Jakob Christoph Heer
Laubgewind
Jakob Christoph Heer

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18

Am Weihnachtsmorgen ging Hilde durch den Englischen Garten. Die alten mächtigen Bäume standen in Schnee und Rauhreif, und die vereisten kleinen Seen harrten des frohen Volkes der Schlittschuhläufer und -läuferinnen. Auf den Eislauf freute auch sie sich. Sie begegnete zahlreichen Spaziergängern, die der herbe, sonnige Morgen ins Freie gelockt hatte. Die dachten wohl wie sie – daß ein einsamer, nachdenklicher Gang durch die schöne Natur ein innigerer Gottesdienst sei als ein Kirchenbesuch, namentlich in einer großen, fremden Stadt unter einer Gemeinde von Gläubigen, die man nicht kennt, und vor einem Prediger, der nichts vom religiösen Herzensbedürfnis seiner Gelegenheitshörerin weiß. –

Doch da ging ja eine Bekannte aus dem Atelier Professor Waldhiers, die kleine, reizende Frankfurterin. Als das Mädchen sie erspäht hatte, löste es sich aus seiner Gesellschaft und kam auf sie zugeeilt.

»Aber Fräulein Rebstein«, sprudelte sie mit einem Händedruck, »Sie haben ein Bild auf dem Weihnachtsmarkt ausgestellt gehabt. Das hören und wir alle hinpilgern – das war eins. Eine ehemalige Schülerin Waldhiers ein Bild ausgestellt. Das grenzte ja ans Wunder. Und verkauft! Oh, wir haben im Laden bei Kunz und Abel alles über Sie ausgefragt. Sie sind die Schülerin Dombalys geworden, des berühmten Dombaly. Ja, wenn der Mensch Glück hat! Wir bersten vor Neid auf Sie, und unter der Führung der Engländerin haben wir Waldhier die Hölle heiß gemacht, um schönere Modelle und häufigere Korrekturen gebeten und gedroht, daß wir sonst alle miteinander aus der Schule treten.«

Die Augen der zierlichen Kleinen funkelten, und das brennendrote Plaudermündchen lief. Hilde fühlte sich fast schmerzlich berührt. Ihren ehemaligen Lehrer in Verlegenheit bringen – den Neid ihrer ehemaligen Mitschülerinnen erregen, nein, das wollte sie nicht, jeder von den hoffnungslos Kämpfenden hätte sie einen ermunternden Erfolg gegönnt. Und was ist es für ein erniedrigendes Gefühl, von anderen als ein Glückspilz betrachtet zu werden!

Eine Glückliche war sie aber doch. Als sie wieder hinauf in ihr Dachzimmer stieg, lag die Weihnachtspost da, ein ansehnliches Paket von jener Freundin Johanna, die aus einer bedrückten Münchner Malschülerin eine lebensfrohe junge Frau in den Rheinlanden geworden war. Das Paket enthielt ein gebratenes Huhn, mancherlei Gebäck, eine Beilage von Grün und Blumen und einen überaus launigen Brief: »Heiraten, Hilde! das ist für uns Frauen die edelste Kunst. Komm, sieh, laß dich von einem jungen Rheinländer rühren und mach's nach!«

Wenn du wüßtest, Johanna! lächelte Hilde still in sich hinein.

Inniger noch als der Brief und die Geschenke der treuen, humorvollen Freundin ging ihr ein Schreiben ihres neunzehnjährigen Bruders Adolf zu Gemüt. »Liebste Hilde«, meldete Adolf, »die freundliche Wendung, die Deine Studien genommen haben, ist für mich und unseren alten Lehrer die größte Weihnachtsfreude. Nachdem Du Dich so überraschend geschwind aus den Klemmnissen emporgeschwungen hast, darf ich Dir ja hinterher schon gestehen, daß wir im Gedanken an das zur Neige gehende väterliche Kapitälchen oft in stiller Sorge um Dich waren. Auch von der Nachfrage im Dorf ließ ich mich quälen: »Wie geht es Deiner Schwester Hilde? Verdient sie mit Zeichnen und Malen noch nicht so viel, daß sie einmal in die Ferien nach St. Agathen kommen kann?« Und davon, daß zwischen den Zeilen Deiner früheren Briefe so viel Kummer stand! Wie hast Du mich erbarmt, liebes Schwesterchen! Jetzt kommt aber wohl eine andere Meinung über Dich unter die Leute. Das wird sich rasch wie ein Lauffeuer durchs Dorf verbreiten, daß die Familie Glür Bilder von Dir gekauft und zu Weihnachten unter sich verschenkt hat. Was die Fabrikanten zu interessieren vermag, das ist ja bei den Dorfbewohnern auch sofort groß und herrlich. Das weißt Du schon. Und manches Achselzucken über Deinen Weg hört nun auf!

Lehrer Hardmeyer war über den Ankauf der Bilder sehr erstaunt. Allerdings sei an Lilis Hochzeit durch die Veranlassung Kuno Glürs, des Studenten, der Dich in München etwa antrifft, von Dir gesprochen worden, erzählte er. Und er habe sich eine leise Andeutung zu machen getraut, daß die Familie Glür die großen Verdienste unseres seligen Vaters um ihr Geschäft dadurch ehren könnte, daß sie Dir zur Fortsetzung Deiner Studien in München ein bescheidenes Stipendium gewährte. Um so eher, da der alte Herr Dein Pate sei. Aber Lehrer Hardmeyer hatte den Eindruck, seine vorsichtigen Worte seien auf steinigen Grund gefallen, und ist daher jetzt um so mehr überrascht und erfreut, daß seine Fürsprache für Dich doch noch eine kleine Frucht getragen hat. Er will sich nach Weihnachten bei der Familie für die freundliche Aufmerksamkeit gegen Dich bedanken!«

Na, das war wenigstens eine Erklärung des Bildererwerbs durch Kuno Glür, überlegte Hilde, aber nun schmeckte das Geld, das sie dabei in Empfang genommen hatte, so sehr nach Almosen! Nein, über diese Begebenheit konnte sie nicht recht froh werden.

Sie las den Brief Adolfs zu Ende, »Und nun noch etwas, liebe Schwester. Du weißt, ich verdiene als Lehrling, der erst im Frühling zum selbständigen Arbeiter vorrückt, noch nicht viel Geld. Ich brauche aber auch nicht viel, und in aller Stille habe ich vom Frühling bis jetzt für Dich fünfzig Franken zurückgelegt, die ich Dir auf Weihnachten schicken wollte. Nun glaube aber ja nicht, daß mir Deine guten Nachrichten eine Weihnachtsfreude zerstört haben, nur habe ich den Dir zugedachten Betrag nicht, wie ich beabsichtigte, auf die Post gegeben, sondern, da Du jetzt das Geld nicht unbedingt nötig hast, es auf den Rat des Lehrers in unsere Sparkasse gelegt. Nur ein Wort von Dir, und jederzeit steht es Dir zur Verfügung. Daran denke!« –

Adolf, du lieber, goldiger Mensch! Am liebsten hätte Hilde den Kopf ihres Bruders in beide Hände genommen und seinen jugendfrischen Mund geküßt, nach Herzenslust geküßt.

»Ich selber wüßte keine erfreulichere Verwendung des Geldes«, fuhr er fort, »als – ja, Hilde, jetzt kommt eine herzliche Bitte: Feiere mit der kleinen Ersparnis doch Ostern, Frühlingsferien bei uns! Deine letzte Photographie ist nun auch schon zwei Jahre alt, und ich bin so furchtbar neugierig, wie meine Schwester Hilde jetzt aussieht. Groß und schön, denke ich – und trotz Mühe und Arbeit die Augen stets noch voll Seele und Sonne. Und wenn ich mir so Dein Bild überlege, dann erfaßt mich ein schmerzliches Heimweh nach Dir!«

Ja, Ostern in der Heimat bei Adolf, dem treuen Bruder! Den Brief im Schoß, ließ Hilde Ostergeläute, Frühlingswasserrauschen, ansprießendes Grün und knospende Blüte durch die auf die Jugendscholle hinüberträumenden Sinne gehen.

Und das Spiel der hoffenden Gedanken erfüllte die einsamen Weihnachtsstunden, begleitete sie in die kleine, von Gästen stark gelichtete Pension der Mutter Illing, auf einem Nachmittagsspaziergang durch den lichten Schnee bis vor das Herdhüßersche Haus, aus dessen Fenstern ihr das Licht in festlicher Helle entgegenstrahlte.


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