Den Mannen zu Handen,
Demütigen Sinnes. – – –

Den machtvollen Gott
Hoben jetzt vom Holze
Der Hilda Männer,
Von dem blutbesprengten,
Dem Speerdurchbohrten,
Streckten hin im Frieden
Ihn, den Erstarrten, –
Den Himmelsherrn schauend,
Wie er schlief und ruhte,
Von der Arbeit ermüdet. –

So lautet der Hochsang Caedmons, des Runengewaltigen, aus dem siebenten Jahrhundert nach dem Tod des Erlösers. Und heute, zwölfhundert Jahre später, wird er wieder lebendig, und das furchtbare Ereignis erneuert sich wieder, gerade so, wie es der Skalde gesungen, gerade so, wie es vor bald zwei Jahrtausenden sich begeben.

Was ist Raum, was ist Zeit für das, was in der Liebe wurzelt? –

Der Chor hat sein Klagelied beendet. Ein seltsames Geräusch hinter dem Vorhang begleitet die letzten Strophen – ein Gehämmer – sollte das? – Nein – es wäre zu gräßlich! – Man hört's und will's nicht hören! – Totenstille herrscht im Zuschauerraum – die Hammerschläge werden immer deutlicher – der Vorhang rollt auf – da liegt er, kopfabwärts, die Füße gegen das Publikum, flach hingestreckt auf dem Kreuz, an der Erde! Und sie treiben ihm die Nägel mit wuchtigen Streichen durch die Glieder! Sie durchbohren diese gütigen Hände, die keinem lebenden Geschöpf je weh getan, aber, wo sie sich milde aufgelegt, alle Wunden geheilt und alle Schmerzen gestillt haben! Diese Füße, die so leicht die göttliche Gestalt dahintrugen, im schwebenden Schritt, über den heißen Sand des Landes und über die wogenden Wasser des Ozeans, immer dem einen Ziel der Liebe zu. – Jetzt liegt er da, elend am Boden, ausgespannt auf das Fluchholz – halb erstarrt wie ein gefällter Hirsch. Rechts und links stehen bereits aufgerichtet die niederen Kreuze der Schächer. Diesen sind die Arme nur um den Querbalken gewunden und mit Stricken geschnürt, nichts als die Füße sind mit Nägeln geheftet. Christus allein ist an Händen und Füßen festgenagelt, weil eine Ahnung die Pharisäer peinigt, als ob er nicht ganz umzubringen sei! – Wenn sie dürften, sie würden ihn in Stücke reißen und in alle Winde zerstreuen, um sicher zu sein, daß er am dritten Tage nicht auferstehe, wie er's geweissagt hat!

Die Henker sind mit der Aufknüpfung der Schächer fertig: »Jetzt muß der Judenkönig erhöhet werden!« –

»Richtet das Kreuz auf! Greift zu!« befiehlt der Hauptmann. Keine Brust atmet mehr, jeder Herzschlag stockt! Die vier Henker greifen mit muskulösen Armen zu. – »Auf! Nur nicht nachlassen!«

Das Kreuz ist wuchtig, die Knechte stöhnen und stemmen die Schulter – die Adern schwellen an – noch ein Ruck – auf schwankt der Balken. – »Haltet fest!« – »Noch mehr – strengt eure Kraft an!« Und es hebt sich im gewaltigen Bogen, es schwebt aufwärts – die Menschheit beugt sich schaudernd zurück vor dem Gräßlichen!

»Es ist nicht, es kann nicht sein!« – Und es ist, es kann sein! – Entsetzen schüttelt die Zuschauer, die Glieder beben. Einer faßt den anderen an, wie um sich zu halten, daß es ihn nicht niederwerfe. Es kommt, das Kreuz – es kommt über die ganze Welt! Immer höher – immer näher! »Haltet dagegen – laßt nicht los!«

Es steht, es ist gefestet! –

Da hängt die göttliche Schmerzensgestalt, nackt und bloß. Mitten durch die blutenden Hände und Füße gehen die Nägel, – und das Auge, das es leugnen möchte, muß es sehen – das Herz, das es ungeschehen machen will, muß es ertragen! Aber es hält sich nicht mehr vor diesem ungeheuren Anblick, laut aufschluchzend bricht das langverhaltene Weh hervor, und die von Fieberfrost zitternden Hände falten sich in einem Gefühl anbetender Liebe! – Namenloses, süßestes Mitleid ergießt sich in unaufhaltsamen Tränenfluten und steigt empor, eine Wolke von Wehmut über dem Haupte des Gekreuzigten sammelnd, ihm das Todesweh zu kühlen. Und allmählich gewöhnt sich das Auge an das Niegesehene und vermag es zu schauen! Göttliche Anmut ist über den schlanken Körper ausgegossen und – wie das Schöne ewig Himmel und Hölle versöhnt und das Furchtbarste verklärt – so löst sich das Entsetzen harmonisch auf in frommer Bewunderung vollendeter Menschenschöne, die sich da, in keuscher Ruhe und Majestät, entfaltet vor dem entzückten Blick. Die Gräfin hat die Hände über die Brust verschlungen. Die Welt liegt unter ihr, als ob sie da oben mit ihm am Kreuze schwebe. Sie weiß nicht mehr – ist er ein Mensch oder Christus selbst – sie weiß nur, daß nichts ist, als er! –

Ihre Augen sind starr auf die übermächtige Erscheinung gerichtet, Träne um Träne perlt herab. Der Freund betrachtet sie kummervoll – sie merkt es nicht – sie ist entrückt. – Jetzt sterben – am Fuße des Kreuzes sterben, die Seele ausströmen lassen wie eine Weihrauchwolke, empor zu ihm! –

Es dunkelt. Das Rauschen und Raunen in den Lüften kommt näher – sind es die Walküren, die sich trauernd scharen um den Helden, der ihre Hilfe verschmäht? Sind es die Fittiche der Todesengel? Oder ist es ein Flug jener heiligen Vögel, von denen die Sage geht, daß sie versuchten, die Nägel, mit denen der Heiland an das Kreuz geschlagen war, abzunagen, bis sich ihnen die schwachen Schnäbel krummbogen und ihnen den Namen der »Kreuzschnäbel« gaben?

Der Dulder dort oben ist ruhig und still. – Nur sein leuchtendes Auge spricht – es spricht mit den unsichtbaren Mächten, die da um ihn walten und weben in der Stunde der Vollendung. –

Unter seinem Kreuze würfeln die Knechte um sein Kleid – frohlocken die Priester – lauert mit wölfischer Gier die Bestie Cynismus, bis ihr das Opfer unbestritten verfalle, und fletscht ihm ihren grimmigen Hohn zu: »Komm herab, wenn du Gottes Sohn bist!« –

»Er hat sich auf Gott berufen, der rette ihn jetzt, wenn er Wohlgefallen an ihm hat!« –

»Er hat in drei Tagen den Tempel niederreißen und wiederaufbauen wollen. – Jetzt zeig deine Macht, du stolzer Judenkönig!« –

Da wendet der Gepeinigte schmerzlich sein Haupt:

»Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.«

Und der eine Schächer verhöhnt ihn selbst noch in der eigenen Todespein, der andere aber straft diesen mit ernstem Wort: »Wir empfangen den Lohn unserer Missetat, er aber hat nichts Böses getan!« und er bittet: »Herr, gedenke meiner, wenn du in dein Reich kommst!«

Da ruft Christus ihm das große Wort zu: »Wahrlich, ich sage dir, heute noch wirst du mit mir im Himmelreich sein!«

Neues Hohngebrüll der Pharisäer! »Er kann sich selbst nicht helfen und verheißt anderen das Himmelreich!«

Christus aber hört es nicht mehr, die Sinne umnachten sich; er beugt das Haupt zu Maria und Johannes herab: »Weib, siehe, das ist dein Sohn! Sohn, siehe, das ist deine Mutter!« –

Und jetzt kommen die Zeichen des nahen Todes. Er wird unruhig – er ringt nach Atem, die Zunge klebt ihm am Gaumen.

»Mich dürstet!«

Sie reichen ihm an langem Speer den Essigschwamm.

Er nippt, aber es erquickt nicht mehr. Die Angst ist aufs höchste gestiegen: »Eli, Eli, lama asabthani!« schreit er aus dem brechenden Herzen auf, eine wundervolle Wellenlinie überläuft im Todeskrampf den edlen Körper. Dann, tief aufatmend, spricht er mit Aeolsharfenton: »Es ist vollbracht! Vater, in deine Hände empfehle ich meinen Geist!« Er neigt sanft das Haupt und stirbt. –

Ein krachendes Getös erschüttert die Erde. – Donnernd rollt Helios' Gespann hinab ins Meer. – Die Götter entfliehen, von den herbeistürmenden Heerscharen des Himmels überflügelt und zerstreut. – Aus dem Boden wirbelt der Staub und aus den Klüften der Dampf auf und verfinstert die Luft. Die Gräber öffnen sich und speien ihren Inhalt aus. – Im gewaltigen Liebesschmerz sprengt der Vater die Erde, da er ihr das Opfer entrückt, das er ihr zu lange gelassen zur erbarmungslosen Peinigung! Der falsche Tempel zerbirst, der Vorhang zerreißt – und im Feuer des Himmels loht ihm das Vaterherz entgegen, dem mißhandelten, geduldigen, gehorsamen Sohn! –

»Komm, du Armer,« schallt es sehnsuchtsvoll durch die Himmel! »Komm, du Armer!« widerhallt es aus jedem Mund der Zuschauer da unten.

Noch müssen sie es mit ansehen, wie der geliebte Leib von scharfer Lanze durchbohrt wird, daß das heiße Blut herausquillt – und es ist, als ginge der Stoß durch das Herz der ganzen Welt! Noch müssen sie das Geheul der Wölfe hören, die sich um den heiligen Leichnam streiten – endlich aber darf die gemarterte Seele ausruhen – mit ihm. –

Die Hand des Statthalters hat den Leichnam geschützt und ihn den Seinen geschenkt.

Die Masse zerstiebt voll Grauen über die fürchterlichen Zeichen – die Priester fliehen schreckensbleich zurück zu ihrem zerschmetterten Tempel. Leer wird's auf Golgatha. Das Gespött und die Lästerungen sind verstummt, der Aufruhr in der Natur hat sich gelegt – und heilige Abendstille umfängt die Zurückgebliebenen. »Er hat es vollbracht – er ist eingegangen in die Ruhe des Vaters!« Lautlos rinnen aus der Herzwunde des Erlösers die Blutstropfen in den Sand. Nur leises Weinen der Frauen am Kreuzesfuß ist noch zu hören. –

Und jetzt naht sich die erbarmende Liebe, und nimmer ist ein Hohelied der Treue gesungen worden wie das, was die nächste Stunde bringt. Jetzt keimen die ersten Halme jener Liebe auf, deren Saat sich über den Erdkreis verbreitet hat! –

Joseph von Arimathia und Nikodemus kommen mit Leitern und Werkzeug, um die Leiche herunterzunehmen. – Sie steigen hinauf und umschlingen den entseelten Körper mit langen Bahnen weißen Linnens, deren Enden sie über das Kreuz hinabwerfen. Diese fassen die untenstehenden Freunde, als Gegenhalt, um ihn sanft damit herabzulassen. Joseph und Nikodemus beginnen nun, mit Zangen die Nägel aus dem Fleische zu ziehen; man hört das Holz krachen und splittern – so fest stecken die Eisen.

Maria sitzt auf einem Stein und erwartet ergebungsvoll, mit gefalteten Händen den Sohn. »Edle Männer, bringt mir bald den Leichnam meines Kindes!« fleht sie leise.

Die Frauen breiten ihr ein Leichentuch vor die Füße zu seinem Empfang. –

Endlich sind die Nägel herausgezogen, und –

»Den machtvollen Gott
Hoben jetzt vom Holze
Der Hilda Männer.«

Behutsam legt der eine Freund dem anderen die abgelösten, erstarrten Arme des Toten auf die Schulter, daß sie nicht jäh herabfallen, Joseph von Arimathia umfaßt ihn: »Süße, heilige Bürde, komm auf meine Schulter!« –

Er steigt mit ihm von der Leiter. Teils getragen, teils in den Tüchern schwebend, gleitet der Entseelte am Stamm des Marterpfahls hernieder.

Nikodemus breitet ihm die Arme entgegen: »Komm, heiliger Leichnam meines einzigen Freundes, laß dich umfangen!«

Und sie tragen ihn zu Maria. –

»Strecken hin in Frieden
Ihn, den Erstarrten,« –

auf daß der Sohn noch einmal im Schoß der Mutter ruhe.

Und sie nimmt ihn in die Arme, den wundenbedeckten, zum zweitenmal unter Schmerzen geborenen Sohn. –

Magdalena kniet daneben: »Laßt mich noch einmal die Hand küssen, die mich so oft gesegnet.« Und mit keuscher Inbrunst berühren die Lippen der Sünderin die kalte, durchbohrte Leichenhand.

Eine andere der Frauen wirft sich über ihn hin: »Liebster Meister, noch eine Träne auf deinen entseelten Leib!« Und das schluchzende Liebesgeflüster klingt süß und wohltuend, wie friedliches Abendgeläut nach wüstem Sturm.

Die Männer aber stehen andächtig stumm dabei. –

»Den Himmelsherrn schauend,
Wie er schlief und ruhte,
Von der Arbeit ermüdet.« –


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