Jakob Christoph Heer
Laubgewind
Jakob Christoph Heer

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

49

Aus einer halben Ohnmacht, die ihre Sinne eine Weile wohltätig umfing, hatte sich Hilde emporgerafft. Sie schrieb den vom Arzt Dombalys gewünschten Brief. Sie schrieb die lange Nacht und weit in den folgenden Tag. Es waren die Abschiedsbriefe einer Gezeichneten, von der man weithin verächtlich sprach und für die es keine Rettung mehr gab.

Mit dem Brief des Irrenarztes hätte sie ihre Ehre verteidigen können. Aber in derlei Kämpfen gewinnt man keinen vollen Sieg. Ein Hauch, ein Schatten bleibt. Nie, nie mehr im Leben würde sie die Hilde Rebstein, die reine und stolze Hilde sein, die sie noch vor wenigen Tagen gewesen war; für ihr eigenes Fühlen nicht – und für das der Mitmenschen nicht, deren warmer Achtung sie bedurfte wie der Luft, in der sie atmete! –

Doch nein, da lag's nicht! Sie wäre mutig genug, den Kampf mit der Welt aufzunehmen, zu dulden, zu tragen, wenn ihr nur Siegfrieds Liebe blieb. Aber darauf durfte sie nicht hoffen. Er war in zu strengen Lebensansichten emporgewachsen. Die Kunst hatte ihre Liebe erschlagen – durch ihre Liebe sie!

Jetzt kein schwächlicher Vertrag mit dem Leben – keine Flucht in fremde Lande oder in den halbverborgenen Beruf einer Dienenden. Das Gefühl der seelischen Zertrümmerung würde sie ja doch begleiten, das verletzte Herz nie heilen. Sie gehörte nicht unter die Naturen, die sich mit einer Scherbe des Lebens zufrieden geben können. Darum keine Feigheit!

Ihr Weg war der jenes Mädchens im Isartal, dessen Gestalt im Wasser sie einst so tief ergriffen hatte. Und nun waren die Briefe geschrieben; demjenigen an Herdhüßer war das Schreiben des Irrenarztes vom Enzenhof beigefügt. Damit mochte der Doktor nach Gutfinden handeln. Sie erwartete bloß noch den Brief der Mutter Siegfrieds.

Erst gegen Abend ging sie aus. Auf dem Wege zum Grab ihres Vaters kam sie am Postgebäude vorüber. Sie trat ein, fragte am Schalter nach dem Brief – und erhielt ihn. – Erbrach ihn aber erst droben auf der Bank unter dem Kirchhoffliederbaum. –

Dem Brief war ein Zeitungsausschnitt beigefügt. Diesen las sie zuerst: »In der prächtigen Ausstellung, die eine größere Zahl der letzten Gemälde des unglücklichen Malers Dombaly vereinigt, erregt besonders ein Bilderpaar das Interesse der Besucher. Brustbild und Akt, die ein und dieselbe junge Dame darstellen. Hier wie dort fesselt uns ein wunderbar zart und plastisch behandelter Frauenkopf, ein Antlitz von edelster Linienführung, geistigem Hochflug und künstlerischem Feuer. Der Akt, der in herrlichster Mädchenkeuschheit erstrahlt, muß als ein wahrhaft klassisches Werk des der Kunst zu früh verlorengegangenen Meisters angesehen werden, und unwillkürlich regt sich in jedem Beschauer die Frage: Woher die durch die Stärke des seelischen Ausdruckes im Haupte geadelte Gestalt? Darüber geht in der Gesellschaft die rührende Geschichte einer jungen talentvollen Malerin, die um den Preis, daß sie die Schülerin des genialen Künstlers werden dürfe, sich als Modell für den Akt hat finden lassen.« –

Zornig zerknüllte Hilde den Wisch und stampfte ihn mit dem Fuß in die Erde. Da war sie ja geprägt im Urteil der gemeinen Welt! »Vater – es ist nicht wahr!« stöhnte sie. –

Und nun den Brief!

»Verehrtes Fräulein!« schrieb Frau Kulbach. »Der beiligende Zeitungsausschnitt überhebt mich einer Erklärung, warum ich an das Lager meines plötzlich schwer erkrankten Sohnes gerufen worden bin. Ich will zwar den Beteuerungen Siegfrieds, daß Sie das Opfer eines Wahnwitzigen geworden sind, vollen Glauben schenken, Sie sehen aber wohl selber ein, daß sich nach dem unglücklichen Geschehnis die Verlobung, die Siegfried mit Ihnen eingegangen ist, nicht aufrechterhalten läßt, sogar dann nicht, wenn es Ihnen gelingen würde, Ihre Unschuld zu beweisen. Die Erinnerung an das unglückselige Bild würde sich doch nie von Ihrem und Siegfrieds Namen lösen und für ihn in seiner geschäftlichen und gesellschaftlichen Stellung ein fortdauerndes Hemmnis sein. Siegfried lebt in einem unüberbrückbaren Zwiespalt zwischen Gefühlen ritterlicher Treue gegen Sie und der Einsicht in die Schwere des Vorkommnisses. Es besteht die Gefahr, daß sich der im tiefsten Gemüt Erschütterte durch seinen inneren Kampf völlig aufreiben läßt. Darum, verehrtes Fräulein, gestatten Sie dem Mutterherzen die innige Bitte: Kommen Sie in der Trennungsfrage Siegfried entgegen! Sie retten damit sein schwer bedrohtes Leben und erringen sich die Dankbarkeit seiner in Leid fast verzagenden Mutter.

Ihre hochachtungsvoll ergebene Frau Herta Kulbach, geb. Harms.«

In dem Brief stand nichts, was Hilde nicht erwartet hätte, ja sie spürte aus dem herzenshöflichen Ton der Mutter Siegfrieds, der Frau, die ihr wie eine strenge Richterin des Alten Testaments geschildert worden war, etwas wie Schicksalsversöhnung.

Sie starrte eine Weile in das sanfte Leuchten der Schneeberge. Da fiel ihr ein: wenn sie handeln wollte, mußte es geschehen, ehe Adolf von seinem Tagewerk kam. Es ging nicht, ihm, der Mutter und dem alten Lehrer noch einmal die Hand zu drücken. Was gesagt werden mußte, stand in den Briefen. Die getreue Hermine wird Adolf trösten! –

»Vater – du verstehst meinen schweren Gang – du verzeihst ihn!« Aufschluchzend wandte sie sich von seinem Grab, schwankte die Dorfstraße hinab, ging auf ihr Zimmer und schrieb in unheimlicher Ruhe den Brief für die Mutter Siegfrieds: »Ihrem Wunsche gehorsam, löse ich meine Verlobung mit Siegfried auf. Meiner Unschuld bewußt, bitte ich ihn um ein reines Andenken. Gott segne und behüte Siegfried!

Hilde Rebstein.«

Sollte sie nicht auch Siegfried selber einen Abschiedsgruß schreiben? Sie versuchte es. Es ging nicht. Wozu dem Geliebten noch den Kampf erschweren? –

Mit dem Brief an die Mutter warf sie die anderen in den Postschalter.

Der erste Schritt auf dem stillen und einsamen Weg war getan. – –


 << zurück weiter >>