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Siebzehntes Kapitel. Kreuzesflüchtig

Jeden Morgen um sechs Uhr geht der Bürgermeister auf die Kanzlei, denn das Tagewerk ist groß, und früh muß begonnen werden, wenn es vollbracht sein will. – Um sieben Uhr kommt dann gewöhnlich Freyer, um die Arbeit mit ihm zu teilen. Freitags aber treibt es ihn oft schon vor dem rastlosen Bürgermeister ans Werk, denn das ist der Tag, wo der Kassensturm beginnt und alle Hände voll zu tun sind.

Heute scheint Freyer sich jedoch Zeit zu lassen. Es ist sieben vorbei – er sollte längst da sein. Auch gestern kam er nicht – die fremde Dame muß ihn ganz in Beschlag genommen haben! – Der Bürgermeister schüttelt den Kopf, – Freyers Benehmen, seit die Gräfin hier ist, gefällt ihm gar nicht. Noch nie hat Freyer seine Gemeindepflichten so vernachlässigt. Und jetzt gerade in einer Zeit, wo das Passionsspiel eine nie dagewesene Höhe des Erfolges erreicht hat! Wie kann man da für etwas anderes – für etwas Persönliches – Sinn haben, noch dazu, wenn man den Christus spielt! – Es liegen Berge von Bestellungen aufgehäuft, wer soll das bewältigen, wenn Freyer nicht hilft?

Ein schönes Weib ist sie, diese Gräfin – und bestrickend mag sie sein. – Aber für den Bürgermeister gibt es nur eine Schönheit – es ist die des Engels seiner Heimat. – Hoch über dem Getriebe der Menschen, in wunschloser, vornehmer Abgeschlossenheit – sitzt der einsame Mann an seinem Aktentisch, inmitten seines kahlen, schmucklosen Bureaus. Aber der Engel Ammergaus besucht ihn hier, an seine Brust lehnt er ausruhend das müde Haupt, sein Kuß lohnt ihm die selbstlose Arbeit, sein Glanz umleuchtet den schlichten Bürger. Denn so arm und unscheinbar ist kein Haus, daß der Engel Ammergaus in dieser Zeit nicht Wohnung darin nähme und seine Weihe, seine Hoheit darüber ergösse! – Ihm aber, der das einheitliche Bewußtsein Ammergaus ist, dem Mann, der für alle sorgen – über alle wachen – für alle die Verantwortung tragen soll – diesem bringt er den Lohn, den Menschen nicht geben können – das stolze Gefühl dessen, was er der Heimat in diesen mühevollen Tagen ist.

Jetzt wäre es aber Zeit, daß Freyer kommt! Der Bürgermeister klingelt. Der Gemeindediener tritt ein: »Herr Bürgermeister befehlen?«

»Kleinhofer, sehen Sie doch einmal nach, wo denn der Herr Freyer bleibt, – oder der Zeichnungslehrer. Einer von den beiden muß doch zu finden sein!«

»Zu Befehl, Herr Bürgermeister.« Der Diener geht.

Wartend lehnt sich der Bürgermeister im Stuhl zurück. Sein Auge ruht ein paar Sekunden lang auf einem der Doréschen Kupferstiche, die Verurteilung Christi durch Pontius Pilatus. Unwillkürlich vergleicht er das Bild mit der Gruppierung auf der Bühne: »Ja, wenn man das machen könnte! Wenn lebendige Menschen mit massiven Knochen und ungefügen Gelenken ein so geschmeidiges Material wären wie Pinsel und Leinwand!« denkt er traurig. – »Ueberall, wo Menschen zu tun haben – muß von Unvollkommenheiten und Mängeln abgesehen werden. Das Vollkommene, das absolut Schöne, das besteht nur in der Phantasie! Und dennoch sollte es einer eisernen Regie nicht gelingen, auf den vorgezeichneten Spuren des Kunstwerks auch das plumpste Material dem künstlerischen Gedanken nachzuzwingen?«

»Viel – viel ist noch zu tun –« sagt sich der seltsame Bühnenleiter in schonungsloser Selbstkritik und legt den Kopf in die feine Hand, »wenn man denkt, was die Meininger leisten! Aber freilich, die arbeiten mit Künstlern – ich mit Naturalisten! – Und dabei noch eingeengt von dilettantischen traditionellen Schablonen – und das Schlimmste von allem, von veralteten Statuten und Vorurteilen – bei der Rollenbesetzung.« Er reibt sich die Stirn. Der Schatten Josepha Freyers steigt vor ihm auf und er fühlt die Wunde schmerzlich, die dem Passionsspiel geschlagen, da das schöne Geschöpf, der Typus der Maria Magdalena, ausgeschlossen ward. »Unter solchen Verhältnissen muß das Ganze leiden! Die Darsteller dürfen nicht nach Talent und Individualität gewählt werden, das kommt erst in zweiter Linie. In erster kommt das Ansehen der Person vor der Gemeinde. Ein verachteter armer Knecht darf auch nur eine untergeordnete Rolle spielen, selbst wenn er das größte Talent wäre, und die Hauptrollen sind das Monopol der Einflußreichen im Ort! – Aus einem so willkürlich beschränkten Kontingent muß sich hier der Regisseur das Personal für das große Werk zusammenstellen, das die höchsten Kräfte fordert. Es ist eine Riesenarbeit, aber es wird noch kommen, nur Geduld und eisernen Willen braucht's! Sie werden wachsen mit ihrer Aufgabe. Der steigende Erfolg des Passionsspiels wird sie es begreifen lehren, wie wichtig es ist, daß die künstlerischen Interessen allem andern vorgehen. Dann erst bricht die goldene Zeit für Ammergau an! Gott stärke mich, daß ich's erlebe!« sagt er. Und er hofft es zuversichtlich, denn an Talenten fehlt es nicht, und mit wenigen Ergänzungen wäre Großes zu erreichen. – Für dieses Jahr ist die Wirkung des Spiels gesichert durch Freyer. – Freyer ist eine Erscheinung, die alles andere minder Gelungene vergessen läßt. Mit ihm steht und fällt heuer das Passionsspiel! Und das Auge des Bürgermeisters ruht vergleichend auf dem Doréschen Christus und auf dem Freyers, wie es ihm vorschwebt – und Freyer hält den Vergleich aus. Er ist hervorgegangen aus der Hand des Schöpfers als lebendiges Kunstwerk, vollendet vom Scheitel bis zur Zehe. »Gott sei Dank, daß wir ihn haben!« nickt der Bürgermeister befriedigt.

Da klopft es an die Tür. »Endlich!« sagt der Bürgermeister: »Herein!«

Es ist aber nicht der Erwartete, sondern Ludwig Groß!

Schwankenden Schrittes tritt er näher, es ist, als versagten ihm die Füße den Dienst. Sein ernstes Gesicht ist wachsgelb und tief gefurcht – die Lippen zusammengepreßt – auf seiner Stirn glänzen Schweißtropfen.

Der Bürgermeister starrt ihn an: »Was ist's? Was hat's gegeben?«

Ludwig Groß zieht ein beschriebenes Blatt aus der Tasche: »Herr Bürgermeister – machen Sie sich auf eine schlimme Nachricht gefaßt!«

»Um Gottes willen, kann die Vorstellung nicht sein? Wir haben einen Vorverkauf von mehr als tausend Plätzen!«

»Das wäre das wenigste – Bürgermeister, ich bitte Sie, seien Sie stark – ich habe Ihnen ein großes Unglück zu melden –«

»Ist etwas mit Freyer?« ruft der Bürgermeister plötzlich ahnungsvoll.

»Freyer ist fort – mit der Gräfin Wildenau!«

»Durchgegangen?« ruft der Bürgermeister, es unerbittlich mit dem rechten Namen nennend.

»Ja! Hier diese Zeilen fand ich soeben auf seinem Tisch!«

Der Bürgermeister erbleicht, wie zu Tode getroffen. Einen Augenblick lang ist es ihm wie ein Donnern in den Ohren – der Donner, mit dem der Tempel Jerusalems zerbirst, dessen Priester er war! – Die Mauern stürzen, der Vorhang zerreißt und gibt die Aussicht nach der Richtstätte frei. Vor ihm liegt Golgatha. Er hört das Rauschen der entfliehenden Schutzengel Ammergaus. – Hoch oben in schauervoller Einsamkeit ragt das Kreuz, aber es ist leer – der daran hängen sollte, – ist verschwunden. Und graue Wolken senken sich nieder auf die verlassene Stätte.

Aber von dem leeren Kreuz geht ein Licht aus, – nicht wie von einem Heiligenschein – sondern wie der fahle phosphorische Schimmer faulen Holzes! Der leuchtet in eine Schlucht hinab, dort ragt an scharfer Felskante ein einzelner Wipfel in die Luft, und an diesem hängt, seiner Aufgabe treu – Judas!

Aus der Tiefe aber gellt ein Hohngelächter herauf: »Du hast dich vergebens gerichtet. – Dein Opfer ist entkommen! Seht den gewissenhaften Judas, der sich aufhängt, indes der andere sich 's wohl sein läßt!«

Schmach und Schande! »Der Christus kreuzesflüchtig!« Von nah und fern hallt es schadenfroh wider, der Cynismus jauchzt – das Gemeine hat gesiegt, das Göttliche wird zum Kinderspott – das Passionsspiel zur Travestie!

Dem Bürgermeister flimmert es vor den Augen, das phosphoreszierende Kreuzesholz! Ja, es ist faul und morsch – das Kreuz – es muß in sich zusammenfallen – die Fäulnis der Welt hat es angesteckt und zerfressen, und das geschah in Oberammergau – unter seiner Führung.

Wie ein Bild von Stein sitzt der unglückliche Mann, durch dessen Gehirn diese ganze Gedankenkette zieht, dem Freund gegenüber, der bescheiden wartend vor ihm steht und seinen Schmerz durch kein Wort stört.

Was die beiden Männer fühlen – jeder weiß es vom andern – es ist zu groß, um es auszusprechen.

Der Bürgermeister hält mechanisch das Blatt mit Freyers Schrift in der geballten Faust. Jetzt erinnert ihn die Eiseskälte und das Absterben seiner Finger daran. Er legt es auf den Tisch – matt ruht sein Auge auf den kindlichen Zügen der unausgeschriebenen Hand:

»Vergebt mir!« lautet der kurze Inhalt: »Ich bin nicht mehr würdig, den Heiland zu spielen! Nicht aus Gewissenlosigkeit, sondern aus Gewissenhaftigkeit lege ich meine Rolle nieder. Bis Ihr diese Zeilen findet, bin ich weit von hier! Gott wird seine heilige Sache nicht an die Person eines einzigen knüpfen – er wird mich Euch ersetzen! Vergeßt mich und vergebt dem Abtrünnigen, der doch in seinem Herzen treu sein wird bis zum Tode!

Freyer.

Nachschrift.

Mein Hab und Gut – Haus, Feld und das bißchen Wald, was nicht verbrannt ist, verkauft, und verteilt den Erlös an die Armen Ammergaus. Von der nächsten Stadt aus schicke ich hierzu die gerichtliche Vollmacht.

Nochmals lebet alle wohl!«

Der Bürgermeister schaut regungslos in das Blatt. Er könnte es schon zehnmal gelesen haben – und immer noch starrt er hinein.

Mit Schrecken sieht Ludwig Groß, daß der Blick sich verglast, die Züge sich verändern! Die Ruhe, die sich der eiserne Wille aufgezwungen, ist zur Totenstarre geworden. Der Zeichnungslehrer faßt ihn an und schüttelt ihn – jetzt, mit der veränderten Lage, verliert der leblose Körper das Gleichgewicht und sinkt über die Stuhllehne herab. Der Freund fängt ihn im Fallen auf – und stützt das edle Haupt. Es ist ihm möglich, mit der andern Hand die Glocke zu erreichen und dem Gemeindediener zu klingeln: »Schnell zum Arzt – er soll augenblicklich kommen!« – ruft er diesem zu. Entsetzt eilt der Mann fort.

Wie ein Lauffeuer geht die Kunde durchs Dorf, der Bürgermeister liege vom Schlage getroffen oben auf der Kanzlei. – Alles stürzt nach dem Rathaus. Der Doktor läuft ohne Hut über die Straße. Die Verwirrung ist grenzenlos.

Kaum vermag Ludwig dem Aufruhr zu gebieten. Den Bürgermeister in einem Arm, wehrt er mit dem andern die Andrängenden ab. Der Doktor kann kaum mehr durch, so voll ist das Gemach. – Er reibt dem Bewußtlosen Schläfe und Pulsader. »Ich halte es nicht für einen Schlaganfall, nur eine starke Kongestion nach dem Gehirn,« sagt er, »aber man kann immerhin nicht wissen, was noch daraus wird. Ueberarbeitet und überreizt ist er schon lange!«

Die angewendeten Mittel wirken, der Bürgermeister schlägt die Lider auf. Aber als sei er umgeben von unsichtbaren Dämonen, die wie wilde Tiere nur von dem festen Blicke des Bändigers im Zaum zu halten seien und die, stets zum Sprung bereit, nur auf den Augenblick lauerten, wo sie ihm das Heiligtum entreißen könnten, das ihm anvertraut, – so schärft sich auch in wenig Sekunden der matt erloschene Blick wieder zum sicheren Blitzstrahl des wachsamen gebieterischen Auges. Und dieselbe Disziplin, die sein unbeugsamer Wille über seinen Körper auszuüben gewöhnt ist, gibt ihm sogleich seine aufrechte Haltung wieder. Niemand als der Arzt und Ludwig weiß, was es ihn kostet.

»Ja,« sagt der Doktor leise zu Ludwig Groß: »Jetzt rächt sich's, daß er sich bei den furchtbaren Anstrengungen nie eine Erholung gönnt.«

Der Bürgermeister ist ans Fenster getreten und hat ein wenig Luft geschöpft. – Dann wendet er sich an die Umstehenden. Die Stimme zittert noch ein wenig, aber sonst ist nicht die leiseste Schwäche wahrnehmbar, und nichts verrät eine Erschütterung an ihm.

»Es ist mir lieb, meine Freunde, daß wir alle beisammen sind – ich hätte euch sonst müssen rufen lassen. Ist die Gemeinde vollzählig? Wir müssen sogleich eine Beratung halten. – Kleinhofer, zählen Sie ab.«

Der Gemeindediener tut, wie ihm geheißen.

»Die Herren sind alle da,« meldet er dann.

In diesem Augenblick eilt die Bürgermeisterin mit Anastasia herbei. Sie waren auf dem Feld gewesen und hatten jetzt erst die Schreckensnachricht von der Erkrankung des Gatten und Bruders erfahren.

»Bitte, seid ruhig!« sagt er streng. »Mir fehlt nichts – es ist nicht der Rede wert.«

Die Frauen weinen und werden von den Freundinnen umringt, aber der Bürgermeister weist sie mit einer gebieterischen Handbewegung in den Hintergrund des Zimmers. »Wenn ihr zuhören wollt – und ich wünsche, daß ihr's tut – so haltet euch still. Wir haben keinen Augenblick zu verlieren.« – Er wendet sich an die Gemeinde:

»Liebe Freunde und Genossen! Ich habe euch eine Botschaft mitzuteilen, von der ich nicht geglaubt hätte, daß sie ein Ammergauer von einem Ammergauer jemals aussprechen müsse. Ein großes Unglück hat uns betroffen: Wir haben keinen Christus mehr! Freyer ist plötzlich abgereist!«

Ein Schrei des Schreckens und der Entrüstung antwortet ihm. Ein Fragen und Durcheinanderrufen. Dazwischen laute Verwünschungen.

»Seid ruhig – Leute! beschimpft ihn nicht! – Wir wissen ja nicht, wie es gegangen. Ich kann's freilich nicht begreifen, wie so etwas möglich ist – aber wir dürfen nicht urteilen, wo wir nichts Näheres wissen! Jedenfalls wollen wir uns selbst achten, indem wir nicht schlecht über einen unserer Mitbürger – denn das war er doch – sprechen!«

Ludwig drückt ihm heimlich dankbar die Hand für dieses Wort.

»Dies ist ein Unglück, was Gott uns schickt« – fährt der Bürgermeister fort – »rechten wir nicht mit dem Armen, der nur das Werkzeug war! – Betrachtet ihn als einen Toten – wie er selbst es zu tun scheint. Er hat scheidend unsern Armen sein Hab und Gut vermacht, – das wollen wir ihm danken, wie es recht ist – im übrigen ist er tot für uns!«

Der Bürgermeister nimmt den Brief vom Tische »Hier ist sein letzter Wille für Ammergau, ich werde ihn euch vorlesen.« Und mit ruhiger Haltung liest der Bürgermeister das Schriftstück vor. Aber es ist doch, als zittere bisweilen die sonst so feste Stimme.

Als er zu Ende ist, herrscht tiefes Schweigen. Viele trocknen sich die Augen, andere blicken brütend vor sich hin, – es ist ein feierlicher Ernst über die Versammlung gekommen, wie bei einem Trauergeleit. – »Wir können nicht sagen,« fährt der Bürgermeister fort: »Friede seiner Asche – denn noch lodert das Feuer in ihm, das uns so verderblich wird – wir können nur sagen: ›Vergeb' ihm Gott!‹ und damit sei das letzte Wort über ihn gesprochen.«

»Vergeb' ihm Gott!« murmeln die schwer getroffenen Leute.

»Amen!« sagt der Bürgermeister. »Und nun, meine Freunde, laßt uns beraten, was zu tun sei.

»Wir können uns nicht darüber täuschen, daß unsere Lage schwierig – ja hoffnungslos ist. Das erste, was wir zu retten suchen müssen, ist die Ehre! Wenn es – ruchbar wird, daß einer von uns und nun gar der Christus – fahnenflüchtig oder sagen wir lieber kreuzesflüchtig geworden ist, so sind wir beschimpft und die heilige Sache muß darunter leiden! Unsere Ehre ist hier gleichbedeutend mit der Ehre Gottes, und wenn wir sie nicht für uns wahren, so müssen wir es um Gottes willen tun!«

Allgemeine Zustimmung antwortet ihm. Er fährt fort: »Wir müssen daher alles aufbieten, daß die Sache Geheimnis bleibt. Sagen wir, Freyer sei plötzlich den Anstrengungen seiner Rolle erlegen und habe, um sein Leben zu retten, fort gemußt in ein milderes Klima! Wer uns kennt, uns Ammergauer, der wird es zwar nicht glauben, daß einer seiner Gesundheit wegen austräte und nicht lieber stürbe, als die Vorstellungen zu unterbrechen – aber – die wenigsten kennen uns ja!«

»Das weiß Gott!« bestätigen die andern traurig.

»Ich schlage also vor, daß wir uns alle das Versprechen geben, den eigentlichen Sachverhalt streng zu verschweigen und die eben angedeutete Lesart unter das Publikum zu bringen!«

»Ja, ja – wir wollen uns verabreden, daß keiner etwas anderes sagt!« stimmten die Männer bereitwillig zu. »Aber die Frauenzimmer – die werden's ausschwätzen!« meint der alte Groß.

»Das eben fürcht' ich! Eurer, der Männer, bin ich sicher –« sagt der Bürgermeister und ein strenger Blick trifft die Frauen und Mädchen: »Die Männer haben das volle Bewußtsein der Bedeutung und des Ernstes unserer Sache. Schlimm genug, daß so viele unter uns von ihren Frauen darin nicht verstanden und unterstützt werden! Ihr – der weibliche Teil Ammergaus – ich muß es leider sagen – ihr habt dem Ort und der Sache durch eure Schwätzereien schon mehr geschadet, als ihr vor dem Gott, der uns seiner heiligen Mission würdigt, verantworten könnt! Da wird gezischelt und geklatscht, wo ihr's ungestraft tun zu können glaubt, und den Fremden Dinge ins Ohr geraunt, die dann als falsche Gerüchte durch die Welt gehen! Ihr fragt nichts nach der großen Sache, wenn es sich darum handelt, eine einzige kleine Bosheit auszulassen! Jetzt weint ihr, nicht wahr? Weil wir zu Grunde gerichtet sind, – die Vorstellungen aufhören müssen! Wißt ihr aber, ob Joseph Freyer im stande gewesen wäre, uns das zu tun, wenn er nicht schon lange mit der Gemeinde zerfallen wäre wegen der Gerede, die ihr über ihn und seine Verwandte, die Joseph«, ausgesprengt? Das hat ihn gegen uns verbittert und ihn der Fremden in die Arme getrieben! Hat er es nicht hundertmal gesagt, wenn ihn der Christus nicht hielte, so wäre er längst fort von Ammergau? Wo aber ein Band zerstört ist, da reißt das andere um so leichter! Nehmt es euch zur Lehre – und schweigt wenigstens diesmal, wenn ihr eurer Frauennatur so weit gebieten könnt! Ich mache eure Männer verantwortlich für jedes Wort, was in dieser Sache hinauskommt!« Einige unter den Weibern murren und schießen giftige Blicke auf den Bürgermeister.

»Auf wen geht das, wer soll geklatscht haben?« fragt ein robustes Weib mit frecher Stirn.

Der Bürgermeister runzelt die Brauen: »Wer sich getroffen fühlt, dem gilt es – und wer sich nicht getroffen fühlt, den geht es nicht an!« ruft er mit strengem Ton: »Die braven stillen Frauen unter euch wissen wohl, daß ich sie nicht meine – und die andern mögen sich's ad notam nehmen!«

Eine peinliche Pause entsteht. Das Auge des Bürgermeisters ruht drohend aus den zornigen Gesichtern der Getroffenen. Die, welche sich unschuldig fühlen, staunen ihn unbefangen an.

»Ich stehe für mein Weib.« – »Aus meinem Haus soll nichts geschwätzt werden!« beteuert einer um den andern, und so wäre denn wenigstens alles getan, um die Ehre zu retten und die Schande vor der Welt zu verbergen. – Jetzt aber kommt die Frage, wie die Spiele retten? Eine heiße Debatte entsteht. – Die um ihre Hoffnungen betrogenen Leute wollen weiter spielen lassen um jeden Preis, mit jeder Besetzung. Aber hier stoßen sie auf den entschiedenen Widerstand des Bürgermeisters: »Entweder gut – oder gar nicht!« ist sein Ultimatum. »Wir können uns doch keinen Augenblick darüber täuschen, daß gegenwärtig keiner unter uns ist, der den Christus spielen kann, – ausgenommen Thomas Rendner – wo aber dann einen Pilatus hernehmen, der wiederum Thomas Rendner ersetzen würde?«

Es wird heftig hin und her beraten: »Nathanael, der Mesner, könnte den Pilatus spielen.«

»Und wer dann den Nathanael?«

»Ja, wenn der und jener noch hier wäre! Aber die sind ausgewandert, um Brot zu suchen, wie so viele, die hier keinen Verdienst mehr finden, seit die Partenkircher Schnitzschule den Ammergauern Konkurrenz macht! Und es werden noch viele nachfolgen! Wenn es so fortgeht und sich unser Zustand Heuer nicht durch den Passion verbessert, dann können wir in zehn Jahren bald keine Rolle mehr besetzen, denn nach und nach treibt die Not alle fort!«

»Ja, es steht schlimm mit uns, meine Freunde! Immer mehr schmilzt das Personal zusammen – immer größer wird die Gefahr für das Passionsspiel. Wenn wir es Heuer nicht retten, so wird der Notstand uns um die besten Spieler für das nächste Mal bringen. Und dennoch, meine Freunde! glaubt mir – ich sag' es mit schwerem Herzen: wenn wir jetzt mit einer schlechten Besetzung weiterspielen – dann sind wir ganz und für immer verloren, denn dann haben wir den Ruf des Passionsspiels zerstört!«

»Thomas Rendner wird den Christus gut spielen – das hat keine Gefahr!«

»Und wenn auch – wenn Rendner den Christus, der Mesner den Pilatus und irgend ein anderer den Nathanael spielt – müssen wir denn nicht das ganze Stück neu studieren, geht denn das in dieser Schnelligkeit? Können wir jetzt wieder anfangen Proben zu machen? Ich frage euch, geht das?«

Die Leute lassen mutlos die Köpfe sinken.

»Zu helfen wäre uns nur, wenn sich ein Christus unter den Mitspielenden fände, – und was Talent hat, ist bereits beschäftigt. – Die andern sind nicht zu brauchen, wenn wir ein künstlerisches Ganze herstellen wollen.«

Die armen Menschen ergreift die Verzweiflung, – da ist nicht einer, der nicht sein bißchen Hab und Gut in Möbel und Betten für die Fremden gesteckt und daraufhin gar Schulden gemacht hat, abgesehen von der allgemeinen Not!

Immer neue Vorschläge werden gemacht, die der unglückliche Bürgermeister alle zurückweisen muß.

»Es handelt sich ums allgemeine Beste und der Bürgermeister denkt nur an das künstlerische Ganze

Schließlich wendet sich der ganze Groll gegen ihn, und die ihn schüren, sind zumeist die Fremden, die herzogen, um auf das Passionsspiel zu spekulieren und denen nichts daran liegt, ob es für die Zukunft diskreditiert wird, wenn sie nur noch zu ihrem Geld kommen!

»Ich kenne sie, die Elemente, welche da hetzen,« sagt der Bürgermeister, mit seinem strengen Blick die Versammlung überfliegend. »Aber es soll ihnen nicht gelingen, uns alte Ammergauer, die wir in jeder Drangsal zusammenhielten, auseinander zu bringen! Freunde, laßt ihn uns vor Zwietracht bewahren, den Jahrhunderte alten Geist unserer Väter, – laßt uns die gute alte Ammergauer Art nicht im Unglück verleugnen.«

»Und bei der guten alten Art könnt ihr dann verhungern!« hetzen die Spekulanten:

»Wenn dem Herrn Bürgermeister eure Interessen nicht wichtiger sind als der Ruhm seiner Leistungen als Regisseur – dann soll er nach München gehen und Theaterintendant werden, – da kann er dann Mustervorstellungen geben, so viel's ihn freut!«

»Ja,« ruft ein anderer, »er opfert unser Interesse seiner persönlichen Eitelkeit!«

Der Bürgermeister bleibt ruhig und hochaufgerichtet stehen bei dieser Anklage. Nur eine dunkle geschwollene Ader auf der müden Stirn verrät den Zorn, der in seinem Innern kocht.

»Auf eine solche Anklage verschmähe ich jede Erwiderung! Ich kenne das Herz meiner Mitbürger zu gut, um zu fürchten, daß einer unter ihnen das glaube!«

»Nein, gewiß nicht!« rufen die Besonnenen. Die Mehrzahl aber schweigt in verzweiflungsvoller Erbitterung.

»Ich weiß es – es sind manche unter euch, die mich verkennen, und ich trage es ihnen nicht nach – ich gebe zu, daß es in solchen Sturm- und Drangperioden schwer ist, sich ein unbefangenes Urteil zu bewahren. –

»Ich weiß auch, daß ich selbst euer Urteil zum öftern verwirrte, denn es ist ja unmöglich, ein solches Wert ins Leben zu rufen, ohne hier oder dort anzustoßen. – Ich weiß, daß mir viele, die sich gekränkt und zurückgesetzt fühlen, heimlich grollen, und ich verarge es ihnen nicht! – Nur bitte ich, den Groll mich persönlich entgelten zu lassen – ihn aber nicht auf die Sache auszudehnen und nicht diese zu schädigen, aus Opposition gegen mich. Nur in wichtigen Augenblicken wie diese bitte ich euch, laßt eure persönlichen Empfindlichkeiten fallen und schart euch um mich – nur in dieser einen entscheidenden Stunde denkt an das Ganze und nicht an alles Ueble, was der Bürgermeister euch im einzelnen getan!

»Hätte ich nur das Interesse Ammergaus zu wahren, dann wäre ja alles gut! Aber ich habe nicht nur euer Wohl – ich habe die Würde einer Sache zu wahren, für die ich Gott verantwortlich bin, – solange sie in meine Hand gelegt. Der Mensch ist nun einmal schwach und äußern Eindrücken unterworfen. Von der größeren oder geringeren Illusion, die das Passionsspiel als sinnliche Erscheinungsform des Göttlichen hervorbringt, hängt die religiöse Vorstellung Tausender ab! Das ist eine schwere Verantwortung in einer Zeit, wo die Negation und der Materialismus dem Glauben immer mehr Boden raubt und alles Heilige in den Staub zieht. In solch einer Zeit ist die höchste Formvollendung notwendig, damit wenigstens die Form Achtung gebiete, wo das Wesen verachtet wird! Ich will versuchen, es euch durch ein Beispiel klar zu machen: Der Cyniker, der unsern Marienkultus verhöhnt und mit satirischem Vergnügen die Jungfrau als behäbige Mutter von vier oder fünf Buben malt, wird lachen über eine Muttergottes von Altötting und andere mehr – aber er wird verstummen und ernst werden vor einer sixtinischen Madonna! Denn hier tritt ihm das Göttliche, an das er nicht glauben will, im Kunstwerk entgegen und zwingt ihn zur Ehrfurcht! Gerade in einer Zeit des Materialismus wie diese hat die religiöse Darstellung die dankbarste Aufgabe, – denn je tiefer der Mensch in Sinnlichkeit versinkt, desto zugänglicher ist er sinnlichen Eindrücken und desto leichter kann die Religion durch die sinnliche Erscheinung auf ihn wirken, – abstoßend oder anziehend – je nach der mangelhafteren oder künstlerischen Behandlung des Stoffes. Das religiös-sinnliche Moment ist das einzige, woran eine Zeit wie diese noch zu fassen ist, darum sind die Passionsspiele jetzt wichtiger denn je!

»Und mir hat Gott das bescheidene Talent der Regie und ein wenig künstlerische Ausbildung verliehen, daß ich darüber wache und dafür sorge, daß die, welche vertrauend zu uns kommen, um bei uns ihren Gott zu suchen, nicht mit einer Enttäuschung von hinnen gehen – und daß diejenigen, welche kommen, um zu lachen, still werden – und sich schämen müssen!

»Das ist die große Aufgabe, die mir geworden, die ich bisher ohne Rücksicht auf persönliche Uebelnehmereien und Verletzung kleiner Einzelinteressen durchgeführt habe und auch ferner, selbst wo es sich um die äußerste Not handelt, durchzuführen hoffe!

»Wollt ihr euch daran stoßen, dann hättet ihr das Amt, das ich verwalte, einem geben müssen, der minder groß von seiner Aufgabe denkt – als ich, und der gefällig genug ist – das Große für das Kleine zu opfern. Dann aber sehet, wohin ihr kommt mit dem willfährigen Mann, der jeden hört und jeden berücksichtigt! – Seht, wie bald Anarchie unter euch ist, denn wo die einheitliche Leitung fehlt und jeder seinen Willen geltend machen kann, da schießt die Saat der Zwietracht, alles überwuchernd, auf! Jetzt seid ihr alle nur gegen mich, – dann aber werdet ihr gegeneinander sein, und bis ihr euch gezankt und hin und her gestritten habt – ist die Zeit ungenützt verstrichen und in der Not wird dann zur nächsten besten veralteten Schablone gegriffen, weil diese am leichtesten und schnellsten ausführbar ist. – Die moderne Welt aber wendet sich mit Hohnlächeln ab und sagt besten Falls: ›Man kann diese Bauernkomödie nicht mehr sehen.‹

»Dann verantwortet es, daß ihr Tausende um eine schöne Illusion gebracht – und sie ärmer an Glauben und Erbauung heimziehen laßt, als sie gekommen, – verantwortet es vor Gott, dessen erhabene Aufgabe ihr durch mangelhafte Ausführung herabgewürdigt und endlich vor euch selbst, daß ihr über dem augenblicklichen Vorteil die Zukunft vergeßt und das Passionsspiel, um es noch ein paarmal auszunützen, für künftige Jahrzehnte ruiniert! Ihr glaubt das nicht, weil ihr hier im weltfernen Dorf nicht wissen könnt, was der Geschmack unserer Zeit verlangt. Ich aber weiß es, ich war draußen in der Welt, und ich sage euch, wer diese letzten etwa noch zu erzielenden Vorstellungen sieht, der kommt sicher nicht wieder und bereitet uns einen Ruf, der uns für immer zu Stümpern macht!«

Der Bürgermeister greift sich nach dem Kopf, ein stechender Schmerz bohrt in seinem Gehirn – und nicht minder in seinem Herzen.

»Ich habe nichts mehr hinzuzufügen,« vollendet er matt: »Wenn ihr aber einen wißt, von dem ihr glaubt, daß er besser für Ammergau zu sorgen vermag als ich – so bin ich jeden Augenblick bereit, mein Amt in seine Hände niederzulegen!«

Da bricht es auf einmal aus aller Herzen hervor, das alte große Gefühl für die heilige Sache der Väter und das dankbare Verständnis für den, der es wieder in ihnen geweckt. Nein – er verdient es nicht, daß sie an ihm gezweifelt – er hat sie wieder gelehrt, als Ammergauer zu denken, ja, sie empfinden es mit Stolz, er ist vom alten Schrot und Korn, – es ist Ammergauer Blut, das in seinen Adern rollt und aus der Wunde strömt, die heute seinem Herzen geschlagen! Sie sehen, daß sie ihm weh getan, und sie scharen sich in alter Liebe und Treue um den schwerbedrängten Mann, bereit, es gutzumachen, mit Leib und Leben, denn sie meinen es ja alle ehrlich, die heißblütigen, leichtbeweglichen Künstlergemüter.

Die Unzufriedenen müssen schweigen, niemand hört sie mehr. Alles umringt den Bürgermeister. »Wir wollen Ihnen folgen, Bürgermeister, – sagen Sie nur, was wir tun sollen – und wie uns zu helfen ist? Wir bauen ganz auf Sie!«

»Ein harter Rat ist's, meine Freunde, mit dem ich euer wiedergeschenktes Vertrauen lohnen muß: Laßt uns das Mißgeschick als Männer tragen! Lieber im Wald Bäume fällen und taglöhnern – wenn es nicht anders geht, – ja lieber hungern, – als untreu werden dem Geist unserer Väter! Hab' ich nicht recht?«

Ein Sturm der Begeisterung antwortet ihm.

Der Beschluß wird gefaßt, das Ende der Passionsspiele für dieses Jahrzehnt zu proklamieren. Das Protokoll wird von sämtlichen Gemeindemitgliedern unterzeichnet.

»So ist es denn vorbei für dieses Mal! Für manchen von uns vielleicht für dieses Leben!« spricht der Bürgermeister. »Ich danke allen Mitspielenden für ihre bisherige Unterstützung. Ueber die Einnahmen und Ausgaben werde ich in diesen Tagen den Bericht erstatten. Von einem eigentlichen Schlußakt wollen wir in Anbetracht der traurigen Veranlassung Umgang nehmen.«

Eine andere Stimmung als vorhin bemächtigt sich nun der Anwesenden. Jetzt plötzlich verschwindet alle materielle Sorge vor einer tieferen Trauer. Es ist der große eigentümliche Trennungsschmerz, der alle die ergreift, welche etwas in und mit dem »Passion« zu tun hatten. Es ist, als seien die Wurzeln ihres Herzens ganz mit diesem verwachsen und müßten blutend losgerissen werden, als ginge ein Stück Leben mit. Den alten Männern wird es am schwersten. »Zum letztenmal in diesem Leben!« das ist ein Wort, vor dessen dunkler Pforte wir zagend stehen, sei es, wo es sei, – wenn dies »zum letztenmal!« aber gar das Höchste und Liebste trifft, was wir auf Erden getan, dann birgt es einen unergründlichen Abgrund von Wehmut! Der alte Barrabas, der Neunzigjährige, spricht es zuerst aus, – die andern sprechen es nach, und die Greise, die miteinander jung gewesen und das ganze Leben, an dessen Neige sie angelangt, der gemeinsamen Sache, die ihr Höchstes war, gewidmet, sinken sich in die Arme, wie eine Schar dem Tod Geweihter.

Da intoniert einer die Schlußworte des Chorführers: »Bis wir einst dort uns wiedersehen –« Und wie aus einem Munde stimmt alles ein, das unnennbare Weh des Scheidens aus der Gemeinschaft mit dem Göttlichen, in welcher jeder von ihnen während dieser Zeit gelebt, schafft sich selbst seine Abschiedsfeier und findet den richtigen Ausdruck in jenem Schlußwort des Passionsspiels.

Dann reichen sie sich die Hände und sagen sich lebewohl fürs Leben! Sie wissen zwar, daß sie sich morgen wiedersehen – in denselben Kleidern – aber doch nicht mehr als das, was sie jetzt sind, römische Statthalter und Hohepriester – Apostel und Heilige! Ausgeschlossen sind sie nun aus der Umgebung des Herrn, denn ihr Christus ist nicht aufgestiegen wie sonst – er ist entflohen – und hat seine Schar treulos verlassen, bevor sie ihre Aufgabe erfüllen konnte. Das ist doppelt hart!

Der alte Judas, der ehrwürdige Lechner, ist so erschüttert, daß er die Treppe hinuntergeführt werden muß: Judas weint über Christus! Unsäglich hat der treue Mann schon unter der Pflicht gelitten, die Rolle des Verräters zu spielen, – der Verrat, den nun der Christusspieler selbst an der heiligen Sache verübte – bricht ihm das Herz! »Daß ich das erleben mußte!« stammelt er händeringend im Hinuntergehen. – Thomas Rendner aber schüttelt den schönen Kopf und wiederholt schwermütig gedankenvoll das große Wort des Pilatus: » Was ist Wahrheit?!« Mit einer Träne im Auge reicht er Kaiphas tröstend die schwielige Rechte.

»Nehmen Sie sich's nicht so schwer, Herr Bürgermeister! Der alte Gott lebt noch!« – Dann wirft er einen traurigen Blick nach einer Ecke des Saals: »Arme Maria! ich hab' mir's immer gedacht!« murmelt er mitleidig vor sich hin und geht den anderen nach.

Der Bürgermeister und Ludwig bleiben allein zurück und folgen der Richtung von Rendners Blick. – Da – es zerreißt ihnen fast das Herz – da sitzt des Bürgermeisters Schwester – die »Maria« still in der Ecke und hat die Hände im Schoß gefaltet, wie sie zu tun gewohnt war, wenn sie wartete, bis man ihr den Gekreuzigten brachte.

»Arme Schwester,« sagt der Bürgermeister erschüttert – »auf was wartest du noch? Sie bringen ihn dir nicht mehr!«

»Er wird schon wieder kommen, der Arme!« spricht sie leise und ihre großen Augen starren seherhaft in die Ferne: »Er wird kommen, müd und wund, – vielleicht um alles betrogen!«

»Dann aber kenn' ich ihn nicht mehr!« sagt der Bürgermeister leise und fest.

»Das kannst du halten, wie du willst, du bist ein Mann! Ich aber, die so lange seine Mutter gespielt hat, – ich werde es bleiben und ich werd' ihn aufnehmen und trösten, wie eine Mutter das verirrte Kind!«

»O Anastasia!« Ein Schmerzenslaut ringt sich von Ludwigs Lippen und in einem überströmenden Gefühl wendet er sich ab.

Der Bürgermeister legt ihm liebevoll verstehend die Hand auf die Schulter.

»O Schwester, Freyer ist es nicht wert, daß du ihn so liebst!«

»Wie lieb' ich ihn denn?« sagt das Mädchen groß und einfach: »Ich lieb' ihn, wie die ewige Barmherzigkeit die Armen und Kranken liebt! Und er ist arm und krank! O denkt nicht schlecht von ihm, – er verdient's nicht – er ist gut und edel. – Glaubt mir's – eine Mutter muß ihr Kind besser kennen, –« fügt sie mit dem Lächeln eines gebrochenen Herzens hinzu.

Sie blickt dem Zeichnungslehrer freundlich ins Gesicht: »Nicht wahr, Ludwig – wir beide verstehen ihn, wir glauben an ihn, und wenn ihn alles verdammt?«

Ludwig kann nicht sprechen – er nickt nur stumm und drückt Anastasias Hand wie zum Schwur. Was in ihm vorgeht ist übermenschlich, – aber mit der ihm eigenen Kraft weiß er es niederzuhalten.

Der Bürgermeister steht schweigend dabei und keines von den dreien kann entscheiden, welches am meisten leidet.

Mit namenloser Trauer sieht er die verschlungenen Hände der Schwester und des Freundes. Wie oft hat er sich diesen Augenblick gewünscht und nun –? Nur was sie trennt, vereint sie – und was sie vereint – trennt sie!

»Ja – der Mann hat viel Unglück über uns gebracht!« sagt er in dumpfem Groll. »Ich hoffe nur, daß er den Fuß nicht mehr auf den Boden seiner Väter setzt!«

»O Bruder, wie magst du so reden, du meinst das ja selbst nicht. Ich weiß es, es wird ihn hierher zurückziehen, er wird die Heimat wieder suchen und er soll sie finden! Du wirst ihn nicht von dir stoßen, wenn er unglücklich und reuevoll aus der Fremde kommt. Gott weiß, wie ich ihm wünsche, daß er glücklich werde – aber ich glaub's nicht! Sein Sinn ist nicht für da draußen – er kennt sich nur selber nicht. Und wie er uns treu bleiben wird im Grund der Seele, so wollen wir ihm auch treu bleiben und ihm die Ruhstatt bereiten, wenn die Welt sein armes Herz ans Kreuz geschlagen hat! Gelt, Ludwig?«

»Ja, bei Gott, das wollen wir!« stammelt Ludwig und seine Tränen fallen auf das schöne Haupt des Mädchens, das noch immer regungslos dasitzt, als müsse es hier auf den Verlorenen warten.

»Weib, siehe, das ist dein Sohn – Sohn, siehe, das ist deine Mutter!« zieht es wie ein Hauch durch die Luft.


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