Jakob Christoph Heer
Laubgewind
Jakob Christoph Heer

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46

Der Maimorgen blitzte im Tau, lachte in Blüten, flutete in Sonne über die Wipfel des Gartens und strahlte an den fernen, hochherrlichen Bergen, als wären sie frisch aus Silber gegossen.

Heute war die Eröffnung der Kunstausstellung in München.

Nun glitt der Gedanke doch wie ein Sonnenstrahl durch die Sinne Hildes. Sie ließ ihre furchtbare Sorge, sie malte und setzte die letzten Lichter in das Bildnis des Nesthäkchens. Noch zögerte sie, das wohlgeratene Gemälde, das sie mit dem frischen Schwung der Heimatfreude rasch und sicher auf die Leinwand gebracht hatte, für vollendet zu erklären, aber die Ungeduld der Eltern entriß ihr das Bild des Familienlieblings.

»Nun, wenn Sie, die Mutter, die volle Ähnlichkeit darin finden, dann bleibt mir als Künstlerin in dieser Hinsicht nichts mehr zu tun«, wandte sich Hilde lächelnd an Frau Glür. »Es sind auch bloß noch ein paar technische Kleinigkeiten, die ich mir überlegen muß – schwächere oder stärkere Tönung des Hintergrundes, und wie ich das Porträt noch besser in den Rahmen stimme. Das kann später noch geschehen. Rahmen Sie denn das Bild! Und Sie gestatten mir kurze Maiferien! – Gerade heute an dem herrlichen Tag möchte ich wandern. – O Täler, o Höhen!«

»Sie wissen, daß Sie Ihre eigene Herrin sind«, versetzte Frau Glür. »Wir können Ihnen nur danken, daß Sie die Aufgabe an unseren Kindern übernommen haben.«

Hilde wanderte. Das mailiche Prangen der Natur, die Stille und der Vogelschlag in den Wäldern, die spielenden Sonnenfunken im weichen Grün, die silbern sprudelnden Quellen, das weite Himmelsblau senkten den Frieden in ihre Brust. Die gräßliche Furcht des gestrigen Abends war überwunden. Ihr war, sie sei wieder ein glückliches Kind.

Frohgestimmt trat sie am Abend in die Villa Glür zurück.

»Ich habe Ihnen eine Einladung meiner Eltern zu überbringen«, erzählte ihr Ulrich Glür. »Sie lassen Sie mit all den Unseren auf die Veranda ihres Hauses zum Abendbrot bitten. Wir feiern die Vollendung des Bildes unseres Jüngsten – und Sie, die Künstlerin!«

Es wand sich etwas in Hilde. Der Besuch bei dem alten Ehepaar Glür wurde ihr fast so sauer wie in ihrer Kinderzeit.

In dem alten Biedermeierhaus hatten zwei Jahrzehnte keinen Tisch, keinen Stuhl, kein Bild verrückt. Auch die Missionsbüchse mit der Aufschrift »Für arme Heidenkinder« war noch da und der mit dem Kopf wackelnde Neger. Aber eines war gegen früher grundverschieden – der Ton des Empfanges. Die alte, an den Füßen gelähmte Frau Glür kam ihr mit einer fast demütig höflichen Liebenswürdigkeit entgegen, ohne daß man mit einer Silbe von Kuno und seinem bösen Handel sprach, und der alte Fabrikherr erinnerte sich mit einem feinen entschuldigenden Lächeln feines Patenverhältnisses zu ihr. Er führte sie in sein Privatgemach, sagte ihr, daß er die Ausrichtung des Honorars für das Porträt seiner jüngsten Enkelin als seine Angelegenheit betrachte, und überreichte ihr eine Summe, die ihre Erwartungen überstieg. Ja, wenn sie wollten, da wußten auch die Glür, wie man vornehm und freigebig ist. Der Abend verlief sehr hübsch und angeregt, und über dem vielbewunderten Bild der Enkelin besprach die Familie ein Allerlei von Plänen, was sie Hilde in der weitverzweigten Verwandtschaft noch zu malen übertragen wolle.

Nur zugreifen – und wenn ihr Siegfried den Weg in das künftige Heim geebnet hatte, war sie in der angenehmen Lage, ihm aus Mitteln ihrer Kunst eine Aussteuer zuzubringen, die sich auch in seinen Verhältnissen sehen ließ.

Nein, jetzt nicht an die noch fernen Tage denken – erst die Eröffnung der Dombaly-Aussiellung erwarten! Auf diesen Tag war ihre Seele gespannt wie ein Bogen, der am Brechen ist. Wenn er vorüberginge und von Siegfried käme ein glückseliger Brief und ihre Liebe läge nicht danieder wie ein vom Blitz getroffener und versengter Baum – oh, da würde sie Gott auf den Knien danken, Tränen der Erlösung und Freude weinen und inniger noch als bisher das Dichterwort beherzigen: »Edel sei der Mensch, hilfreich und gut!« –

Beim Rauschen der Aa zitterte und zagte sie wieder wie in Todesnöten.

Im Halbwachen und Traum erschien das Nachtgespenst vor ihr. – Sie war, sie wußte nicht wie, in das Atelier Dombalys getreten, aber vorwärts gehen konnte sie nicht. Sie sah ihn, wie er sinnend vor dem Akt der Mizzi Schäfer stand, vor dem zerstörten Haupt. Neben ihm die Indierin mit granatrotem Mund und glühenden Augen. »Ich tue dir alles zulieb, was du willst«, flüsterte die Satanin, »auf diesen Akt aber setze, wie du schon beabsichtigt hast, das Haupt deiner Schülerin, jener Hilde Rebstein, die dir treulos davongelaufen ist, als du sie küssen wolltest! Ich aber – ich will dich dafür küssen, wie nur wir Morgenländerinnen küssen!« Die Augen der Indierin funkelten, ihr Mund erbebte dürstend, ihr schlangenhafter Leib spielte in sinnlicher Glut, und die Hand bebte ihr nach der Hafte der Schulter, um das Gewand zu lösen. Dombaly zitterte in wahnsinniger Gier – hob zögernd die Hand zum Malen – malte – und die Indierin ließ ihr Kleid sinken – sie tanzte leise sich windend ihren verführerischen Tanz. Ihr granatroter Mund flüsterte ihm mit heißem Atem ins Ohr: »Male, male!« – Und wie unter einem Höllenzwang, das Gesicht mit Schweiß bedeckt, malte Dombaly. Jetzt stockte ihm die Hand. »Ich darf nicht«, stieß er heiser hervor, »es ist ein Verbrechen – ich liebe die Hilde!« – »Mich aber sollst du mehr lieben«, keuchte die Indierin, »zum Beweis, daß du mich mehr liebst – male – male!« Sie tanzte – tanzte, und die Teufelsfreude ihrer Augen glänzte wild, wüst und triumphierend in die Züge des entstehenden Hauptes.

»Erbarmen, Dombaly«, wollte Hilde schreien. Ihre Stimme versagte. Sie wollte sich vorwärts stürzen – ihm den Pinsel aus der Hand reißen. Die Füße trugen sie nicht. Und das Antlitz des Bildes wurde stets deutlicher das ihre.

Da glitt ihr der Nachtmahr von der stöhnenden Brust. Mit einem furchtbaren Schrei, den Leib wie zertreten und gefoltert, fuhr sie vom Lager empor. Sie starrte in wilder Angst in die Sichel des wachsenden Mondes, in die Sterne der Maiennacht und in die Stille der blühenden Heimat.

Blühende Heimat – und sie hatte ihr Haupt auf dem Leib der Mizzi Schäfer gesehen – Gott – o Gott! –

Sie war nicht abergläubisch und ließ sich von dem unglücklichen Traum doch beherrschen. War dieser so töricht? Das dunkle Wort Dombalys in der Irrenanstalt auf dem Enzenhof: »Ich habe meine Schülerin, meine Hilde Rebstein ermordet –«, war doch nur im Zusammenhang mit dem Aktbild der Mizzi Schäfer zu erklären. Sie gedachte erschauernd der Stunde, da er wie im Spiel ihren Kopf in den Akt gezeichnet hatte. Die Idee lebte in ihm; nun ein Anstoß durch die Indierin, durch das abgründige tierische Wesen, das in ihr das sittlich überlegene, von Dombaly mit einer verehrungsvollen Hochachtung ausgezeichnete Weib haßte, und der geistig schwerkranke Künstler unterlag der teuflischen Anstiftung der von ihm mit wahnsinniger Gier zum Modell begehrten Abenteuerin! Sie genoß ihre Rache – floh – sein Irrsinn kam zum Durchbruch – über das Atelier und das Bild deckten die Gläubiger die Hände! –

Ja, vielleicht hatte es nicht einmal der Anstiftung der Indierin bedurft. Um die Stunden auszufüllen, da sich ihm das eigensinnige Weib entzog, hatte Dombaly in krankem Liebestrieb ihr Haupt auf den Leib der Mizzi gemalt. So oder so! Sie – sie war das Opfer! –

Hilde stöhnte herzbrechend auf. War sie hellseherisch geworden? Sie erlebte in ihrer Phantasie die Vorgänge wie auf einer Bühne. Jetzt hatten die Händler das Bild nach Berlin gebracht, jetzt öffneten sich die Pforten der Dombaly-Aussiellung – jetzt trat Siegfried –

»Nein – nein«, schluchzte sie laut auf – und sank bitterlich und trostlos weinend in die Kissen zurück.

Doch seltsam genug, nach der fast spukhaften Nachtphantasie fand sie den gesunden Schlaf der Jugend und im Strahl der Morgensonne wieder die heilige Lebenshoffnung – die gläubige Überzeugung: Dombaly hat das Entsetzliche nicht getan – nicht tun können! – Und ein munterer Brief, den sie beim Morgenbrot empfing, stimmte sie friedlich, ja beinahe fröhlich.

Er kam von Johanna, der Rheinländerin – ein frischer, warmblütiger Gruß aus der Kunstausstellung in München.


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