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Einunddreissigstes Kapitel. Heimkehr

Wie aus einem grauen Luftmeer ragt das »Wies«-Eiland heraus. Alle die Berge von Trauchgau und Pfront, vom Allgäu und Tirol, die es wie ferne Ufer und Klippen umgeben, sind im Nebel versunken. – In dem behäbigen Wirtshaus erleuchten sich die Fenster und raucht der Kamin. Ein Lichtlein ums andere blitzt auf in den friedlichen Höfen.

Stumm liegt jetzt die einsame Kirche, stumm harrt darin das arme unbewegliche Wiesherrle in seinem Glaskasten eingesperrt und denkt dem Wanderer nach, der jetzt unaufhaltsam durch den Nebel hinabeilt, der Heimat und dem Kreuz zu! Rasch und rascher schreitet Freyer dahin, über die Halden und durch den Wald, den Weg zum Schild hinunter. Dort steht der Knecht unter der Stalltür und nickt ihm herablassend das gebräuchliche: »Hascht umkehrt?« zu.

»Ja!« sagt Freyer und gleitet vorbei wie ein Schatten. – Dann geht es bergab der »Halb-Ammer« nach, die in der Tiefe rauscht. Allmählich kommt er aus der Nebelschicht und jetzt fällt ein schwacher Strahl des Mondes auf seinen Pfad. –

Stunde um Stunde geht er so dahin. Durch die Schluchten und Forste der finsteren Nock – am Kreuzweg zum Wilden Jäger vorbei, wo die bösen Geister hausen – und dann am Forsthaus, wo im epheuumsponnenen behaglichen Stübchen der Förster und die hübsche Försterin sich anschicken, schlafen zu gehen.

Jetzt verlöschen nach und nach die Lichter in den Häusern. Die Welt versinkt im Schlummer und stille wird's in den Dörfern. –

Nur in den Kirchen glühen die ewigen Lämpchen, das sind seine Haltestellen zum Ausrasten.

Auf dem Kirchturm von Altenau schlägt es Zwölf, als er hindurchschreitet. Ein später Nachzügler kommt ihm, vor sich hin lallend, mit dem schwankenden Schritt eines Halbtrunkenen entgegen, weicht aber gern aus, als er ihn sieht, und stiert ihm mit blöden Augen nach, als habe er ein Nachtgespenst erblickt.

»Ein Schreckbild schleich' ich durch das Land!« summt Freyer leise vor sich hin. Aber heute singt er das Lied nicht mehr, – heute abend ist sein Schmerz still geworden, – seine Seele bereitet sich vor zu einem anderen Hohelied – – am Kreuz! –

Jetzt taucht das Kirchlein von Kappel auf seinem grünen Hügel vor ihm auf – wie ein frommer Wegweiser, der nach Ammergau zeigt. Aber auf dem blassen Frühlingsgrün der Gelände liegen noch einzelne Schneeflecke, denn lange braucht der spröde Hochgebirgscharakter hier, bis er sich der milderen Jahreszeit überwunden gibt, und schneidend pfeift der Wind auf der breiten Landstraße über den Wanderer im dünnen Röcklein hin, daß ihm vor Frost die Zähne aneinanderschlagen. – Jetzt fühlt er's, daß er fast keine Lebenswärme mehr hat, daß er zwei Tage, ohne etwas Warmes zu essen, gewandert ist. Denn die Suppe heute im Pfarrhof war kaum mehr lau, – er bleibt einen Augenblick stehen, – nein, das hat er ja geträumt! Er kann doch nicht gebettelt haben? Er besinnt sich: Ja, es ist doch so – er hat es wirklich getan. – Ein Schauder erfaßt ihn: »So weit ist es mit dir gekommen?« Er versucht das leichte Röckchen zuzuknöpfen, – die Finger sind ihm steif vor Kälte. Das Herz zittert ihm unter der schlechten Hülle. Es war heißer Sommer, als er vor bald zehn Jahren Ammergau darin verließ, – jetzt ist es hier oben noch Winter. – »Nur nicht liegen bleiben auf der Landstraße,« fleht er zu Gott, »nur noch heim laß mich kommen!«

Es ist eine helle, kalte Mondnacht geworden, alle Konturen der Gebirge heben sich deutlich ab, näher und näher rücken die altbekannten Linien der Ammergauer Berge.

Und jetzt steht er auf der Ammerbrücke, wo gleichsam der Vorort Ammergaus, das Dorf Unterammergau beginnt. In gerader Richtung führt der mondbeglänzte Fluß den Blick mitten ins Ammertal hinein, und da liegen sie, die heiligen Berge der Heimat, – die gewaltigen Kulissen der gewaltigsten Bühne der Welt: der Kofel mit seinem Kreuz, der Schergen, der Laaber, die Not, das Härele und die Reichen. Und drüben, links nach dem Aufacker zu, die stille Gregorikapelle, inmitten unabsehbarer Wiesen, neben dem Absturz der Leine, der wilden Schwester der Ammer. Dort ist es, wo er als Knabe seine Pferde geweidet, rings um die Kapelle her, wo die blauen Gentianen sein Haupt umkränzten, wenn er sich niederwarf ins Gras, trunken von der eigenen überschäumenden Jugend und Lebensfülle. –

Und er breitet die Arme aus, als wolle er damit das ganze unendliche Bild umfassen: »Heimat, Heimat, dein verlorener Sohn kommt wieder – nimm ihn auf! – Stürzt nicht ein, ihr Berge und begrabt mir's nicht, das geliebte Tal, bevor ich es erreicht!«

Jetzt noch eine letzte Anstrengung, noch eine kleine Stunde: »Halt aus. Ermattender, nur noch diese eine Stunde!«

Endlos dehnt sich die Landstraße von Unterammergau ans Ziel. Rechts der Wald und links das Moos, wo die tausendfältigen Wiesenblumen wachsen – der Paradiesesgarten seiner Kindheit, wo ihn einmal ein blauer See lockte, so blau, daß er meinte, es spiegle sich ein Stück Himmel darin, und als er herankam, war's kein Wasser, sondern ein Feld von Vergißmeinnichten!

O Kindererinnerungen, – versöhnende Engel der gemarterten Menschenseele! Und da steht noch das Kreuz an der Kreisleine mit dem Dornenbusch, aus dem die Christuskrone geschnitten wurde. – Und dort drüben tritt wie ein Vorwerk im Burgfrieden des Kofel der Osterbüchl aus dem Schatten. Hell schimmert die Kreuzigungsgruppe im Mondlicht auf dem Gipfel und wie eine kleine Festung ragen weiter unten die Zinnen der Villa des früheren Chorführers in die Luft. Er hat dem Passionsspiel seine Gesundheit geopfert und sich dann zurückgezogen. Still und einsam lebt der ernste Mann, der vor kaum einem Jahrzehnt als Chorführer in seiner majestätischen Ruhe und Würde die Welt entzückte, in wunschlosem Frieden da oben und bestellt mit eigener Hand die blühenden Felder seines kleinen Hügelreichs. – Er pflügt und mäht mit derselben Würde, wie er den Chorführer darstellte, – von der Welt vergessen, wie jeder, der nichts von ihr will – aber die Geschicke der Gemeinde, der er gedient, treu in der verschlossenen Brust tragend und teilend mit der maßvollen Teilnahme des echten Chorführers im Sinne des Passionsspiels.

»Wie wird dir's gehen, wird die Gemeinde dich noch aufnehmen, dich nicht ausschließen aus dem frohen Wechselverein der heimischen Kräfte, wenn du ihr dein Herzblut opferst?« fragt sich Freyer, und es ist, als lege sich eine Wolke, ein düsteres Ahnen zwischen ihn und die ersehnte Heimat – »Wohl dem – der seinen Lohn nicht mehr von dieser Welt erwartet. Was sind Menschen? wandelbar sind sie alle – wandelbar und schwach! – Du nur bleibst derselbe – Gott, der aus unserer Mitte das Wunder schafft – und du heiliger Boden der Väter, ihr Berge, von deren Firnen uns der stärkende Hauch zum erhabenen Werke herunterweht – nicht die Menschen – ihr seid die Heimat!« –

Und jetzt ist's erreicht das Ziel – er ist da! – Vor ihm im Mondschein liegt es wieder, das Passionstheater – der geweihte Raum, wo er sich einst auf Stunden als ein Gott fühlen durfte. –

Und der arme, verstoßene, um alles betrogene Mann – wirft sich nieder und küßt den Boden und legt sich eine Handvoll Erde aufs Haupt, wie die Hand einer Mutter – und es quillt ihm wieder aus der Seele wie ein Lied, von seinem eigenen, weinenden Schutzengel gesungen:

»Ich küsse dich, geliebte Erde,
Die meiner Väter Fuß betrat.
Wenn auf des Herrn heiliges ›Werde‹
Aus dir entkeimt die fromme Saat!
In deinen Schoß will ich mich betten.
Bin ich auch treulos dir entflohn –
Du zogst zurück an tausend Ketten,
O Mutter, den verlornen Sohn!
Und ob kein Strahl, kein Stern mehr winke.
Die Zukunft hin – und was sie barg,
Du gönnest, wenn ich niedersinke.
Doch eine Scholle meinem Sarg!«

Lange birgt er das Haupt so auf der kalten Erde, aber er fühlt es nicht mehr. Es ist, als habe die Seele die letzte Kraft des erschöpften Körpers verzehrt – und seine Schranken durchbrochen, weit darüber hinaus lodernd wie eine Aureole. »Hosianna, hosianna« tönt es durch die Lüfte und die Erde zittert unter Tausenden von Schritten – und sie kommen daher in langen Zügen, mit Palmenzweigen, die Schatten der Väter, – die alten Passionsdarsteller seit Anbeginn der Spiele, und alle, die für das Kreuz lebten und starben, seit Christus! Endlos wallen sie daher, immer mehr, immer neue und füllen den Raum des Passionstheaters und weit darüber hinaus, über die Felder sich ergießend, das ganze Tal vom Aufacker bis gen Ettal.

»Hosianna, hosianna dem, der ans Kreuz geschlagen wird. Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt. – Du aber gehörst zu uns!« singt der Chor der Märtyrer, daß es durch Erde und Himmel schallt. »Hosianna, hosianna dem, der da leidet und blutet für die Sünde der Welt!«

Und nun sammeln sich die Geister der toten Ammergauer zum heiligen Spiel – die Märtyrer aber bilden den Chor. Da kommen sie alle, die Abgeschiedenen, in ihren einstigen Rollen. Der alte Flunger in göttlicher Schöne, spielt wieder den Christus. Josepha die Geächtete, im Exil gestorbene, die Magdalena. Jakob Mayr, der machtvolle Mann mit der Macht des Kyklopen, den Kaiphas, Peter Lang den Pilatus, Jakob Zwink, der Maler, den Petrus, Johann Lechner, der seine Rolle auf den Sohn vererbte, den Judas – und noch viel edle Geister mehr. Das Ganze aber leiten Hand in Hand die Seelen der Passionsdichter seit zwei Jahrhunderten, von Anbeginn der Spiele bis zu Ottmar Weiß und Daisenberger. – Strahlend vom Lichte des Evangeliums, das sie geschaut, seit sie verherrlicht im Tode, schaffen sie ein neues, vom göttlichen Hauch erfülltes Werk. Versunken, abgestreift ist alles daran, was zeitlich war, und nur der Gedanke des Evangeliums bleibt. Ein Spiel, wie es noch nie gesehen und von Menschen noch nie dargestellt. Frei von dem kindischen Beiwerk des Geschmacks der Epochen dieser Welt, ist das Gedicht der Geister. – Wie die Sonne durch Wolken bricht, so tritt es hervor in seiner reinen Schönheit, das Wort der Schrift! – Zu groß, um von Menschen verstanden zu werden, mußten sie es, so lange sie auf Erden wandelten, zerkleinern, durch menschliche Kunst, – aber die Verklärten, die über den Zeiten stehen, wissen es jetzt, daß nichts, was Menschen ersinnen können, über die Wirkung des Evangeliums geht.

Und dem armen Manne spielen sie es vor, dem Sohn ihres Volkes, der da niedergetreten am Boden liegt – ihm wird das himmlische Gesicht und die Erkenntnis der Unzulänglichkeit alles Irdischen. Und was er bisher für das Höchste gehalten, das wird ihm jetzt auf einmal zum Lallen gegenüber der Geistersprache der Toten. – – –

Und immer gewaltiger entfaltet sich die Offenbarung. Christus ist gekreuzigt und auferstanden, aber nicht wie auf der irdischen Bühne in einer Glorie von Flittergold, nein – leise und unerwartet tritt er unter die Jünger, durch die verschlossene Tür, schattenhaft – mit dem Abzeichen seines Leidens. »Friede sei mit euch!« ruft er: »Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch.« Da erbeben die Jünger in seligem Grauen vor der ungeheuren Erscheinung! Thomas aber kann es nicht fassen, er will es nicht eher glauben, als bis er die Hände in seine Wundenmale gelegt! Da bietet ihm der Erlöser die klaffenden Spalten dar, wo Speer und Nägel durchgegangen, daß er sie greife. –

Erschauernd, voll Furcht und doch voll Begierde nach Gewißheit, senkt Thomas die prüfenden Fingerspitzen in die Narben – sie sind's alle fünf Wunden, – unbegreiflich ist's – aber es ist! Die Sterne entkreisen ihren Bahnen, das Triebwerk der Natur ist ausgehoben – er ist's, es ist der Gekreuzigte, – er hat den Tod überlebt! –

Und nieder stürzt der Zweifler auf sein Angesicht und zitternd löst sich aus der beklommenen Brust der Jubelruf der Ueberzeugung: »Mein Herr und mein Gott!« Und aus allen Herzen schluchzt das tausendstimmige Echo es nach, beim Anblick des wandelnden Leibes, des speerdurchbohrten, der dem Geiste noch dient über das Grab hinaus, bis er sein Werk vollendet. – Denn damit das Werk lebe, muß er leben – wäre er am Kreuze gestorben wie ein Mensch, so starb es mit ihm, wie Menschenwerk. –

Jesus aber spricht: »Weil du mich gesehen hast, Thomas, glaubst du an mich, – selig sind, die nicht sehen und doch glauben!«

»Ja, du bist Jesus von Nazareth – hochgelobt in Ewigkeit, Amen!« singt der Chor der Märtyrer. Und als alles getan ist, was noch zu tun war, – kommt die Stunde der Verherrlichung. Er führt die Jünger hinaus nach Bethanien, nimmt Abschied von den Weinenden und tröstet sie mit der göttlichen Verheißung: »Ich werde bei euch sein bis ans Ende aller Tage!« Dann hüllt die Wolke ihn ein und nun ist er dem sterblichen Auge entrückt! – Aufgelöst in Licht ist jetzt, was noch verdichtete Erdenmasse geschienen, so lange er hier unten im Dunkel geweilt. So schwebt der verklärte Leib empor. – Unsichtbar hallen Engelschöre hernieder – er ist aufgefahren zum Vater!

Die Jünger sind auf die Kniee gesunken und strecken in namenlosem Trennungsschmerz die Arme aus nach dem entschwundenen Gott! – Zur Rechten und zur Linken aber stehen die zwei Cherubim im weißen Gewand, die verkünden unter Posaunenklang der verödeten Welt die Botschaft: »Dieser Jesus, der von euch weg in den Himmel aufgenommen worden, wird ebenso wiederkommen, wie ihr ihn sahet auffahren in den Himmel!«

So schließt das Passionsspiel des reinen Evangeliums, das die Geister der Ahnen dem Enkel geoffenbart, der da leiden und dulden will für die heilige Mission seines Volks. Langsam entschwinden die Geister, im endlosen Zuge dahinschwebend – zuletzt nur noch wie bleiche Nebelstreifen, die durch das Tal ziehen.

Freyer erhebt das Haupt. Der Mond hat sich verschleiert und weiße Dämpfe brauen über den Feldern. –

Frostzitternd erhebt er sich. Sein leichtes Gewand ist feucht vom Nachtreif, der auf der unbedeckten Brust geschmolzen, und seine Füße sind wund, denn die Sohlen sind durchgewetzt auf dem langen Marsch. –

Noch ist ihm, als höre er in unermeßlichen Fernen den Chor der Seligen! »Hosianna dem, der gekreuziget wird!« Und er hebt die Arme gen Himmel: »O mein Erlöser und Herr, so lange du mich brauchen willst, der Welt dein Angesicht zu zeigen – so lange laß mich leben – dann aber erbarme dich meiner und laß mich sterben am Kreuz! Sterben für die Sünde der einen, wie du starbst für die Sünden der Welt!« Und er öffnet die leicht verschlossene Tür zum Bühnenraum. Und da – im halbverschleierten Mondschein liegt das alte Kreuz. Laut aufweinend umschlingt er es und drückt es an die Brust, das harte Holz, das ihn getragen, das heute wie damals geheimnisvolle Mächte umlagern, die ihn gewaltig an sich ziehen.

»O wär' ich dir treu geblieben!« klagt er. »Alle Güter dieser Welt – und wär's das höchste Glück – sie wiegen dich nicht auf. Jetzt bin ich dein – richte dich auf mit mir und trag mich hinüber, hoch, über alles Erdenweh!« –

Es schlägt Drei von der Kirche herüber. – Noch muß er leben und leiden, denn er weiß, daß kein anderer den Christus spielen kann wie er, weil keiner das Bild des Erlösers im Herzen trägt wie er. Aber – wird es noch gehen? Seine Kräfte sind gebrochen, das fühlt er mit zusammengeschnürter Brust. Er nimmt Hut und Stock auf. So zieh denn ein in Ammergau, Unglücklicher, und raffe die letzte Kraft zusammen!

Er schwankt hinaus. Wohin? Zu Ludwig Groß, das ist der einzige, vor dem er sich seines Elends nicht schämt.

Jetzt erst fühlt er, daß er kaum mehr weiter kann. Aber es muß sein, hier darf er nicht liegen bleiben.

Schritt für Schritt schleppt er sich mit den zerrissenen Schuhen auf der rauhen Dorfstraße hin. Als er im Mittelpunkt des Dorfes ist, hört er Musik und Gesang, abwechselnd mit Geschrei und Gelächter, vom Gasthaus her. Es ist eine Hochzeit und sie schicken sich an, die Hochzeitsleute nach Hause zu führen, er hört es aus den Reden von ein paar Burschen, die herauskommen. Er besinnt sich eine Weile – ist er in Ammergau? Seine Seele erzittert noch vom weihevollen, tränenreichen Augenblick des Wiedersehens mit der ersehnten Heimat, und nun – dieser Kontrast! Es ist ja natürlich – sie können nicht alle ihre Aufgabe mit der gleichen Inbrunst in der Brust tragen. Aber dem wunden Mann, mit dem furchtbaren Ernst im Herzen, tut es heute doppelt weh. Leise, im Schatten der Häuser schleicht er vorbei, daß ihn keiner sieht!

Die Zecher und Lacher da drin merken es nicht, daß indes ihr Christus im Bettlerkleide an ihnen vorüberzieht? Sie fühlen ihn nicht, den Blick, der aus dem Schatten von draußen durch die erleuchteten Fenster auf sie gerichtet ist und heimlich fragt: »Sind das die Enkel jener Väter, deren verklärte Geister soeben dem Wiederkehrenden das heilige Spiel, für das sie gelebt und gelitten, in seiner ganzen Majestät gezeigt?«

Der schwere Schritt des Unglücklichen ist ungehört vorübergegangen und jetzt biegt Freyer in die Seitengasse ein, wo das Haus des Freundes liegt – das unselige, in dem das Verhängnis begonnen.

Es ist halb vier Uhr früh. Der wüste Lärm klingt in die stille Straße nicht herein. Wie schlafumfangen liegt das Haus, überschattet von dem weit vorspringenden Dach. In dem Zimmer zu ebener Erde, wo einst die Gräfin gewohnt, pflegt außer der Passionszeit Ludwig zu schlafen. Freyer klopft leise an den Laden, aber sein Herz schlägt so laut, daß er fast nicht hören kann, ob sich darin etwas rührt.

Wenn der Freund nicht da wäre, verreist – oder weggezogen – was dann? Er hat ja nie mehr mit ihm in Verkehr gestanden und nur durch Josepha einmal die Nachricht erhalten, daß der alte Groß gestorben sei. – Er klopft noch einmal. Ludwig ist der einzige, dem er sich anvertrauen kann – wenn der ihm verloren, dann wäre alles aus. –

Aber nein – es regt sich drin – die wohlbekannte Stimme fragt halb im Schlaf: »Wer ist draußen?«

»Ludwig, mach auf – ich bin's, – Freyer!« ruft er mit gedämpfter Stimme.

Jetzt wird der Laden aufgetan: »Freyer – ist's möglich? Wart, Joseph, wart, ich lass' dich herein.« Und er hört, wie der Freund sich drinnen hastig ankleidet – noch zwei Minuten, und die Tür öffnet sich. Ludwig Groß tritt heraus. Die beiden sprechen kein Wort. Ludwig faßt Freyer an der Hand und zieht ihn ins Haus. »Freyer, du – träume ich denn? – Du hier – was bringt dich her? Ich will nur schnell Licht machen,« – mit zitternden Händen vor Aufregung zündet Ludwig eine Kerze an. Freyer steht schüchtern an der Tür. Jetzt wird es hell im Zimmer, der Lichtschein fällt auf Freyer – Ludwig fährt entsetzt zurück. »Allmächtiger Gott, wie siehst du aus!«

Lange keines Wortes mächtig, stehen sich die Freunde gegenüber. Freyer immer noch mit dem Hut in der Hand. Ludwigs scharfer Blick gleitet über die zusammengesunkene Gestalt, das abgetragene Röcklein, die zerlumpten Schuhe hin. »Freyer, Freyer, was ist aus dir geworden! Armer Freund, so kommst du mir zurück?« Und mit namenloser Trauer schließt er den Unglücklichen in die Arme.

Freyer kann fast nicht mehr sprechen, die Zunge versagt ihm den Dienst. »Wenn ich ein wenig bei dir ruhen könnte?« stammelt er kaum noch verständlich.

»Ja, komm nur, komm und leg dich auf mein Bett, – ich habe schon ausgeschlafen, ich lege mich doch nicht mehr,« sagt Ludwig zitternd vor Mitleid und Schreck und entledigt den Willenlosen so schnell als möglich der elenden Hüllen. Dann führt er ihn zu seinem Lager, auf das er ihn sanft niederläßt. Er will den Todmüden nicht um Auskunft quälen, er sieht, daß Freyer seiner selbst nicht mehr mächtig ist. Sein Zustand sagt dem Freunde genug.

»Du – bist – gut!« stammelt Freyer, – »o, ich hab' draußen was gelernt.« –

»Was denn – was hast du denn gelernt?« fragt Ludwig.

Ein seltsames Lächeln irrt über Freyers Gesicht: » Betteln

Den Freund schaudert. »Sprich jetzt nicht mehr – du brauchst Ruhe!« sagt er leise beschwichtigend und hüllt den erstarrten Körper in warme Decken. Aber ein Blitz edeln Zornes zuckt aus seinen Augen und die bleiche Lippe kann es nicht zurückhalten: »Ich frage nichts – aber wer dich uns so heimgeschickt, der soll's vor Gott zu verantworten haben!« sagt er, mehr zu sich selbst als zu Freyer.

Der hört es auch nicht, und wenn er's hörte, so weit reicht sein Denken nicht mehr, daß er's hätte verstehen können.

»Freyer! sag mir nur noch, womit ich dich erquicken kann? Ich will schnell Feuer machen und dir für etwas zu essen sorgen, was möchtest du am liebsten?«

»Was – du – hast!« bringt Freyer mühsam heraus.

»O lieber Gott – er hat gehungert!« Ludwig kann die Tränen nicht mehr zurückhalten. »Bleib ruhig – ich komme gleich und bring' dir etwas!« sagt er und eilt hinaus, zusammenzusuchen, was in dem bescheidenen Haus eben noch vorhanden. – Die Schwestern will er nicht wecken, hier paßt kein Weibergeschwätz her. Bald hat er selbst eine einfache Brotsuppe gekocht und ein paar Eier eingeschlagen, weiter ist nichts da, – aber es ist doch etwas Warmes. Als er's dem Freund bringt, ist Freyer schon so entkräftet, daß er kaum den Löffel mehr halten kann, doch die Nahrung tut ihm sichtlich gut.

»Nun schlafe!« sagt Ludwig und kleidet sich fertig an. »Es tagt schon. Ich will jetzt ins Dorf und sehen, daß ich dir Stiefel und einen andern Rock verschaffe, sonst kannst du ja nicht ausgehen!«

Ein stummer Dankesblick Freyers lohnt die treue Fürsorge, dann fallen ihm die Augen zu und der Freund betrachtet ihn mit tiefer Wehmut:

»Wie er schlief und ruhte, von der Arbeit ermüdet.« –


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