Jakob Christoph Heer
Laubgewind
Jakob Christoph Heer

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In berauschender Pracht ging die Obstblüte durch das Tal von St. Agathen. In den kleinen Vorgärten der Häuser, in den Gründen der quellenklar strömenden Aa, an den Gehängen der Berge blühte duftschwer der herannahende Mai.

Es war Hilde, sie hätte noch nie einen schöneren Frühling erlebt. Oft ging sie allein, oft mit Hermine durch Grün und Blumen und stieg bis auf die Gipfel der Waldberge oder durch die Aaschluchten aufwärts bis zu der Buche, die Siegfrieds und ihren Namen trug. Oh, wie die Winde in dem weichen, zarten Laub der Krone Seliges flüsterten!

Ein Abend aber kam, da hatte sie Hermine umsonst auf den verabredeten Spaziergang warten lassen; einsam war sie durch die Felder und Wälder gegangen, eine still und angstvoll mit sich Kämpfende. Erst im Zwielicht und fast scheu wie eine Diebin schlich sie doch noch empor zum Gottesacker. So traurig, so müde! Die Füße trugen sie kaum. Laut schluchzend sank sie auf die Bank unter dem Fliederbaum.

»Vater, Vater«, stöhnte sie krampfhaft. Da war sie ja wieder, die entsetzliche Furcht, die sie von ihrem Besuch bei Dombaly aus der Irrenanstalt nach München begleitet und sie noch am letzten Tag ihres Aufenthaltes in der Familie Herdhüßer in Fiebern hatte erschauern lassen. Über einem lieben, in höchster Harmlosigkeit niedergeschriebenen Brief Siegfrieds war sie gräßlich wieder erwacht.

Er meldete ihr mancherlei Anziehendes über seine erste Betätigung als Direktor in der Berliner Elektrizitätsgesellschaft. Dann fuhr er fort: »Überall in den großen Blättern liest man jetzt den Namen Dombalys, Deines unglücklichen Lehrers, hier nur in kurzen Notizen, dort in weitgesponnenen Feuilletons, die ihn als Künstler von außerordentlicher Begabung, ja als Genie feiern und seinen frühen geistigen Zusammenbruch beklagen. Der Name dringt jetzt selbst in die Privatunterhaltungen, jedermann fragt: Wissen Sie aus Ihrer Münchner Studienzeit Näheres über Dombaly? Jedermann spannt auf die Sonderausstellung seiner Werke, die am l0. Mai in der Anwesenheit der künstlerischen und gesellschaftlichen Berühmtheiten Berlins eröffnet weiden soll. Die Werke selber werden in der Presse nur andeutungsweise erwähnt, doch finde ich darin Anhaltspunkte, daß Dein Porträt unter den Gemälden sein wird, das Porträt, von dem Du mir oft als einem der trefflichsten und weihevollsten Werke des Künstlers gesprochen hast. Das bewegt mich, die Ausstellung gleich am Eröffnungstag zu besuchen. Ein seltsam schöner Gedanke, Dich mit Deinem leuchtenden Augenpaar, mit Deinen mir unendlich lieben Zügen wiedergegeben zu sehen von Meisterhand und in stummem Glück zu wissen: das ist sie, die du liebst! – In die freudige Erwartung mischt sich nur ein tiefes Bedenken. Die Gemälde Dombalys sollen nämlich fast unerschwingliche Preise erlangen. Sonst würde ich versuchen, Dein Bild durch einen raschen Ankauf aus den Zufälligkeiten des Handels und der künftigen Besitzer an mich zu ziehen. Leider ist es mir unmöglich. Ich will aber zu erfahren trachten, wohin das Porträt gerät, und hoffe, meine liebe Hilde, daß dieses Denkmal Deiner Münchner Studienzeit nach Jahr und Tag für uns selber zum Eigentum zu erwerben doch noch möglich sein wird.«

Wie lieb – wie von Herzensgrund lieb! So oft aber der Name Dombaly in dem Brief Siegfrieds stand, war ihr ein Stich durch die Brust gegangen – war wieder die Erinnerung an den häßlichen Abschied von ihm in München, an die Künstlerkirchweih, an ihren Besuch auf dem Enzenhof, an seine furchtbaren Worte erwacht – und mit der Erinnerung die dumpfe Angst.

Der Frost schüttelte sie in der linden Frühlingsdämmerung. Daß sie am wirren, wehen Karfreitag die Kraft des Schweigens besessen, daß sie weder Siegfried noch Herdhüßer von dem grauenvollen Auftritt gesprochen hatte und nach der Heimkehr doch wieder ihrer Liebe und der Heimat froh geworden war, das erschien ihr jetzt als ein Wunder jugendlicher Kraft.

Nun war das Schicksalsgrauen wieder da, in marternder Lebendigkeit erstanden durch Siegfrieds unschuldigen Brief! – Wenn Dombaly – – Nein! – Nein! – –

Sie klammerte sich an den Gedanken, daß man die dunkeln Reden eines Irrsinnigen nicht in gesunden Sinn umdeuten darf. Sie sah in dieser leidvollen Stunde doch wohl zu schwarz! Darüber mußte sie wachen, daß ihr die glühende Phantasie, das schwere Blut Geschehnisse und ihre Folgen nicht noch schrecklicher vorspiegelten, als die Wirklichkeit war.

Gewiß schenkt die Phantasie, der wogende Schöpferdrang dem Künstler hohe selige Stunden, wie sie anderen Menschen nicht beschieden sind, und gießt Licht vom ewigen Licht in seine Seele. In den Tagen der Anfechtung aber verrückt sie den Maßstab für die wirklichen Dinge des Lebens und wühlt tiefer und schmerzhafter in verschatteten Gründen, als es sein darf! –

So war es wohl Dombaly gegangen, da er sich im irren Spiel der Seele eines Verbrechens an ihr bezichtigte – so ging es ihr in dieser schicksalsbeklommenen Nacht!

Der mit Blütenduft geschwängerte, kühle Wind trieb die Fröstelnde empor. – –

Nein, bei den gütigen und lichten Sternen, die droben am Frühlingshimmel wandeln, bei Gottes Geist, der durch die Lenznacht weht und die Keime des Lebens weckt – ihr und ihrer Liebe zu Siegfried darf kein Leid geschehen! – »Vater! – Vater!« wimmerte sie, »ich habe in München nichts gesucht als die Kunst. Mein Gewissen ist rein gegen die Welt – es ist rein gegen Dombaly!« – –

Sie schritt vom Kirchhof gegen das Dorf hernieder und nach der Villa Glür. In wehen Wallungen erzitterte ihr die Seele.

Kunst! – Liegt nicht schon ein Leidverhängnis in dem dunkeln Drang, greifen zu müssen nach Sternen, die ein einfaches Menschenkind nicht begehrt? Oh, die Volksseele hat recht, daß sie eine geheimnisvolle Furcht vor dem künstlerischen Drange empfindet – daß die ländliche Mutter bis ins Herz erschrickt, wenn sich der Junge vom Werktag wendet und sich dem Dienst der Schönheit ergibt. Da ist kein Städtchen, da ist kein Dorf, es hat seinen »Künstler«, der, halb bemitleidet, halb verachtet, als ein Gezeichneter unter seinen Volksgenossen geht. Die Jugend aber sieht nur diejenigen, die von einer weiten Menschheit bewundert auf sonnigen Höhen wandeln, sie hört nur den verführerischen Ruf der eigenen Gestaltungskraft, des Ehrgeizes und Ruhmes, aber nicht das Stöhnen derer, die als Opfer am Wege fallen.

Und die auf den Höhen wandeln! Sie mögen vor den Menschen lächeln und sich in geweihten Stunden als die Begnadeten fühlen, die ein von Gott verliehenes Pfund in Segen verwalten. Doch keine Täuschung! Über jeder echten Künstlerseele liegt ein geheimes Weh. Keiner geht – und ob er stets siegreich war – ohne ein scheues Zurückbeben, ein Zittern und Zagen der innersten Natur an ein neues, großes Werk. Indem er mit sich selber im bittersten Ringen liegt, kann er nicht restlos geben, was wie von Himmelsliedern in seiner Seele schwingt und klingt; indem er aus der Fülle schafft und das rote Herzblut in sein Werk ergießt, hört er die leise Mahnung aus der eigenen Brust: Mißtraue der Kunst! Unter Blumen verborgen liegen ihre Angeln am Weg. Und durch das Spiel, die Verführungen seiner Phantasie bleibt der Künstler stets eine schwankende Gestalt, die näher an den dunkeln Abgründen des Lebens geht, dem Schicksal und dem Verhängnis enger verbunden ist als derjenige, der die Breite des menschlichen Alltags wandert. –

Dem Schicksal und dem Verhängnis enger verbunden! Hilde fühlte es, während solche Gedanken ihr Herz bestürmten, in bebender Qual.

Gott, wie lag das Dorf so still in der Nacht! Kaum mehr ein Lichtlein in einem Fenster; außer dem Plaudern und Rauschen der Aa kein Laut; eine so große Ruhe, daß sie den Schlag des eigenen Herzens hörte.

Oh, daß sie ein einfaches Menschenkind geblieben wäre wie diejenigen, die in den stillen Häusern schlafen und der kleinen Pflicht und der kleinen Freude des morgigen Tages entgegenträumen! Dann müßte sie nicht in der Nacht wie eine Bettlerin durch die Heimat wandeln, wie eine, die sich keiner Schuld bewußt ist, doch zitternd in Schicksalsfurcht zum Himmel fleht, daß er ihr junges Haupt und ihre junge Liebe vor einer entsetzlichen Prüfung bewahren möge! –

Was wohl die Familie Glür zu ihrer späten Heimkehr dachte? Nun, die dachte wohl, sie hätte dem alten Lehrer und ihrem Bruder Adolf einen Abendbesuch gemacht und sich bei ihnen verplaudert. –

Durch die Baumkronen des Gartens drang das gedämpfte Rauschen der Aa in ihr trauliches Zimmer. Wie als Kind wollte sie sich vom Heimatfluß in Schlummer wiegen lassen. Doch der Schlaf floh sie. Sie lag im wehen Traum und in Vorahnung tiefsten Herzeleids.

Da siel ihr ein: morgen war der erste Mai – die Eröffnung der Kunstausstellung im Glaspalast – ihre ersten Gemälde traten vor die Öffentlichkeit! Ein großer Tag in ihrem Leben, die Quittung für die Jahre zusammengerafften Kampfes! –

Sie war kaum fähig, daran zu denken, noch weniger sich daran zu freuen.


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