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Einleitung

Im Garten zu Gethsemane war es, wo der wiederauferstandene Gottessohn sich als schlichter Gärtner der büßenden Sünderin zeigte. Das Wunder ist zur frommen Legende geworden – lange, zu lange ist es her, er ist dahin, kein Auge hat ihn je wieder gesehen. Selbst da der Auferstandene unter den Zeitgenossen wandelte, sahen ihn nur die, die ihn sehen wollten.

Aber die, welche ihn sehen wollen – sehen ihn auch heute noch, und die ihn suchen wollen – finden ihn heute noch.

Der Garten von Gethsemane ist versunken und verschüttet, die heiße Sonne des Orients hat ihn vertrocknet. Alles ist dem Wechsel unterworfen. Die Erdrinde verändert sich, und wo einst der Oelbaum gegrünt und die Zeder ihr Laubdach über dem Haupt des Erlösers und der Büßerin gewölbt, da ist jetzt totes, verdorrtes Land.

Aber er ist wieder erblüht an einem anderen Ort in einem der kühlen, schattigen Täler deutscher Berge – Oberammergau, so heißt das moderne Gethsemane. Wie die Sonne ihren Kreislauf von Morgen gen Abend macht, so hat das Heil, das vom Morgenland kam, seinen Weg über die Erde genommen zum Abendland. Dort fließen noch in jugendkräftigen Völkern die lebendigen Ströme, die Glaubenssaat zu tränken, aus der sich das Wunder nährt, und die dürftige Bergtanne, die dem harten Gestein des Ettaler Gebirgs entsprossen, verwandelt sich zur Palme, der arme Bewohner des kleinen Bergdorfs zum Gott. Es ist ein Wechsel und dennoch das ewig Stetige in diesem Wechsel.

Auch die Welt und ihre Geschicke wandeln sich im Lauf der Jahrhunderte. Das erschütternde Ereignis, vor dem die Menschheit sich überwältigt niederwarf, wie einst die Wächter taten, als der Auferstandene sein Grab sprengte, es tritt zurück und verblaßt allmählich. Der Donner, mit dem der Vorhang des Tempels zerrissen, er verhallt grollend in nebelhafter Ferne, der Himmel hat sich hinter dem Aufgefahrenen geschlossen für immer, die Sterne gehen ihren alten Gang in ungestörter Gesetzlichkeit, die Offenbarungen schweigen. Und die Menschen reiben sich, wie aus einem Traum erwachend, die Augen und fangen an, darüber zu streiten, wie es gewesen, was Wahrheit und was Täuschung war. Jahrhunderte schleppt sich der Streit hindurch. Eine Tradition stößt die andere um, ein Bekenntnis verdrängt das andere. Mit dem Schwert in der Hand und der Posaune des Weltgerichts muß die Ecclesia militans das Dogma feststellen, die Glaubenseinheit erzwingen. Aber nicht lange währt der Friede unter der Herrschaft der Kirche. Die Reformation zerspaltet die Christenheit aufs neue, der Dreißigjährige Krieg, der furchtbarste Religionsstreit, den die Erde je gesehen, beginnt. Und in der Wut des Kampfes vergessen die Streitenden, um was sie streiten: in Strömen Blutes, in Wolken Rauches verbrannter Städte und Dörfer, unter Trümmern gestürzter Altäre verschwindet das heilige Wahrzeichen, um das der Kampf entbrannte, das Kreuz, und wo es erhöhet wird, da ist es nur noch ein Kriegszeichen, kein Symbol des Friedens mehr!

Ein einziger Fleck Erde ist es, wo, unberührt von der Welt Händeln, hinter dem schützenden Wall eines hohen unwirtlichen Berges der Gedanke des Christentums in seiner ganzen Einfalt und Reinheit sich erhalten: Oberammergau! Wie einst Gott den Weltbezwinger in der Krippe unter armen Hirten geboren werden ließ, so ist es, als habe er seine schützende Hand über diesen Fleck Erde gehalten, und sich das armselige Bergvolk aufgespart, das Wunder in ihm zu erneuern. Tief versteckt hinter dem steilen Ettaler Berg lag ein Kloster, in dem von alters her der schönen Künste eifrig gepflogen worden.

Da ging es einem der Mönche schwer zu Herzen, wie draußen in der Welt die Bilderstürmerei an der althergebrachten Form rüttle und im blinden Eifer selbst die religiöse Kunst, als »römisch«, verwerfe! Wie kein frommes Abbild mehr geduldet werde, so daß der Erlöser und seine Heiligen der Menschheit ganz aus den Augen kommen müßten! Und es ward ihm in seiner Trübsal eingegeben, daß mehr denn Wort und Bild ein frommes Schauspiel in lebendiger Aktion wirken könne. Also ward's beschlossen im Konvent, ein solches aufzuführen.

Das sinnige Volk der Umgegend, längst durch den bildenden Einfluß der gelehrten Mönche zum Schönen gewöhnt, war bald eingeschult zur Darstellung von Legenden und biblischen Dichtungen. Immer kühner wurden sie mit der wachsenden Uebung. Und endlich wagte es der fromme Eifer, ihn selbst auferstehen zu lassen, den Herrn der Welt, in eigener leibhaftiger Gestalt, um der irrenden Menschheit zu zeigen: »Seht her, so ist er gewesen und so wird er ewig sein!«

Und während in den Kirchen die Gemälde und Reliquien von den Wänden gerissen, die Kruzifixe zerstört werden, findet unter freiem Himmel auf dem Friedhof Oberammergaus – denn dies ist um seines Ernstes willen der rechte Ort für das heilige Werk – Anno 1634 das erste Passionsspiel statt. Dort ersteht es wieder in seiner reinen Schönheit, das geschändete, mit Blut und Brand besudelte Bild der Liebe! Lebend, atmend! Die jahrtausendealten Wundenmale brechen wieder auf, neu rinnt der Blutstropfen von der dornumwundenen Stirn, neu ertönt das: »Bleibet in meiner Liebe!« von den bleichen Lippen des Gotteslammes und was der Puritanismus vernichtet in der toten Form, das gebiert sich neu in der lebendigen!

Aber durch das Gewühl und Tosen der Schlachten, durch das Wutgeheul des Hasses, hört keiner die sanfte Stimme, da drüben im fernen Winkel hinter den Bergen.

Das Friedenswort verhallt, der Gekreuzigte verblutet still – ungesehen.

Jahre ziehen darüber hin, immer größer wird die Not, die Länder sind verwüstet, die Reihen der Streiter lichten sich mehr und mehr.

Die Kämpfer beginnen endlich zu erlahmen, der brausende Sturm legt sich und bleiches Entsetzen stiert den zur Besinnung Gekommenen entgegen: die Pest, die furchtbare ägyptische Sphinx, angelockt von dem Verwesungsduft des langen Krieges, schleicht über die Erde, und wen sie anblickt mit dem schwarzen Glutauge ihrer heißen Zone, der sinkt dahin, wie der verbrannte Grashalm, wenn der Samum über die Wüste weht.

Und Stille verbreitet sich ringsumher, Grabesstille, denn wo das Gespenst wandelt, da ist der Tod.

Und die Angst treibt die Feinde zusammen und läßt sie den Groll vergessen gegenüber dem gemeinsamen Feind, dem grauenhaften, nicht zu besiegenden. Und sie sehen sich um nach der rettenden Hand, und es fällt ihnen wieder ein, um was sie so lange gekämpft. Da, in der Todesruhe der verdorrten Felder, der ausgestorbenen Häuser, der entgötterten Kirchen und verödeten Lande, da hören sie es endlich, das Glöcklein hinter dem Ettaler Berg, das unablässig von zehn zu zehn Jahren die Christenheit zusammenruft zum heiligen Spiel, denn so haben es die Ammergauer gelobt, zur Abwendung der Seuche und des göttlichen Zorns. Und da steht er wieder, der ewig Geduldige, breitet seine Arme aus und ruft: »Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid –!« Und sie kommen, sie werfen sich ihm zu Füßen, die Müden, Gehetzten, Schweiß- und Blutbedeckten und er tröstet und erquickt sie und sie erkennen ihn wieder und lernen wieder seines Opfers Sinn verstehen.

Und die, welche ihn so gesehen, neuerstanden, und solche Offenbarung empfangen, verkünden es den anderen, und sie strömen herbei von nah und fern, der kleine Friedhof Oberammergaus wird zu eng, er kann die Scharen nicht mehr in seinen Mauern fassen, das weite Feld wird zum heiligen Theater, um die Pilger aufzunehmen, die nach dem Antlitz des Erlösers schmachten.

Und seltsam ist es, alle die, welche am heiligen Spiele teilnahmen, sie sind wie gefeit, die Seuche schleicht an ihnen vorüber, Ammergau allein bleibt von der Pest verschont!

So wächst die fromme Saat fort, langsam, oftmals stockend, aber das wachsame Auge kann sie verfolgen in der Geschichte.

Der Friede kommt endlich wieder über die Erde. Reinere Lüfte wehen. Die ägyptische Hyäne hat sich gesättigt und die verödeten Gauen verlassen, neues Leben erblüht auf den Gräbern, und dies neue Leben weiß nichts mehr von den Schmerzen und Leiden des alten. Aus der Roheit und Verwüstung des langen Krieges sehnt sich die neue Generation heraus nach feineren Sitten, nach Kultur und Lebensgenuß. Aber wie immer nach solchen Epochen der Entbehrung und Trübsal, führt ein Extrem zum anderen. Das Bedürfnis nach feinerer Sitte und Kultur führt zur Hyperkultur, der Lebensgenuß artet aus zur Genußsucht und Ueppigkeit, die Anmut zur Koketterie, die Fröhlichkeit zur Frivolität. So bricht das sogenannte galante Zeitalter an. An die Stelle des Schwertes tritt die Fleuretteklinge, an Stelle des Lederkollers der Spitzenjabot, an Stelle des Pulverdampfes Wolken von Puder, den die ewig nickenden, winkenden Köpfe um sich streuen.

Auf den Gräbern der versunkenen, alten Generation tanzen maskenhafte Schäfer und Schäferinnen, ein neues Arkadien wird in äffischer Nachahmung geschaffen und mit äffischen Wesen bevölkert, die auf Zehenspitzen tänzeln und den Fuß mit hohen Absätzen unterlegen.

An Stelle der mittelalterlichen Darstellungen geopferter Märtyrer und abgezehrter Heiligen treten die nackten Götter und Amoretten eines Watteau und seiner Schule. An Stelle des Erhabenen tritt die Grazie. An Stelle der Sittengesetze treten die Gesetze der Konvenienz, und alles ist erlaubt, was nicht gegen diese verstößt. So bildet sich ein Geschlecht gedankenlosen Genusses, ein Geschlecht des Augenblicks, das eine moralische Pest in sich trägt, die im Gegensatz zum »schwarzen Tod« der »rosige Tod« genannt werden könnte, denn wen sie ergreift, dem haucht sie den rosigen Schimmer eines Fiebers auf die Wangen, das langsamer, aber ebenso sicher verzehrt.

Und durch dies geschminkte, tänzelnde, singende, springende Zeitalter, mit den klappernden Stöckelschuhen, den rauschenden Reifröcken, den lüsternen Blicken und wogenden Busen, schreitet wieder und wieder über die Bühne Ammergaus die keusche Schmerzensgestalt mit dem furchtbaren Ernst auf der bleichen Stirn, und wer sie sieht, dem entfällt der volle Becher des Genusses, und das Lachen erstirbt ihm auf der Lippe!

Und weiter schreitet die Geschichte und das Weltgericht! Der »rosige Tod« hat alle gesunden Säfte der Gesellschaft zersetzt und vergiftet und eine Auflösung herbeigeführt bis in das Herz der Menschheit hinein – Sittlichkeit, Glaube und Philosophie, alles was den Menschen zum Menschen macht, ist allmählich in dem gedankenlosen Treiben unbemerkt untergegangen. Der Flitterkram und die äffische Kultur reicht nicht mehr aus, die Bestie in der Menschennatur zu verhüllen, sie schüttelt sich, wirft ihn ab, und steht da in ihrer ganzen Nacktheit! Die moderne Sündflut, die französische Revolution, bricht herein! Das ist ein Morden und Würgen, ein Fieberwahnsinn, der nun in jeder Gestalt des Greuels über die Erde rast!

Abermals eine Wandlung, eine Umwälzung bis in die tiefsten Schlünde der Verworfenheit hinab!

Die Grazie weicht nun wieder der Brutalität, das Schöne dem Häßlichen, das Göttliche dem Cynismus. Die Altäre werden gestürzt, der Glaube wird abgeschworen, die Erde bebt unter dem Schutt zerstörter Traditionen.

Aber aus dem Gewühl der sich zerfleischenden Meute, aus dem Qualm und Brodem des Weltenbrandes, dort in dem deutschen Garten von Gethsemane, hebt sich wieder siegreich, wie der Phönix aus der Asche, der verleugnete, tausendmal verbrannte Gott empor, und die unentweihte Sonne Ammergaus webt die Siegesglorie um die erhabene Gestalt, die da schwebt hoch am Kreuze!

Es ist ein stiller Sieg, von dem die Rasenden nichts wissen, denn sie sehen nur den Feind, den sie vor sich haben, nicht den, der über ihnen kämpft. Dieser ist längst abgetan. Er ist abdekretiert und damit fertig! Das Volk in seiner Souveränität kann Götter einsetzen und absetzen, wie es ihm beliebt, und sind sie abgesetzt, so sind sie nicht mehr, so sind sie hinabgestürzt in den Orkus. Und da die Menschen nun einmal nicht ohne Gott sein können, so schaffen sie sich einen Abgott –!

Dröhnend erzittern die Lande vom Eisenschritt des Imperators, und ohne es zu wollen und zu wissen, wird er der Rächer des Gottes, an dessen Stelle er sich setzt! Denn wie der Dreißigjährige Krieg zu Ende ging unter der Geißel der Pest und das lustige Zeitalter unter der Geißel der Revolution, so geht auch die Revolution unter an der dritten Geißel, dem selbstgeschaffenen Gott!

Er, der eine Mann, mit den geschlossenen Lippen und der brütenden Stirn, er gebietet den entfesselten Elementen, er wird Herr der Anarchie und schreibt einer Welt Gesetze vor. Aber mit eisernem Finger ritzt er die Adern der Menschheit auf, um ihr sein Sklavenzeichen einzuprägen. Die Welt blutet aus tausend Wunden und jeder einzelnen brennt er den Namen »Napoleon« ein.

Da, – blaß wie der Mond am Himmel steht, wenn der volle Brand der Abendsonne am Horizont aufflammt, tritt dem Weltherrscher in seiner blutigen Pracht der fahle Schatten des Gegeißelten gegenüber, auch in einem Königsmantel, doch überströmt vom eigenen freiwillig vergossenen Blut und sie messen sich stumm Auge in Auge, – der Usurpator, aber, erbleicht!

Endlich stürzt Gott den Gegengott im Augenblick, da er sich ihm am ähnlichsten dünkt, hinab in tiefstes Elend und tiefste Schmach. Der Weltfeind ist bezwungen und der lange verhaltene Völkerhaß, befreit von dem unerträglichen Druck, sprüht hoch auf und wälzt noch über das einsame Büßergrab auf Sankt Helena seinen Gischt von Verwünschungen und Flüchen hin. Da breitet der Sieger in Oberammergau verzeihend die Arme aus und ruft auch ihm sein großes Gnadenwort zu: »Wahrlich, ich sage dir, heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein!« –

Eine Zeit des Friedens bricht nun an, das Jahrhundert des Gedankens! Nach den großen Anstrengungen der Befreiungskriege tritt im politischen Leben ein Stillstand ein und diesen benutzten die Völker, um nachzuholen, was sie während den Zeiten der Welthändel in der Kulturentwickelung versäumt. Eine Flut von Ideen überströmt die Welt. Der neuen langentbehrten Geistesarbeit froh, regen sich alle Fähigkeiten. Das ist ein Wettkampf und ein Ringen um den Preis auf jeglichem Gebiet! Im Gefühl der neuerwachenden Kraft wagt sich das junge Geschlecht von Aufgabe zu Aufgabe, und mit jeder wird es größer. Mit der wachsenden Produktion steigert sich auch das Assimilationsvermögen. Was Großes in anderen Jahrhunderten geschaffen, es wird hereingezogen in den eigenen nationalen Kreis, es ist, als wäre es jetzt erst entdeckt worden. Woran die erleuchteten Geister früherer Epochen sich vergeblich gemüht, verzehrt, verblutet hatten, jetzt geht es auf in vollen Halmen, und das Jahrhundert setzt den Verkannten Monumente und schmückt sie mit dem Erntekranz dessen, was sie unter Tränen gesäet.

Was Galvani, was Salomon de Caüs unverstanden und ungehört vorbereitet, als schnaubendes Dampfroß, als blitzender Bote, macht es jetzt den Triumphzug über die Erde, vom Gedanken getragen, und den Gedanken tragend!

Das Jahrhundert, das einen Schiller und Goethe reifte, versteht erst einen Shakespeare. Sophokles und Euripides steigen aus ihren tausendjährigen Gräbern, die Archäologie schaufelt die versunkene Welt Homers aus dem Schacht der Erde, ein Canova, ein Thorwaldsen, ein Cornelius, Kaulbach und wie sie alle heißen, die großen Meister der Renaissanceperiode unserer Zeit, sie nehmen die Meißel und Pinsel Phidias' und Michelangelos, Raphaels und Rubens' wieder auf, die so lange geruht. Was vor Jahrtausenden Aristoteles und vor einem Jahrhundert Winckelmann und Lessing gelehrt: die Kenntnis der Kunstgesetze, das Verständnis des Schönen, es ist kein totes Kapital mehr in den Händen der Fachgelehrtheit, es zirkuliert in den pulsierenden Adern lebenskräftiger Kulturentwickelung, es fordert das Höchste und leistet das Höchste!

Der Ring zwischen alter und neuer Kultur hat sich geschlossen, jede Kluft ist überbrückt. Es ist ein Wechselwirken alter und neuer Kräfte, eine Gemeinsamkeit der Arbeit aller Völker und aller Jahrhunderte, als gäbe es keine Trennung von Raum und Zeit mehr, als gäbe es nur noch eine einzige ewige Kunst, eine einzige ewige Wissenschaft. Die Materie ist unter die Füße der aufsteigenden Menschheit getreten, die Wissenschaft hat sie bewältigt, die Industrie sie nutzbar gemacht und die Kunst hat sie verklärt.

Aber auch dies Licht, das so plötzlich die Welt durchflammt, wirft seine Schatten. Der Fortschritt in Kunst und Wissenschaft reift das Urteil, das Urteil aber wird zur Kritik und die Kritik zur Negation. Der Dualismus, der durch die ganze Schöpfung geht, das schaffende und das zerstörende, das bejahende und das verneinende Prinzip, es kann auch jetzt, auch hier nicht ausbleiben, es muß auch hier den alten nie ausgefochtenen Kampf kämpfen. Gegenüber dem Glauben tritt die kritische Analyse, gegenüber dem Idealismus der Materialismus, gegenüber dem Optimismus der Pessimismus! Die Menschheit ist an der äußersten Grenze der Erkenntnis angekommen, aber das genügt ihr nicht in ihrem unaufhaltsamen Siegeslauf, sie will sie durchbrechen und den Gott ergründen, der sich dahinter verbirgt. Denn, dem alles zerlegenden Seziermesser, dem nichts widerstand, darf sich das Herz eines Gottes nicht entziehen! Aber die Grenze ist undurchdringlich. Und der eine Teil, satt der vergeblichen Mühe, zerrt die Aufwärtsstrebenden zurück: »Hinab zur Materie, der ihr entstammt, was sucht ihr noch? Die Wissenschaft hat das Höchste erreicht, sie hat das Protoplasma gefunden, aus dem alle Organismen hervorgegangen sind. Was ist nun der zeugende Gott? Ein physiologisch-chemischer Lebensprozeß in einer Zellsubstanz! Und zu diesem wollt ihr beten, für diesen wollt ihr leiden, ihr Toren?«

Ein anderer Teil wendet sich, angewidert, von dieser cynischen Ausbeutung wissenschaftlicher Ergebnisse ab und wirft sich der Schönheit in die Arme, in ihr das Göttliche suchend, ein dritter Teil aber harrt aus und kämpft zwischen Himmel und Erde, in der dunklen Ahnung, dem Ziele am nächsten zu sein! Es ist ein gewaltiges Ringen, als müsse die Welt zerspringen von dem Hochdruck nach Raum verlangender Kraft, unvereinbarer Gegensätze!

Da, mitten durch die Schwüle der Hörsäle, durch die Fülle der Gesichte in Kunst und Wissenschaft, tönt eine längst vergessene Stimme aus der Kinderzeit! Und die gespannten Blicke wenden sich plötzlich ab von den Lehrern und Seziertischen, ab von den glänzenden Erscheinungen der Kunst und Sinnenwelt, der Bretterbühne Oberammergaus, dem Passionsspiel, zu.

Da steht sie wieder, die unscheinbare Gestalt mit der Dornenkrone und dem wehmütig fragenden Blick. Und mit einem Schlage fliegen ihr die Herzen zu, und wie der ausgewanderte, reich gewordene Sohn, nachdem er alles genossen und besessen, sich immer wieder zurücksehnt nach der Armut der Heimat und dem verlassenen Vater reuig zu Füßen sinkt, so wirft sich die Menschheit mitten aus diesem Rausch des Erkennens und Genießens heraus, schluchzend nieder vor der blassen Pflanze des Nazarenertums und streckt sehnsüchtig die Arme nach dem rohen hölzernen Kreuz aus, an dem sie blüht!

Max Müller, der gewaltige Denker, sagt in seinen vergleichenden Religionsstudien: »Nie empfinden wir die Vorzüge unserer Heimat lebhafter, als wenn wir aus der Fremde zurückkehren, und dasselbe ist bei unserer Religion der Fall.« Das zeigt sich hier! Leugne es, wer kann! Es ist eine unbestreitbare Tatsache, daß gerade in einer Zeit, wo Kunst und Wissenschaft die höchsten Stufen der Entwickelung erreicht haben, das Oberammergauer Passionsspiel eine Würdigung findet wie nie zuvor, – daß gerade in diesem kritischen Zeitalter, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, die Menschen dem Passionsspiel zuströmen in immer wachsenden Scharen. Und nicht etwa die Ungebildeten und Unwissenden, nein, die Gebildeten: Künstler und Gelehrte, Staatsmänner und Monarchen. So, daß das arme Dorf nicht mehr Raum hat, die Gäste alle zu beherbergen, daß es erschütternd ist, zu sehen, wie sich die Völkerwoge brausend hereinwälzt am Vorabend des Spiels, erstickend, alles überflutend! Und wie sie dann am Morgen der Handlung stille wird, und buchtet in dem schmucklosen Raum, den sie das »Theater« nennen, wie sie sich gleichsam glättet, als schweige jeder Sturm im Innern und Aeußern unter dem Hauch der einfältigen, bald zweitausend Jahre alten Worte! Wie sie mit angehaltenem Atem der schlichten Handlung lauscht, sieben Stunden lang, ohne der Zeit zu achten, die weit über das Maß dessen geht, was unsere leicht ermüdeten Nerven zu ertragen gewohnt sind.

Was ist es denn, daß der Höchste wie der Niedrigste, der Reichste wie der Aermste, der Fürst wie der Tagelöhner ohne Murren auf Stroh schläft, wenn kein Bett mehr vorhanden? Daß sich der Verwöhnteste Hunger und Durst, der Zarteste Hitze und Kälte gefallen läßt, der Aengstlichste unerschrocken den beschwerlichen Wanderzug über den Ettaler Berg mitmacht? Wäre es nur die Neugier, eine Schar armer Schnitzer, Bauern und Holzfäller die alte, tausendmal abgeleierte Geschichte in einem schlechteren Deutsch, als wir es in der Schule gehört, unter freiem Himmel, unter Sonnenbrand und Regen, noch einmal herunterleiern zu hören, wie die Gegner des Passionsspiels sagen? Kämen dafür die Menschen der halben bewohnten Erde, alle zehn Jahre, von nah und fern, von Süden und Norden, von den Bergen und aus den Tälern, aus Palästen und Hütten, über Meere und Länder? – – – Sicher nicht! Was also ist es? Ein Wunder?

Wer das Passionsspiel sah, dem ist es offenbar, wer es aber nicht gesehen, dem ist es schwer zu erklären!

Die Gottheit bleibt unserem irdischen Sinn verborgen und unerreichbar, wie das verschleierte Bild zu Sais. Jeder Versuch, den Schleier gewaltsam zu lüften, rächt sich bitter.

Was gewinnen jene modernen Socinianer und Adoranten, die mit schlecht geheuchelter Pietät das Geheimnis ans Licht ziehen wollen und den Gott zum Menschen machen, um in der elenden Puppe sich selbst anzubeten? Und wenn sie ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberstünden, sie würden immer nur sich selbst sehen und er würde ihnen zurufen: »Du gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht mir!«

Und wiederum, was gewinnen unsere Pantheisten, die sich den Menschen zum Gott machen, um in ihm das Unerreichbare zu umfangen? Sie werden später oder früher erkennen, daß sie die Wirkung für die Ursache nahmen und die Form für das Wesen! Ekel und Enttäuschung ist ihr Los, wie das Los aller, die nichts haben als – den Menschen!

Aber die, welchen das Sichtbare nur das Symbol des Unsichtbaren ist und sie lehrt, von der Wirkung auf die Ursache zu schließen, diese werden mit unausbleiblicher Folgerichtigkeit von der Form zum Wesen, von der Täuschung zur Wahrheit gelangen!

Das ist das Wunder des modernen Gethsemane, wovon dies Buch erzählen will.


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