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Achtunddreissigstes Kapitel. Auf dem Kreuzesweg

Es ist Sonntag. Wieder umbraust die Völkerwoge das Passionstheater. Andächtiger – zahlreicher denn je, – schon seit dem frühen Morgen.

Langsamen Schrittes, als wollten die Füße nicht mehr recht fort, wankt eine hohe Gestalt, unnahbar wie einer, der nicht in die Reihen der Lebenden gehört, mitten durch die Menge, auf die Tür zur Garderobe zu und alles macht ehrerbietig Platz – niemand kennt ihn und doch weiß es jeder, das kann nur der Christus sein! Denn wen sein Blick trifft, den durchschauert es, als wäre das Unglück an ihm vorübergeschritten, als habe er dem Leidensgott selbst ins Auge geblickt.

Schon hat es acht Uhr geschlagen, die Kanonen verkünden Anfang des Spiels, die harrende Menge strömt hastig drängend, sich fast erdrückend hinein und die Türen werden geschlossen.

Draußen vor dem Theater wird es still und leer. Die Wagen sind abgefahren. Die Leute, die keine Billets mehr bekamen, haben sich verlaufen. Nur die Photographien- und Eßwarenverkäufer sitzen in ihren Buden und lauschen schläfrig und müßig den Klängen der Musik, die gedämpft durch die Bretterwände heraustönt.

Ein weißes Kätzchen, das vorhin ins Gedränge geraten war, schleicht jetzt vorsichtig über den verödeten Platz und eine alte Frau treibt die Hühner nach Hause, die sich um die Körbe der Obsthändler und Bäcker sammeln.

Da erzittert leise der Boden von einem mit Sturmeseile dahersausenden Fuhrwerk. Jetzt werden ein paar schaumbedeckte Pferde in der Ferne sichtbar, – ehe einige Sekunden vergangen, sind sie da und eine verstaubte Victoria fährt vor dem Passionstheater an.

»St, st!« macht oben an der Treppe einer der Logendiener und eilt herab, um unten Bescheid zu geben und weitere Ruhestörungen zu vermeiden.

»Kann ich noch ein Billet haben?« fragt die Dame im Wagen.

»Bedaure sehr – das Theater ist leider bis auf den letzten Platz gefüllt.«

»O mein Gott! Ich habe mich um eine Stunde verspätet, – wir hatten einen Unfall mit den Pferden, ich bin die Nacht durch gefahren – ich bitte Sie – ich muß hinein!«

Der Logendiener zuckt die Achseln. »Leider unmöglich!« sagt er mit beleidigend vornehmer Miene.

»Ich bin nicht gewohnt, daß etwas unmöglich wäre, was ich wünsche, sofern es von Menschen abhängt, es zu erfüllen,« erwidert sie schroff: »Ich will jeden Preis bezahlen, es ist mir gleich, ob tausend Mark, mehr oder weniger, – wenn Sie mir nur den schlechtesten Platz innerhalb dieser Mauern verschaffen!«

»Einen Preis gibt es da nicht!« ist die lächelnde Antwort: »Hätten wir noch ein Plätzchen, wir hätten es heute schon hundertmal vergeben können.«

»So führen Sie mich auf die Bühne!«

»O, davon kann gar keine Rede sein, – da möchte kommen, wer wollte – das wird niemandem gestattet!«

»So melden Sie mich dem Bürgermeister, ich will Ihnen meine Karte geben!«

»Bedaure wieder, ich habe selbst keinen Zutritt auf die Bühne während der Aufzüge. In der großen Pause allenfalls um zwölf Uhr, da könnten Sie gemeldet werden, aber vorher nicht.«

Der Gräfin schlägt das Herz immer stärker. Sie muß die Töne der Musik hören, sie glaubt die einzelnen Stimmen zu erkennen und sie darf nicht hinein! Jetzt, Hosiannarufe – ja, ganz deutlich – das ist der Einzug in Jerusalem, das sind die Jubelchöre, die ihn einleiten. Könnte sie nur durch eine Ritze schauen –! Und jetzt, jetzt wird es still – da, eine Stimme, – o sie kennt ihn unter Tausenden, diesen Klang! Durch die Ritzen der Wände trägt ihr ihn ein Luftzug heraus. Ja, das ist er – ein Schauer überläuft sie – er spricht! Die Seligen lauschen ihm, die Welt hängt an seinen Lippen, Freude in aller Augen, Trost in aller Herzen – da drinnen ist das Heil und sie muß draußen stehen und darf nicht hinein zum eigenen Gatten! Aber er ist ja nicht ihr Gatte, sie hat's ja selbst so gewollt. Nun hat sie es!

Die »törichte Jungfrau« vor der Tür bricht wie ein Kind in Tränen aus.

Den Mann, der sie eben noch so kaltblütig abwies, erbarmt es: »Wenn ich nur wüßte, wie ich da helfen könnte – ich wollte es ja gern tun –,« sagt er nachdenklich: »Wissen Sie was? Wenn Ihnen so sehr viel daran liegt, so kommen Sie in der Pause, aber zu Fuß, ohne Aufsehen, an den hintern Eingang zur Bühne, – dann will ich sehen, daß ich Sie hineinschmuggle, wenn's auch nur in dem Durchgang für den Chor wäre!«

»O, mein Herr, ich danke Ihnen!« sagt die Gräfin mit einem Ausdruck, wie nur eine arme Seele dem Engel danken kann, der ihr die Himmelspforte öffnet.

»Punkt Zwölf bin ich da! Glauben Sie nicht, daß ich in der Pause Herrn Freyer sprechen könnte?« fragt sie schüchtern.

Ein traurig mitleidiges Lächeln überfliegt das Gesicht des Gefragten: »O lieber Gott, der spricht niemanden mehr! Wir sind schon für jedesmal froh, wenn er nur seine Aufgabe noch durchführt.«

»Mein Gott, so schlecht steht es mit ihm?«

»Ja –,« sagt der Mann leise – als dürften es die Lüfte nicht hören: »Sehr schlecht!«

Dann zieht er sich zurück und steigt wieder die Treppe hinan auf seinen Posten.

»Wohin fahren wir jetzt?« fragt Martin in den Wagen herein.

Die Gräfin muß sich eine Weile besinnen, ehe sie antwortet: »Ich denke, es wäre am besten – wir suchten einstweilen eine Wohnung –,« sagt sie zögernd und immer nach dem Theater hinhorchend, was da drin vorgehe, welche Scene sie eben spielen – wer jetzt wohl spricht? »Fahre langsam, Martin –,« bittet sie. Jetzt hat sie keine Eile mehr: »Halt!« ruft sie gleich wieder, als Martin fortfahren will, eben hat sie wieder etwas gehört, als ob er's wäre! Martin läßt die Pferde ganz leise und allmählich weiter gehen. So, im langsamsten Schritt fahren sie noch rings um das Passionstheater herum und dann in umgekehrter Richtung dem Dorfe zu. – Am Ausgang des Platzes ist eine amtliche Bekanntmachung angeschlagen: »Es finden keine Montagsvorstellungen mehr statt, weil die Gesundheit des Herrn Freyer ihm nicht erlaubt, zwei Tage hintereinander zu spielen.«

Die Gräfin preßt die gerungenen Hände auf das zuckende Herz: »Ertragen – es muß ertragen werden –! Du hast's verschuldet, nun erdulde es auch!«

Eine Fremde mit eigenem Wagen, die am Tage des Spiels selbst Logis sucht, wo alle andern fortgehen, ist eine hochwillkommene Erscheinung im Dorf. In jedem Haus, wo sie vorfährt, eilt ihr der zurückgebliebene Teil der Besitzer bereitwilligst entgegen, – aber keine Wohnung paßt ihr. Einen Moment besinnt sie sich, ob sie beim Zeichnungslehrer ankehren will, aber auch dort ist es ihr zu eng und klein – und sie kann sich nicht darüber täuschen, das Band zwischen ihr und Ludwig Groß ist zerrissen, – er kann ihr nicht verzeihen, was sie dem Freund getan, sie meidet ihn wie ihren Richter. Und dann – sie will stille Zimmer, wo auch allenfalls ein Kranker Ruhe hätte – das ist um diese Zeit nicht leicht zu finden.

Endlich hat sie es erreicht. – Ein einfaches Haus, mitten im Grünen, in einer abgelegenen Straße, das hat nur zwei Zimmer im Erdgeschoß, wo sie ganz ungestört und unbelauscht wohnen kann. Es sind schlichte, aber nicht allzu niedere Zimmer, reinlich und lustig, und durch die Sprossen der grünen Läden scheinen warm und doch gemildert die Sonnenstrahlen herein. Ein friedliches, freundliches Asyl.

Sie mietet es auf unbestimmte Zeit und schnell ist sie mit der alten Frau, der es gehört, einig. Auch eine kleine Küche ist dabei, und die Frau ist gern bereit, diese zu besorgen und zu kochen. – So hat sie für die nächsten Tage wenigstens ein erträgliches Unterkommen und nun walte Gott, daß sie es nicht in Verzweiflung bewohne!

»Nun, da sind ja Erlaucht ganz gut installiert!« meint der alte Martin, als die Hausfrau den Laden öffnet und er vom Bock herunter in das hübsche Zimmer schaut: »So ein Hoametl möcht' ich mir gleich wünschen.«

Die Gräfin läßt ihr Gepäck hereinbringen.

»Wo soll ich einstellen, Erlaucht?«

»Fahr auf die alte Post, Martin!«

»Soll ich Frau Gräfin nicht ins Passionstheater abholen?«

»Nein, du hast ja gehört, ich muß zu Fuß gehen –« Martin schüttelt den Kopf – das ist ihm fast gar zu demütigend für seine stolze Herrin. Aber er darf ja keine Bemerkung machen, und so denkt er sich sein Teil und fährt ab.

Es ist neun Uhr. Noch drei Stunden bis zur großen Pause. Was kann alles geschehen in dieser Zeit? Kann sie es denn erwarten, wird die Angst sie nicht töten oder ihr die Besinnung rauben bis dahin? Da hilft alles nichts, sie muß warten! Sie kann die Stunde nicht schneller herbeiziehen, von der Leben und Sterben, Rettung oder Verdammnis abhängt! – Die nächtliche Fahrt, die Schrecken, die das wilde Viergespann ihr bereitet, das unterwegs umwarf und sie zwang, eine Strecke bis zu den nächsten Relais zu Fuß zu gehen und eine kostbare Stunde zu verlieren, die Gemütsbewegungen am Totenbett des Vaters machen sich jetzt geltend und sie legt sich auf eines der sauberen weißen Betten im Zimmer und benützt die Zeit, um sich ein wenig zu ruhen und zu erholen. – Sie ist ja doch nur ein schwaches Weib, und der wehrhafte Geist, der sich so lange sein eigenes Gesetz geschaffen und dafür gekämpft, ist zu mächtig für den zarten Körper einer Frau. Es ist gut für sie, daß sie dieser unfreiwilligen Ruhe pflegen muß, sonst wäre sie erlegen. Ein unruhiger Schlummer umfängt sie auf Augenblicke, aus dem sie aber immer wieder aufschrickt, um auf die Uhr zu sehen und sich trostlos zu überzeugen, daß nicht mehr als fünf Minuten vergangen sind.

Die alte Frau bringt ihr eine Tasse Kaffee und nötigt sie ihr auf. Sie hat seit gestern nichts über die Lippen gebracht und der warme Trank hebt ihre Lebensgeister ein wenig. Bald aber läßt es sie vor Herzklopfen nicht mehr im Bett. Sie steht auf und macht sich etwas mit Auspacken zu schaffen. Zum erstenmal in ihrem Leben tut sie dergleichen selbst. Sie erinnert sich daran, wie sie vor zehn Jahren im Großschen Hause weinte, weil sie ohne Kammerfrau war.

Endlich ist die Zeit der Qual um. Es schlägt dreiviertel auf Zwölf. Sie setzt den Hut auf – es ist zwar noch viel zu früh – sie wird lange warten müssen, aber es duldet sie nicht mehr im Zimmer. Sie will wenigstens in der Nähe des Theaters sein. – Als sie unter die Tür tritt, nimmt es ihr den Atem. Sie muß eine Weile stehen bleiben und sich sammeln. Dann rafft sie ihre Kraft zusammen: »In Gottes Namen,« sagt sie mit einem Blick nach oben und geht der furchtbaren Entscheidung entgegen. –

Jetzt bereut sie's, daß sie Martin nicht bestellt, – sie kommt fast nicht vom Fleck. Ihr ist, als sänke sie mit jedem Schritt in die Erde, statt vorwärts zu gehen, als gelange sie nie ans Ziel, als dehne sich der Weg immer weiter. Eine glühende Mittagssonne brennt ihr auf den Scheitel, Schweiß perlt auf ihrer Stirn und ihre Lippen sind trocken, ihre Füße geschwollen und schwer von der Nachtwache bei ihrem Vater und der darauf folgenden fürchterlichen Fahrt. – So erreicht sie endlich mühsam das Theater. – Die erste Abteilung ist soeben aus, – Scharen von Menschen ergießen sich nun aus dem schwülen Raum ins Freie und eilen zum Mittagsbrot. Aber auf allen Gesichtern malt sich tiefste Ergriffenheit und Wehmut – und aus aller Mund tönt nur das eine Wort: Freyer! Die Gräfin schleicht wie eine Verbrecherin durch die Reihen, die ihr entgegenkommen. Sie verbirgt sich hinter ihrem Sonnenschirm und zieht den Schleier dichter vors Gesicht: Nur jetzt nicht erkannt werden, nur jetzt keinem Menschen begegnen, der sie anspricht, – das ist ihre Todesangst. Könnte sie sich nur unsichtbar machen! Mit niedergeschlagenen Augen, als sähe man sie weniger, wenn sie selbst niemand sähe, windet sie sich durch den beklemmenden Menschenstrom, der sie fast wieder in der Richtung gegen das Dorf mit zurückreißt. Mit äußerster Anstrengung kommt sie durch, und jetzt hat sie das Feld gewonnen und kann wenigstens Atem schöpfen aus dem erstickenden Gedräng heraus. – Nun ist es aber wieder so leer um sie herum, sie ist so exponiert, wie sie über den weiten, freien Platz geht – sie fühlt, wie sie die Zielscheibe der neugierigen Blicke jedes einzelnen der noch Anwesenden ist. Sie beißt die Zähne übereinander vor Verlegenheit – es ist ein Spießrutenlaufen. Sie kann nichts mehr denken und fühlen, – als wenn nur die Erde sie verschlänge! – Endlich – wankend und zitternd, atemlos, fast aufgelöst vor Hitze und Hast, so nimmt sie wohltätig der Schatten an der Nordseite des Theaters auf, und sie bleibt stehen, hier ist ihr Ziel. Sie lehnt sich ein wenig an die Wand und birgt sich halb hinter einem Pfosten neben der Tür. Frauen mit Körben gehen an ihr vorbei, die dürfen hinein, weil sie ihren Männern das Essen bringen. Sie schielen neugierig und verwundert auf die Fremde, die da bestäubt und müde hinter der Tür wartet. »Wer mag die sein? Jedenfalls eine, mit der's nicht recht geheuer ist!« Das liest die Gemarterte auf allen Gesichtern. Auch hier steht sie wie am Pranger. O Macht und Größe – vor der elenden Bretterwand, die das große Drama des christlichen Gedankens einhegt, schmilzest du hin und bist nichts, was du nicht in der Liebe und durch die Liebe bist! –

Da harrt die Gräfin Wildenau vor dem Passionstheater, demütig, bis der Mitleidige kommt, der sich ihrer erbarmt und sie hereinläßt.

Wie lange sie so gestanden, sie weiß es nicht. In heißen Tropfen rinnt es ihr von der Stirn und vom Auge, – aber sie hält aus wie eine geduldige Büßerin, – denn das ist ihr Kreuzesweg!

Es schlägt Eins. Jetzt wälzt sich die Brandung wieder aus dem Dorf heran: »Gott, Gott, erlöse mich!« betet sie zitternd – ihre Angst ist aufs höchste gestiegen. Jetzt kann aber der Mann gar nicht kommen, bevor nicht alles wieder auf seinen Plätzen ist.

Und Freyer da oben in seinem Ankleidezimmer, das er nie verläßt während einer Pause, sie weiß es noch – was mag er machen indessen? Ob er sich wohl ausruht – ob er wohl etwas Stärkendes ißt? Ob wohl eines der Weiber, die da vorbeigingen, ihm etwas brachte? Und sie beneidet die armen Weiber mit ihren Körben, weil sie ihre Pflicht tun durften. –

Da – sie wagt es kaum mehr zu glauben, – da kommt der Logenschließer gerannt.

»Ich habe Sie lange warten lassen – nicht wahr, aber man hat eben alle Hände voll zu tun. Jetzt kommen Sie – schnell!«

Und er geht ihr verstohlen voran und winkt ihr, ihm zu folgen. Durch Winkel und Schlupfwege führt er sie, öfters sie durch sich selbst verdeckend, wenn jemand naht. Leise auf den Zehenspitzen schleichen sie sich hinter den Kulissen herum. Eben wird das Zeichen zum Anfangen gegeben, als sie ein verborgenes Eckchen im Proscenium, wo der Chor auftritt, erreichen. »Da setzen Sie sich auf das Hockerle,« sagt er leise, »sehen können Sie zwar nicht viel, aber doch alles hören. Es ist kein schöner Platz, aber doch besser als nichts!«

»Gewiß!« sagt die Gräfin atemlos, es wird ihr schwarz vor den Augen, aus der blendenden Sonne in den dunkeln Raum versetzt, – sie sinkt halb besinnungslos auf den Schemel, den er ihr anweist – sie ist auf der Passionsbühne – in Freyers Nähe! Freilich sagt sie sich, daß er es nicht ahnen darf, um seine Aufgabe zu Ende führen zu können, aber sie ist doch wenigstens bei ihm – ihr Schicksal naht seiner Erfüllung.

»Sie haben mir einen unschätzbaren Dienst erwiesen, ich danke Ihnen!« Sie drückt dem Manne eine Banknote in die Hand.

»Bitte, bitte, ist gern geschehen!« sagt dieser und zieht sich leise zurück. –

Die erschöpfte Frau schließt die Augen und ruht einige Minuten aus von der Folter, die sie durchgemacht. – Der Chor tritt auf und eröffnet wieder die Handlung, nun folgt ein lebendes Bild, dann erscheinen die Hohenpriester und Annas auf dem Balkon seines Hauses, bald darauf Judas, – sie aber läßt alles wie im Traum an sich vorüberziehen. Sie kann ja auch nicht sehen, was auf dieser Seite der Bühne vorgeht.

So hingesunken, lehnt sie in ihrem verborgenen Winkel, das Gegenwärtige über dem, was die nächsten Stunden bringen werden, vergessend, selbst die Hosiannarufe überhörend. Aber jetzt schreckt sie auf aus ihrer Betäubung. –

»Ich habe öffentlich vor der Welt geredet: ich habe in den Synagogen und im Tempel geredet –«

Heiliger Gott, das ist er! Sie kann ihn nicht sehen, die Kulisse verdeckt ihn, welch ein Gefühl! Seine Stimme, die so oft zu ihr geredet, Worte der Liebe, der Bitte, der Ermahnung, zuletzt des Zorns und der Verzweiflung – ohne daß sie darauf gehört, ohne daß es ein Echo in ihrem erkalteten Herzen geweckt, wie schallt sie ihr jetzt gleich eines Engels Botschaft hier herein, in den dunkeln Winkel, wo sie versteckt sitzt wie eine arme Seele, die sich den Anblick des Erlösers verscherzte! – Und sie lauscht gierig dem wundervollen Klang der nicht mehr an sie gerichteten Worte, während ihr das Gesicht des Sprechers verborgen ist, auf dem sie in Todesangst die Runen lesen möchte, die der Schmerz darauf eingegraben, ob sie auf Leben oder Tod lauten? Und doch – sie ist ihm wenigstens nah, so nah, daß sie meint, er müsse das Pochen ihres Herzens hören.

»Halt aus in Geduld – störe ihn nicht in seiner heiligen Pflichterfüllung. Es wird ja auch vorübergehen!«

Endlos dehnt sich für das ungeduldige Herz die Handlung aus. Christus wird von Verhör zu Verhör geschleppt. Die Verspottung, die Geißelung, die Verurteilung – alles erlebt das gemarterte Weib wieder mit, wie das erste Mal, aber diesmal wie eine Blinde. – Es ist ihr noch nicht gelungen, ihn zu sehen, er stand immer so, daß er ihr nie zu Gesicht kam. – Wird er es durchführen? Es dünkt sie, seine Stimme werde von Stunde zu Stunde matter. Und sie darf ihn nicht pflegen, darf ihm nichts Erfrischendes reichen, ihm nicht die feuchte Stirn wischen.

Sie hört draußen im Publikum weinen und schluchzen – die Scene der Kreuztragung naht, – der Kreuzesweg!

Der Himmel hat sich verfinstert und schwere schwüle Wolken hängen herab und bilden die natürlichen Soffiten der ungedeckten Vorbühnen, als wolle der Himmel den neugierigen Göttern hinter den Wolken die Aussicht auf die Bühne verschleiern, daß sie nicht sehen sollten, was heute geschieht.

Immer banger schlägt das Herz der Gräfin und der harrenden Welt – jetzt ist's ja bald überstanden!

Maria und Johannes – die Frauen von Jerusalem und Simon von Cyrene versammeln sich, in banger Spannung Christus erwartend. Anastasia spielt wieder die Maria, die Gräfin hat das edle reine Organ sogleich erkannt und die Begegnung draußen auf dem Feld vor zehn Jahren steht wieder vor ihr – nicht ohne eine Regung der Eifersucht.

Jetzt verkündet eine schmerzliche Bewegung im Publikum das Nahen des Zuges – des Kreuzes! Diesmal kommen die Darsteller von der Seite ihr gegenüber, und zwar auf der Vorbühne. Alle Adern pochen in ihr, – ihr schwindelt, sie ringt nach Fassung und Ruhe – denn sie wird ihn sehen, endlich – zum erstenmal!

»Er ist's, o Gott – es ist mein Sohn!« ruft Maria – Christus tritt auf, – mit dem Kreuz beladen. – Das ist kein Spiel mehr, das ist Wahrheit.

Kaum tragen ihn die Füße unter seiner Last, er schleppt sich schwer atmend bis zum Proscenium vor – die Gräfin stößt einen leisen Schreckensruf aus, sie glaubt, einem Sterbenden ins Auge geblickt zu haben, so sieht er aus! Aber er hat den Schrei gehört, er erhebt das Antlitz, er schaut sie an, ein Zucken geht über das abgezehrte Gesicht – er wankt, er stürzt, – er muß ja stürzen, so steht es in der Rolle.

Die Gräfin faßt ein Schauder – das war gar zu natürlich!

»Er bleibt uns auf dem Wege –,« sagt der Henker.

»Hier, stärke dich,« – der Hauptmann reicht ihm die Flasche, die er nicht nimmt. »Willst du nicht trinken? So treibt ihn an!«

Nun wird er von den Henkern gerüttelt, aber Freyer rührt sich nicht – er darf sich ja noch nicht rühren.

Simon von Cyrene nimmt das Kreuz auf sich und jetzt soll Christus aufstehen, – aber er bleibt liegen. Das Stichwort fällt – es wird wiederholt, – eine Pause entsteht, – ein paar von den Besonneneren fangen an zu improvisieren, der, welcher den Henker spielt, beugt sich zu ihm und schüttelt ihn, ein anderer versucht ihn aufzurichten – vergebens, – – – es geht nicht mehr! Im Publikum wird es unruhig, – das Personal schart sich um ihn und betrachtet ihn. Er ist erlegen! »Da haben wir's!« tönt es entsetzensvoll von Mund zu Mund.

Es entsteht eine unbeschreibliche Verwirrung. Das Publikum erhebt sich tumultuarisch von den Sitzen. Kaiphas, der Bürgermeister, befiehlt leise: »Auf die Mittelbühne – alles! Schnell, – und dann Vorhang zu!« Aber niemand hört ihn. Er beugt sich über den Kranken: »Es ist nur eine Ohnmacht,« ruft er in den Zuschauerraum hinunter, der Tumult ist nicht mehr zu beschwichtigen – alles drängt nach der Bühne direkt über das Orchester weg.

Da hält sich die Gräfin nicht mehr – vergessen ist Rang und Stand, – vergessen die Tausende fremder Blicke, denen sie sich aussetzt, – es gibt ein Weltbürgertum, das alles verbrüdert wie nichts auf Erden, – gemeinsamer Schmerz!

»Freyer, Freyer!« schreit sie, daß es den Umstehenden durch Mark und Bein dringt: »Nicht sterben – o, nicht sterben!« Sie stürzt auf die Bühne und sinkt vor dem Bewußtlosen auf die Kniee.

»Meine Herrschaften – ich muß bitten, die Bühne zu räumen« – ruft Kaiphas mit starker Stimme den Andrängenden entgegen und sich zur Gräfin wendend, die er erkannt: »Frau Gräfin – ich kann niemand Fremdem Zutritt gestatten, ich muß bitten, sich zu entfernen!«

Da richtet sie sich auf, groß und ruhig, – eine unbeschreibliche Hoheit und Würde ist jetzt über sie ausgegossen: »Ich habe ein Recht, hier zu sein – ich bin sein Weib!«


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